Europa à la carte

Wer Visionen hat, der solle zum Arzt gehen, meinte einst der deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt. Zugegeben, manchmal ist die Trennlinie zwischen Vision und Träumerei nicht klar ersichtlich. Doch ohne Ideen für Europa keine Hoffnung für Europa.

VON JOSEF HUBER & JOHANNES ROSENBUSCH

Visionen haben eine wichtige Eigenschaft, die gerade in Krisenzeiten hilft: Sie schaffen Hoffnung auf bessere Zeiten. Hoffnung auf weitere Jahrzehnte des Friedens und Wohlstands auf einem Kontinent, der mehr als nur einmal am Abgrund stand. Doch nicht alle haben dieselbe Vision, wie die Union einmal aussehen soll: Europa der Regionen, der Nationen oder der verschiedenen Geschwindigkeiten, die Vereinigten Staaten von Europa oder gar eine Europäische Republik – den Ideen sind keine Grenzen gesetzt. Aber warum bedarf es überhaupt einer Vision für die EU?

Ausgangslage. 2017 gelang Emmanuel Macron die Sensation: Mit seiner neu gegründeten Bewegung En Marche gewann er die französischen Präsidentschaftswahlen. Macron, der sich in seinem Wahlprogramm für einen grundlegenden Umbau der europäischen Institutionen stark machte, versuchte seine Versprechen nach der Wahl in die Tat umzusetzen. Doch lassen sich nach zwei Jahren kaum Fortschritte erkennen. Es stellt sich die Frage, ob die EU in ihrer heutigen Verfassung überhaupt in der Lage ist, angemessen auf die großen Herausforderungen der Zeit zu reagieren. Denn es gibt einige große Baustellen.

Die EU als Sündenbock

Die Union hat ein Kommunikationsproblem. Der komplizierte Aufbau der Institutionen macht es für ihre Bürger schwer, Entscheidungen nachzuvollziehen. Erfolge wie die Einführung des Euros oder des Schengenraums werden als selbstverständlich wahrgenommen, während viele nationale Regierungen und Politiker bei Problemen gerne mit dem Finger Richtung Brüssel zeigen.

Schengenraum: Zusammenschluss 26 europäischer Länder, die es ihren Einwohnern ermöglichen, sich frei und im Normalfall ohne Grenzkontrollen in allen 26 Ländern zu bewegen und niederzulassen.

Die Finanzkrise von 2008

Viele Mitgliedstaaten leiden noch heute unter den Altlasten der globalen Finanz-, Wirtschafts- und Währungskrise, unter anderem in Form von Langzeitarbeitslosigkeit oder hoher Verschuldung. In vielen Ländern wie Frankreich, Spanien und Italien findet teils jeder dritte Jugendliche keine Beschäftigung. Doch auch in Zukunft warten Herausforderungen: Die Digitalisierung, Klimawandel und wissenschaftlicher Fortschritt stellen uns vor wirtschaftliche Umbrüche ungeahnten Ausmaßes.

Migration und Demografischer Wandel

Die steigende Lebenserwartung und sinkende Geburtenraten führen dazu, dass Europa 2030 der älteste Erdteil sein wird. Sozialsysteme müssen modernisiert werden, um finanzierbar zu bleiben. Europäische Firmen haben schon heute Schwierigkeiten, ausreichend Arbeitskräfte zu finden. Auch wenn Migration, sowohl im Binnenmarkt als auch durch Zuzüge aus Drittstaaten, Abhilfe leisten kann, bleibt sie nicht ohne Folgen. Während Teile der einheimischen Bevölkerung sich aus Angst um die eigene Lebensgrundlage, Furcht vor einer Plünderung der Sozialsysteme und Ablehnung kultureller Veränderungen widersetzen, besteht das Risiko eines sogenannten Brain-Drains in den Herkunftsstaaten.

Negativer Effekt von Migration auf die Herkunftsstaaten durch den Verlust qualifizierter Arbeitskräfte.

Rollenfindung in einer neuen Weltordnung

Terroranschläge und die Flüchtlingskrise haben die Bevölkerung der EU verunsichert. Auch kann sie sich seit Obamas Pivot to Asia und spätestens mit der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten nicht mehr so ganz wie früher auf die NATO verlassen, muss ihre Sicherheit stärker selbst in die Hand nehmen.

Neuausrichtung der amerikanischen Außenpolitik auf Asien. Zeitgleich fordern die Vereinigten Staaten, besonders seit Trumps Wahlsieg, mehr Selbstständigkeit und Unabhängigkeit von ihren europäischen Partnern.

