„Stabilität exportieren,
statt Instabilität importieren.“

VON SIMON NEHRER

Der vielbeschäftigte österreichische EU-Kommissar, Johannes Hahn, erklärt sich freundlicherweise zu einem schriftlichen Interview bereit. Wir sammeln, diskutieren und einigen uns schließlich auf 20 spannende Fragen. Hahns Antwort: Wir sollten ihm doch bitte drei davon schicken. Drei Fragen? Der Mann hat sich als Kommissar für Erweiterungen und Nachbarschaftspolitik wohl viel auf den Basaren dieser Welt herumgetrieben und ist des Feilschens mächtig. Wir kontern sein Angebot. Mit Verlaub, Herr Hahn: Haben Sie ein Herz für interessierte Jungwähler! Zumindest zehn Fragen! Hahn lässt sich nicht erweichen: Fünf Fragen, letztes Angebot. Auch erfahrene Feilscher wissen, wenn sie sich geschlagen geben müssen.

Helmut Schmidt hat einst bemängelt, die Weiterentwicklung der EU hätte mit der Aufnahme neuer Mitglieder nicht Schritt gehalten. Teilen Sie diese Kritik?

Ich denke, dass Erweiterung und Verbesserung der Funktionsweise der Union Hand in Hand gehen müssen. In erster Linie betrifft das den Rat, der in der Lage sein sollte, bereits jetzt schneller Entscheidungen zu treffen. Das wird natürlich mit der Aufnahme neuer Mitglieder relevanter werden. Ich setze mich daher schon seit Längerem für die Ausweitung von Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit ein, vor allem in der EU-Außenpolitik. Die Kommission hat hier eine Reihe von Vorschlägen gemacht. Ich bin davon überzeugt, dass diese Reformen notwendig sind, um ein starkes und handlungsfähiges Europa auf der politischen Weltbühne zu sehen. Nur die wirklich entscheidenden Schritte im Erweiterungsprozess – selbstverständlich die Entscheidung über den EU-Beitritt eines Landes – sollten Einstimmigkeit erfordern. Außerdem glaube ich, dass wir, EU-Institutionen und Mitgliedstaaten, darin besser werden müssen, unseren Bürgern die Vorteile der Erweiterungen zu erklären und ihnen die Angst davor nehmen. Es geht um die politische und wirtschaftliche Stabilisierung unserer unmittelbaren Nachbarschaft, die im ureigensten Interesse der Union ist. Mein Motto lautet: Stabilität exportieren, statt Instabilität importieren. Die EU-Perspektive und der Beitrittsprozess sind noch immer der größte Hebel für Reformen.

Eine Abwendung der EU von der Region oder wachsende Zweifel an einer gemeinsamen europäischen Zukunft würden ein Machtvakuum erzeugen, das andere politische Spieler sofort ausnutzen würden.

Ist die Erweiterungspolitik das einzig effektive außenpolitische Mittel der EU? Wodurch kann die EU Nachbarländer dazu bewegen, politische und wirtschaftliche Reformen einzuleiten, wenn nicht durch die Perspektive einer EU-Mitgliedschaft?

Mit der Europäischen Nachbarschaftspolitik haben wir ein geeignetes Instrument, um Reformen auch in Ländern umzusetzen, die keine Beitrittsperspektive haben. Hier geht es um enge wirtschaftliche und politische Anbindung etwa durch die Assoziierungsabkommen sowie umfangreiche Handelsabkommen (DCFTA), wie wir sie mit der Ukraine, Georgien und der Republik Moldau etabliert haben. In der östlichen Nachbarschaft konnten wir mit unseren spezifischen Länderprogrammen gute Erfolge in der wirtschaftlichen Entwicklung, aber auch bei der Rechtsstaatlichkeit, etwa bei der Korruptionsbekämpfung, erzielen. In der südlichen Nachbarschaft geht es vor allem um politische Stabilisierung, um Hilfe für die vom Syrienkonflikt betroffenen Nachbarländer, die eine große Zahl syrischer Flüchtlinge aufgenommen haben sowie um die Förderung der ökosozialen Entwicklung. Eine Abwendung der EU von der Region oder wachsende Zweifel an einer gemeinsamen europäischen Zukunft würden ein Machtvakuum erzeugen, das andere politische Spieler sofort ausnutzen würden. Der Einfluss von Drittstaaten, wie  Russland, China, der Türkei oder arabischen Ländern, in unserer Nachbarschaft hat in den letzten Jahren bereits zugenommen. Auch bei dieser Politik geht es um den strategischen Ansatz: Entweder wir exportieren Stabilität oder wir importieren Instabilität.

