„Ich sage, was ich denke,
und tue, was ich sage“

VON SIMON NEHRER & MORITZ PAIL

Othmar Karas begrüßt uns wie alte Freunde in seinem Büro im Haus der Europäischen Union. Er bietet uns das Du-Wort an, was wir bei der zweiten Frage schon wieder vergessen. Nach 20 Jahren EU-Parlament weiß man wohl, wie der Hase läuft. Wer die Neue Volkspartei wähle, bekomme immer noch den alten Karas.

Herr Karas, wie geht es Europa heute?

Europa ist und bleibt eine Erfolgsgeschichte. Für mich haben 70 Jahre Frieden den höchsten Wert. Wir sind der stärkste Demokratieraum, der größte Rechts-, Werte- und Wirtschaftsraum der Welt. Gleichzeitig sind wir aber auch gefährdeter denn je. Von außen, durch die neuen technischen und demografischen Megatrends, die Globalisierung, den Klimawandel, den Umweltschutz und den Terrorismus. Von innen sind es die Nationalisten und Populisten, die versuchen, das europäische Projekt infrage zu stellen.

Sie sind seit 1999 im Europaparlament. Was haben Sie gelernt?

Ich lerne täglich. Ich habe gelernt, dass ein Mensch mit anderer Meinung genauso recht haben kann. Die Idee Europa benötigt die Bereitschaft, einander kennenlernen zu wollen, miteinander reden zu können, einander zuhören zu können und miteinander Herausforderungen zu bewältigen. Ich habe den großen Unterschied zwischen nationaler und europäischer Politik kennengelernt: Die Innenpolitik ist sehr stark von der Konfrontation zwischen Regierung und Opposition, von parteipolitischen Auseinandersetzungen geprägt. Manchmal ersetzen Parteipolitik und persönliche Eitelkeiten die Bereitschaft zur inhaltlichen Konfrontation. Im österreichischen Nationalrat werden 89 Prozent aller Gesetze so beschlossen, wie die Regierung es will. Im Europäischen Parlament lebt der Kompromiss, die Mehrheitsbildung durch Gespräch. 92 Prozent aller Vorlagen der Kommission werden im Europäischen Parlament verändert. Keine Fraktion hat eine Mehrheit. Wir müssen und können Mehrheiten suchen.

Johannes Voggenhuber hat uns fast wörtlich dasselbe erzählt.

Er ist ja auch ein Freund. Ich habe ihn sofort zu meinem Co-Sprecher im überparteilichen Bürgerforum gemacht, das ich 2010 gegründet habe. Weil mir wichtig war, die Idee Europa parteipolitisch außer Streit zu stellen. Wir haben sogar über gemeinsame Kandidaturen gesprochen.

Was war Ihr größter Erfolg als Parlamentarier?

Der größte Erfolg war, zu Menschen nahezu aller Fraktionen eine Vertrauensbasis zu entwickeln, die eine erfolgreiche Zusammenarbeit möglich macht. Neben diesem Respekt und Umgang waren es vor allem meine großen Berichte im Parlament: beispielsweise die Euroeinführung, die Untersuchung über die Ursachen und Auswirkungen der Finanzkrise oder die Deckelung der verrückten Banker-Boni. Ebenso waren die Wahl zum Vizepräsidenten des Europäischen Parlaments und jetzt der Vorsitz der Russland-Delegation ein Erfolg.

Sie schreiben in Ihrem Lebenslauf, Sie hätten gemeinsam mit Alois Mock den ersten EU-Beitrittsantrag vorbereitet. Was war Ihre Rolle dabei?

Im Jahr 1983, als Bundesobmann der Jungen ÖVP, sah ich es als die Aufgabe meiner Generation, die gewaltsame Dreiteilung Europas in West, neutral und Ost zu überwinden. 1985 habe ich erstmals den EU-Beitritt verlangt. Dr. Mock hat mit mir besprochen, dass ich diesen Beschluss der Jungen ÖVP mit den damaligen Abgeordneten Felix Ermacora, Ludwig Steiner und Andreas Kohl im Parlament 1985 stelle. Dieser Antrag war später die Grundlage des Europakapitels des Regierungsprogramms Vranitzky-Mock. Ab diesem Zeitpunkt war ich bei allen weiteren Schritten dabei. Ich habe Dr. Mock unterstützt als er als Außenminister und Bundesparteiobmann den EU-Beitritt zum politischen Schwerpunkt der ÖVP gemacht hat. Dafür hat er mir 2009 symbolisch seine Europa-Stafette übergeben und den Alois Mock-Europa-Preis verliehen, weil er gesagt hat, er möchte, dass ich den Weg für ihn weitergehe.