Die Ost-Erweiterungen 2004 und 2007 haben die Gemüter erregt. Was ist Ihre Bilanz nach 15 Jahren EU-Mitgliedschaft?

Ich neige eigentlich nicht zu Pathos. Aber die Erweiterung war einer der großen Erfolge der Europäischen Union zur Stabilisierung und Entwicklung wirtschaftlichen Wohlstands auf unserem Kontinent – und das betrifft sowohl die seinerzeit „alten“ als auch die damals „neuen“ Mitgliedstaaten. Polen und die Ukraine standen in den 90er Jahren ungefähr auf demselben Stand der wirtschaftlichen Entwicklung. Heute genießt Polen ein fünf- bis sechsfach höheres Wohlstandsniveau als die Ukraine. Das ist ein wichtiger Ausdruck der strategischen Vision der EU, die Wohlstandsniveaus anzugleichen und den Menschen in ihren Heimatländern, vor allem den Jugendlichen, eine Perspektive zu geben. Das würde auch der Abwanderung und damit dem braindrain entgegenwirken, der ein echtes Problem darstellt.

Was muss bei der nächsten Erweiterung anders gemacht werden? Aus welchen Fehlern müssen wir lernen?

Es ist mein Ziel, dass ein neues Mitgliedsland vom ersten Tag an ein vollwertiges Mitglied der EU und des Schengen-Raums ist. Das Ziel geht selbstverständlich einher mit intensiven Vorbereitungen und Umsetzung von Reformen. Wir haben aus früheren Erfahrungen gelernt, dass es nicht nur darum geht, Gesetze zu verabschieden, sondern auch umzusetzen – es muss eine umfangreiche und irreversible Transformation der Gesellschaft stattfinden. Deswegen wird jetzt mehr Fokus auf die Rechtsstaatlichkeit gesetzt. Wir beginnen und schließen die Verhandlungen mit den Rechtsstaatskapiteln 23 und 24. Dabei geht es um die Umsetzung von tiefgreifenden Reformen in so wichtigen Bereichen wie Justiz, Medienfreiheit, Schutz der Grundrechte und Korruptionsbekämpfung. Überdies hat die Westbalkan-Strategie von 2018 klargestellt, dass die EU nur neue Mitgliedstaaten aufnimmt, die alle bestehenden bilateralen Konflikte beigelegt haben. Der Erweiterungsprozess ist allerdings keine Einbahnstraße. Wenn unsere Partnerländer liefern, müssen auch die EU-Mitgliedstaaten liefern. Das heißt, sie müssen die konkreten Fortschritte anerkennen. Deswegen haben wir als Kommission auch vorgeschlagen, EU-Beitrittsverhandlungen mit Nord-Mazedonien und Albanien zu eröffnen. Die Entscheidung, für die wir mit unseren Länderberichten Ende Mai die faktische Basis liefern werden, liegt nun bei den EU-Mitgliedstaaten.

Ich erwarte eine Empfehlung für die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nord-Mazedonien.

Welcher sollte der nächste Mitgliedstaat werden?

Ende Mai wird die Europäische Kommission ihr Erweiterungspaket präsentieren. Ich erwarte eine Empfehlung für die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nord-Mazedonien. Es steht viel auf dem Spiel, daher hoffe ich auch auf positive Reaktionen der EU-Mitgliedstaaten im EU-Rat und dem anschließenden EU-Gipfel im Juni. Beide Länder haben im letzten Jahr wichtige Fortschritte gemacht: Albanien hat vor allem in der Justizreform viel geleistet. Nord-Mazedonien hat mit der Lösung des Namenstreits mit Griechenland einen historischen Durchbruch erzielt und auch wichtige interne Reformen umgesetzt. Diese Fortschritte anzuerkennen, ist eine Frage der Glaubwürdigkeit der EU.