Der österreichische EU-Beitritt liegt gut 25 Jahre zurück. Wie ziehen Sie Bilanz?

Eine positive. Der Beitritt hat Österreich vom Rand ins Zentrum gerückt. Wir sind ein Exportland. Zwei Drittel unseres Wohlstandes und unserer sozialen Sicherheit erwirtschaften wir außerhalb Österreichs – aber innerhalb der Europäischen Union! Der Tourismus, unser größter Industriezweig mit 16 Prozent, ist davon betroffen. Für die jungen Menschen bedeutet die EU das Ende der Roaming-Gebühren, Erasmus, die Anerkennung der Bildungsabschlüsse und grenzüberschreitendes Denken und Handeln.

Hatten Sie damals keine Bedenken beim EU-Beitritt?

Nein.

Eine handlungsfähige Europäische Union in der Welt kann sich Einstimmigkeit nicht leisten.

Viele finden die EU undemokratisch, intransparent und unzugänglich. Teilen Sie diese Kritik?

Nein. Dieses Bild wird aus Bequemlichkeit gezeichnet, um nicht über die EU reden zu müssen, um immer einen Schuldigen parat zu haben. Es gibt keine einzige Entscheidung in der Europäischen Union, bei der Österreich nicht dabei ist. Entweder durch ihre zuständigen Mitglieder in der Bundesregierung oder durch ihre Europaabgeordneten. Das Europäische Parlament ist das transparenteste Parlament Europas. Vielleicht haben wir ein Defizit in der Gewaltentrennung im Ministerrat, wo die nationalen Exekutiven die europäische Legislative bilden. Das zweite Problem ist die Einstimmigkeitserfordernis unter den Mitgliedstaaten in vielen wichtigen Fragen. Das führt zu Intransparenz und Erpressbarkeit. Daher bin ich für die Aufhebung der Einstimmigkeit. Keine Entscheidung ohne das Europäische Parlament! Bisher haben wir nur eine freiwillige Vereinbarung mit der Kommission, dass sie auf jede Initiative des Parlaments zu reagieren hat. Das sollten wir bei der nächsten Verfassungsreform auch rechtlich verankern. Ebenso brauchen wir ein Verständnis bei den Bürgerinnen und Bürgern für die vier Ebenen der europäischen Demokratie: den Gemeinderat, den Landtag, den Nationalrat und das Europäische Parlament. Diese vier Ebenen dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, sondern sollten einander ergänzen.

Sie treten auf der einen Seite für die Subsidiarität und den europäischen Föderalismus ein. Auf der anderen Seite fordern Sie die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips. Wie geht das zusammen?

Das ist kein Widerspruch, daher geht das auch zusammen. Subsidiarität heißt rechtlich und in der christlichen Soziallehre Aufgabenteilung. Subsidiarität heißt Solidarität. Sie heißt nicht Entweder-oder, sondern, dass jede politische Ebene das Recht hat, wenn sie alleine Herausforderungen nicht bewältigen kann, die nächste Ebene zu Hilfe zu rufen. Man darf Subsidiarität nicht mit Nationalismus verwechseln. Subsidiarität hat etwas mit Solidarität, Schutzmechanismen und Hilfestellungen zu tun. Heimatliebe und Subsidiarität brauchen keine Schuldigen, sondern sie brauchen Zusammenarbeit. Nationalismus ist das Gegenteil davon.

Nun ist eine Begründung für die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips…

…die Demokratie. Es gibt keine Demokratie mit Einstimmigkeit.

Andere sehen eher aktuelle Anlässe als den Hauptgrund. Zum Beispiel Ungarn und Polen, die sich gerne gegenseitig zu Hilfe eilen und den Fortschritt der Ermittlungen gegen den jeweils anderen blockieren. Könnte es nicht sein, dass Österreich einmal mit den beiden Rolle tauscht und, bei Abschaffung der Einstimmigkeit, gegen unseren Willen gearbeitet wird?

Hoffentlich nie. Darum geht es aber überhaupt nicht. Das ist tagespolitisch motiviert. Das sind völlig verschiedene Baustellen. Wir schreien alle nach dem europäischen Außengrenzschutz. Es gibt aber bis heute keinen solchen Außengrenzschutz, weil er die Einstimmigkeit benötigt. Wir schreien alle nach der Digitalsteuer. Es gibt aber bis heute keine Digitalsteuer, weil sie die Einstimmigkeit benötigt, da Steuerpolitik nationales Recht ist. Wir schreien alle nach einer Partnerschaft mit Afrika zur Bekämpfung der Fluchtursachen, aber Ungarn hat eine gemeinsame Vorgangsweise mit einer Stimme verhindert. Eine handlungsfähige Europäische Union in der Welt kann sich Einstimmigkeit nicht leisten. Das ist undemokratisch. In Ungarn haben wir die Situation, dass europäisches Recht und europäische Werte verletzt werden und die Einstimmigkeit manches blockiert.

Wie erklären Sie sich den Zulauf zum Nationalstaat im Gegensatz zur vertieften europäischen Integration?

Das wird ja ganz bewusst geschürt. Der Nationalist löst kein Problem. Der Nationalist schürt Ängste und Sorgen, schafft Feindbilder und schiebt Schuld zu. Der Brexit ist ein abschreckendes Beispiel dafür: Es gibt kein einziges Versprechen der Brexit-Befürworter, das realisierbar ist, weil diese Versprechen schlichtweg Lügen waren. Die Ursache des Brexits ist eine permanente Schuldzuweisung an die Europäische Union für alle Probleme innerhalb des Vereinigten Königreichs. Die EU heißt ja nicht Nationalstaat oder Supranationalität. Die EU heißt „in Vielfalt geeint“.

Teilen Sie die Kritik, die Weiterentwicklung der EU-Institutionen habe nicht mit der Aufnahme neuer Mitglieder Schritt gehalten?

Ja. Ich würde aber gar nicht sagen, dass das erst mit der Aufnahme neuer Mitglieder begonnen hat. Auch in anderen Bereichen wurden Dinge nicht mit der notwendigen Konsequenz betrieben. Wir haben Schengen und die vier Freiheiten innerhalb Europas eingeführt. Für Schengen bräuchte man aber auch den Außengrenzschutz und gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik. Es wurde der erste Schritt in manchen Punkten richtig gesetzt. Der zweite Schritt ist dann aus politischen Gründen ausgeblieben. Auch bei der gemeinsamen Währung gibt es solche Situationen. Das ist der Mangel an Mut, zur Gemeinschaft zu stehen und die gemeinsamen Institutionen zu stärken, damit sie handlungsfähiger werden. Das hat nicht zwingend etwas mit der Erweiterung zu tun, aber die Erweiterung und die Krise hat diese Versäumnisse deutlich sichtbar gemacht. Wenn die Sonne scheint, fällt es nicht auf. Aber wenn es regnet und man nach dem Schirm sucht, ist keiner da.

Es gibt keine Wirtschaftsgemeinschaft ohne Rechte und Werte. Es gibt keinen wirtschaftlichen Erfolg ohne sozialen Zusammenhalt. Und es gibt keinen sozialen Zusammenhalt ohne wirtschaftlichen Erfolg.

Können Sie sich eine Westbalkan-Erweiterung innerhalb der nächsten Legislaturperiode vorstellen?

Nein. Aber den Abschluss der Verhandlungen mit ein, zwei, vielleicht drei Ländern kann ich mir vorstellen.

Nach der Einigung auf den Maastricht-Vertrag hat Helmut Kohl gesagt: „Jetzt ist die europäische Integration unumkehrbar.“ Weil für ihn der Euro primär ein politisches Projekt war.

Die OMV ist an der Gaspipeline Nordstream 2 beteiligt. Macht sie Europa abhängig von Russland?

Europa ist in der Energiepolitik abhängig von Russland. Dieser Bau ist auch heftig umstritten. Nordstream 2 ist politisch nur deswegen durchgegangen, weil Europa energiepolitisch nicht unabhängig ist. Energiepolitik ist Außenpolitik, und Energiepolitik ist auch eine Frage der Erpressbarkeit. Man denke nur an die Leitungen in der Ukraine. Daher muss Europa alles tun, um von Öl aus den OPEC- Staaten und von Gas aus Russland unabhängiger zu werden.

Soll Österreich bei einer EU-Armee dabei sein?

Die Frage ist, was man darunter versteht. Ich glaube nicht, dass sie realistisch ist – oder wünschenswert. Zu Europa passte es nicht, die nationalen Armeen aufzulösen und eine europäische Armee zu schaffen. Aber keine Armee eines Mitgliedstaates kann den neuen Bedrohungen alleine erfolgreich begegnen. Ohne Zusammenarbeit keine Sicherheit. Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, dass man die Luftraumverteidigung europäisiert. Ich könnte mir vorstellen, dass man das gemeinsame Beschaffungswesen und die gemeinsame Forschung im Verteidigungsbereich intensiviert. Das würde Kosten sparen. Wenn man also unter einer europäischen Armee eine verstärkte Zusammenarbeit versteht, dann ja. Wenn man den Begriff aber als zentralistisches Heer versteht, wie es Emmanuel Macron oder die NEOS tun, dann nicht.

Ist die EU ein Wirtschaftsprojekt?

Wirtschaft ist immer ein Instrument. Die EU ist zuallererst ein Projekt des Miteinanders anstatt des Gegeneinanders.

Es ist Instrument, nur ein Mittel zum Zweck?

Die EU ist ja de facto so gegründet worden: Durch die Gemeinschaft für Kohle und Stahl hat man gesagt, man nimmt den beiden Kriegsgegnern Deutschland und Frankreich die Kriegsmaterialien aus der Hand. Die Europäische Union war aber nie als reine Wirtschaftsgemeinschaft gedacht. Es gibt keine Wirtschaftsgemeinschaft ohne Rechte und Werte. Es gibt keinen wirtschaftlichen Erfolg ohne sozialen Zusammenhalt. Und es gibt keinen sozialen Zusammenhalt ohne wirtschaftlichen Erfolg. Daher bin ich sehr froh, dass im Lissabon-Vertrag deutlich steht, dass das Ordnungsmodell der Europäischen Union nicht der freie Markt, sondern die nachhaltige soziale Marktwirtschaft ist. Der Markt hat natürlich eine Verantwortung für den sozialen Zusammenhalt und für die ökologische Nachhaltigkeit.

Sie fordern die Stärkung „der Stabilität des Euros durch einen Ausbau der Wirtschafts- und Währungsunion.“ Was stellen Sie sich darunter vor?

Man kann auch Vertiefung sagen. Nach der Einigung auf den Maastricht-Vertrag hat Helmut Kohl gesagt: „Jetzt ist die europäische Integration unumkehrbar.“ Weil für ihn der Euro primär ein politisches Projekt war. Wenn wir uns nur auf den Euro einigten, dachte er, müsste doch die Integration bis hin zur politischen Union fortgesetzt werden. Eine Währungsunion verlangt ein gemeinsames Budget, steuerpolitische und sozialpolitische Maßnahmen – diese Maßnahmen sind aber ausgeblieben. Ihr Fehlen wurde zum größten Problem bei der Beantwortung der Finanz- und Staatsschuldenkrise. Das holen wir schön langsam nach, besonders bei der Bankenunion und Bankenregulierung. Auch wenn wir noch lange nicht fertig sind. Es gibt gute Vorschläge des Parlaments zur Vertiefung der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion, aber auch von Emmanuel Macron.

Auf der anderen Seite kann ein Roboter nie das menschliche Gespräch oder Empathie ersetzen, die unserer Gesellschaft zunehmend abgehen.

Welche Maßnahmen befürworten Sie konkret in der Sozialpolitik?

Wir brauchen auf jeden Fall europaweite soziale Mindeststandards und gemeinsame Berechnungsgrundlagen. Auch die Frage der Steuerfairness ist wichtig, besonders was multinationale Konzerne betrifft, die nicht einmal ein Prozent Steuer zahlen – legal! Heimische Klein- und Mittelbetriebe zahlen im Schnitt 26 Prozent Steuer. Das führt zu Wettbewerbsverzerrungen, Unfairness und Rechtsunsicherheit. Wer in einem Land einen Sozialanspruch hat, möchte das in jedes EU-Land mitnehmen können, sonst wird seine Mobilität gehemmt. Die Köhasionsfonds wirken wie ein Finanzausgleich. Ich halte das für gerecht und wichtig, um die wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede innerhalb der Mitgliedstaaten zu verringern. Die soziale Säule und damit die Koordinierung der sozialpolitischen Maßnahmen müssen gestärkt und noch mehr Realität werden.

Der Kohäsionsfonds wurde für EU-Staaten mit einem Bruttonationaleinkommen pro Einwohner unter 90 % des EU-Durchschnitts eingerichtet. Sein Ziel ist der Ausgleich der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheit und die Förderung einer nachhaltigen Entwicklung.

Sind Sie auch für einen „echten“ Finanzausgleich, wie wir ihn zwischen Bundesländern haben?

Es gibt einen solchen Ausgleich de facto schon dank der Kohäsionsfonds, der EU-Mitgliedsbeiträge jedes Landes und der unterschiedlichen Fördersätze. Aber von einem solchen, wie Sie ihn beschrieben haben, sind wir weit weg, weil die Systeme der Mitgliedstaaten zu unterschiedlich sind. Dass die europäische Union eine Solidaritätsgemeinschaft ist, steht außer Streit. Österreich zahlt in absoluten Zahlen mehr ein als manch andere, im Verhältnis zur Wirtschaftskraft zahlt es aber das gleiche wie alle anderen Mitgliedstaaten. Wir ziehen aber beispielsweise einen fünf Mal so großen volkswirtschaftlichen Nutzen aus der Osterweiterung wie wir an Mitgliedsbeiträgen einzahlen. Das sagen wir nur leider nie dazu!

Ist die Digitalisierung etwas, was wir nicht vermeiden können oder anstreben sollten?

Wir müssen die Chancen nützen und die Risiken minimieren. Digitalisierung ist nicht gleich Digitalisierung. Manche fordern mehr Digitalisierung in der Bankenpolitik, andere in der Energiepolitik. Es gibt aber auch Roboter, die Jobs übernehmen, die ein Mensch gar nicht machen könnte. In der Medizin könnte sie zu mehr Sicherheit führen. Auf der anderen Seite kann ein Roboter nie das menschliche Gespräch oder Empathie ersetzen, die unserer Gesellschaft zunehmend abgehen. Unsere Arbeitswelt wird sich verändern. Arbeitsplätze werden verloren gehen. Je früher wir bildungs- und sozialpolitisch darauf eingehen, desto geringer die Risiken. Die Telekommunikation haben wir an Amerika verloren. Der Wettbewerb um die Digitalisierung wird heute vor allem zwischen China und Amerika ausgetragen. Wir müssen aufholen, wir müssen Schritt halten.

Aus Notwendigkeit oder, um eine Chance zu nutzen?

Wegen der Wettbewerbsfähigkeit und wegen der Zukunftschancen.

Jeder Flüchtling ist zwar ein Migrant, aber nicht jeder Migrant ist ein Flüchtling.

Das klingt mehr nach Zwang, um nicht in Abhängigkeit anderer zu geraten, als nach einer großen Chance.

Nein. Ich glaube, es ist eine Riesenchance. Was wäre denn, wenn wir nicht mittäten? Die Digitalisierung wird stattfinden. Wir müssen in die Forschung investieren, Technologieführer in der Energieeinsparung, in der Klimawandelbekämpfung und im Umweltschutz werden. Das geht aber nicht ohne Digitalisierung.

Wer hat die Flüchtlingskrise in den Griff bekommen? Sebastian Kurz mit der Schließung der Balkanroute? Oder doch Angela Merkel mit dem Abkommen mit der Türkei?

Beides gehört zusammen. Wir haben derzeit drei Millionen Flüchtlinge in der Türkei. Wir brauchen diese Unterstützung der Flüchtlingslager in der Türkei mit europäischen Geldern für sanitäre, Bildungs- und Arbeitsmaßnahmen. Eines haben alle Länder bei der Migration gemein: Sie haben das internationale Recht einzuhalten. Es gilt die Genfer Flüchtlingskonvention. Asyl ist ein Menschenrecht. Jeder Flüchtling ist zwar ein Migrant, aber nicht jeder Migrant ist ein Flüchtling. Der Migrant, wenn er kein Flüchtling ist, hat kein Recht, auf Asyl anzusuchen. Aber wir benötigen Migration, alleine schon der demografischen Entwicklung und des Fachkräftemangels wegen. Die europäische Union ist heute besser aufgestellt als 2015. Die Zahlen sind aber nicht wegen der Balkanroute oder der Türkei zurückgegangen, sondern weil sich die gesamte Umwelt verändert hat. Wir brauchen in der Europäischen Union gemeinsame Asyl-, Migrations- und Außenpolitik. Aber auch intensivierte Entwicklungspolitik, in all ihren Facetten, ist erforderlich.

Wir haben auch nicht gegen den UN-Migrationspakt gestimmt, sondern haben uns enthalten. Ich habe die Entscheidung öffentlich bedauert.

Wie fanden Sie den österreichischen Ratsvorsitz?

Der war erfolgreich. Ich habe von allen Mitgliedstaaten und Parlamentsparteien Lob gehört. Die Digitalsteuer ist an der Einstimmigkeit, an Frankreich und Deutschland, die auf den OECD-Bericht 2022 warten wollten, gescheitert. Die Frage des Außengrenzschutzes verlief durchwachsen, ist schlussendlich an der Mehrheit im Rat gescheitert. Was sehr gut gelungen ist, waren die beiden Afrika-Gipfeln, um in Infrastruktur zu investieren, den Schleppern den Kampf anzusagen. Auch bei der CO2-Reduktion und bei der Vorbereitung der Entscheidungen für das langfristige EU-Budget gab es wichtige Erfolge.

Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn sagte zum österreichischen Ratsvorsitz: „Österreich hat während seiner EU-Präsidentschaft systematisch alles ausgeklammert, was mit europäischer Solidarität und Verantwortung zu tun hat.“ Hat er recht?

Nein, hat er nicht. Weil er Beispiele nennt, die nicht zwingend mit der Ratspräsidentschaft zu tun haben. Was er meint, ist Frontex, wo es keine Mehrheit unter den Mitgliedstaaten gab – wo ich auch noch nicht weiß, welche Rolle Minister Kickl im Rat spielte. Auf der anderen Seite meint er den UN-Migrationspakt, der mit der Ratspräsidentschaft nichts zu tun hat. Unsere Haltung war ein Störmanöver.

Wäre eine österreichische Regierung unter Othmar Karas aus dem UN-Migrationspakt ausgetreten?

Wir sind nicht aus dem Migrationspakt ausgetreten. Wir haben auch nicht gegen den UN-Migrationspakt gestimmt, sondern haben uns enthalten. Ich habe die Entscheidung öffentlich bedauert. Der Hauptgrund war wohl, wie der Bundeskanzler auch sagt, die mangelhafte Differenzierung zwischen Flüchtling und Migrant.

Ich habe mein Mandat immer so ausgelegt, dass ich meinen Vorzugsstimmenwählern, die aus allen politischen Lagern kommen, in die Augen schauen kann.

Österreich war an der Verhandlung des Paktes beteiligt. Hätte es nicht nachbessern können, um eine solch schwammige Formulierung zu vermeiden?

Ja, Österreich hat ihn mitausgehandelt. Ich halte den Vorschlag Michael Spindeleggers für sehr gut, es sollten sich diejenigen zusammensetzen, die nicht prinzipiell gegen den UN-Migrationspakt waren, sondern Bedenken gegen einige Passagen hatten. Ich wünsche mir eine Offensive, globale Rahmenbedingungen für die Migration zu schaffen.

Sie sagen oft, die österreichische Innenpolitik der Regierung sei eine Sache, Ihre europäische Politik eine gänzlich andere. Verstehen Sie, dass sich viele Wähler schwertun, die beiden getrennt zu sehen?

Ich sehe sie ja auch nicht getrennt. Europapolitik ist Innenpolitik. Ich melde mich auch zu den Fragen, wo die Innenpolitik einen europapolitischen Bezug hat. Wenn sie diesen Bezug nicht hat, wenn sie reine Innenpolitik ist, fühle ich mich nicht betroffen.

Sie widersprechen den Positionen Sebastian Kurz‘ in vielen Punkten, besonders bei der Migration. Was bekommt man denn, wen man die ÖVP wählt, die Positionen Othmar Karas‘ oder Sebastian Kurz‘?

Das muss kein Widerspruch sein. Ich war immer Christdemokrat. Deshalb war ich immer bei der ÖVP. Ich bin der, der ich bin. Ich habe mein Mandat immer so ausgelegt, dass ich meinen Vorzugsstimmenwählern, die aus allen politischen Lagern kommen, in die Augen schauen kann; dass ich sage, was ich denke, und tue, was ich sage. Wer mir eine Vorzugsstimme gibt, bekommt Othmar Karas.

Glauben Sie, Sie werden Wähler verlieren, weil Sie für eine Kurz-geführte ÖVP antreten?

Ich stehe für meine Überzeugungen. Mich kann niemand verbiegen. Ich hoffe, dass ich Stimmen dazugewinnen werde und keine verliere.