Die Europäische Union muss ihre Rolle in der neuen multipolaren Weltordnung erst finden. 2060 wird kein europäisches Land mehr als 1 % der Weltbevölkerung ausmachen. Europa wird auf dem internationalen Parkett nur noch eine große Rolle spielen können, wenn es mit einer Stimme spricht.

Der Aufstieg neuer Machtzentren wie China und der EU bei gleichzeitigem Machtverlust Russlands und der USA haben dazu geführt, dass die internationale Politik von mehreren Mächten von Weltrang dominiert wird. Nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum Zerfall der Sowjetunion (UdSSR) 1990 sprach man von einer bipolaren Weltordnung, weil die USA und die UdSSR das geopolitische Geschehen nahezu allein bestimmten.

Handlungsunfähigkeit

Es gibt eine Kluft zwischen dem, was von der EU erwartet wird, und dem, was sie leisten kann. So wird der EU zum Beispiel Tatenlosigkeit bei der Jugendarbeitslosigkeit vorgeworfen, während sie kaum Handlungsinstrumente zur Entschärfung besitzt, da ihr Sozialbudget gerade einmal 0,3 % von jenem der nationalen Regierungen ausmacht.

Wo soll die Reise hingehen?

In der EU nahm man diese Lage zum Anlass, sich Gedanken zur Zukunft der Union zu machen. Die scheidende Europäische Kommission unter dem konservativen Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker erarbeitete 2017 in einem Weißbuch fünf Szenarien, wie sich die EU bis 2025 weiterentwickeln könnte. Aber auch aus der Zivilgesellschaft kommen neue Ideen: Die deutsche Professorin für Europapolitik Ulrike Guérot fordert zum Beispiel eine Europäische Republik. Diese Ideen sollen im Folgenden kurz vorgestellt werden.

Ein Weißbuch ist eine Sammlung von Vorschlägen einer staatlichen Stelle (hier zum Beispiel der EU-Kommission) zum zukünftigen Vorgehen. Weißbücher dienen der Information der Öffentlichkeit und als Grundlage für Gesetze und Debatten.

Fünf Ideen aus dem
Weißbuch der Kommission

VON JOHANNES ROSENBUSCH

Nach der Europawahl wird eine neue Kommission ins Amt treten, die auch eine Strategie für die Zukunft der Union bestimmen muss. Die derzeitige Kommission unter Jean-Claude Juncker hat schon einmal in fünf Szenarien skizziert, wie diese Zukunft aussehen könnte.

Eins: Weiter wie bisher

Derzeit angestrebte Reformen wie ein gemeinsames Budget der Eurozone würden fortgesetzt. Das Tempo würde davon abhängen, wie schnell bestehende Differenzen zwischen den Mitgliedstaaten überwunden werden können. Die aktuellen Schwerpunkte im Wirtschafts- und Finanzbereich blieben bestehen. Zugleich würde eine vertiefte Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich, etwa bei der Terrorismusbekämpfung, angestrebt. Würde dieser Weg beschritten, könnte die Kluft zwischen den Erwartungen der Bürger und dem, was die Union umsetzen könnte, nur geschlossen werden, wenn ein gemeinsamer Wille der Mitgliedstaaten zur Kompromissfindung besteht.

Zwei: Schwerpunkt Binnenmarkt

Der Mittelpunkt der zukünftigen Zusammenarbeit wäre die Reduzierung von EU-Regulierungen im Verhältnis 2:1. Für jede neue Regulierung müssten demzufolge zwei bestehende gestrichen werden. Die EU sollte sich laut diesem Szenario auf den Binnenmarkt beschränken und sich in anderen Bereichen zurückhalten. Dabei bestünde die Gefahr, dass sich Länder beim Abbau von Standards unterbieten würden, um Unternehmen zu locken. Eine Wiedereinführung der Grenzkontrollen wäre denkbar, ebenso wie der Rückzug der EU aus internationalen Foren wie dem Weltklimagipfel, da sie nicht mehr mit einer Stimme sprechen könnte. Allgemein würden die europäischen Nationalstaaten in vielen Politikbereichen unkoordinierte Entscheidungen treffen.

Drei: Wer mehr will, tut mehr

Manche Länder könnten – ähnlich dem ersten Szenario – weiter wie bisher zusammenarbeiten. Andere Länder hingegen hätten die Möglichkeit, ihre Kooperation in bestimmten Bereichen zu vertiefen, zum Beispiel in der Verteidigung. Die Zahl an möglichen zweckgebundenen Zusammenschlüssen ist unbegrenzt und kann sich über die verschiedensten Aufgabenbereiche erstrecken. Die bisher einheitlichen europäischen Bürgerrechte könnten nach und nach auseinanderdriften. Zusätzlich könnte es zu einer verstärkten Nord-Süd Spaltung kommen, wenn die wirtschaftlich stärkeren Länder im Norden eine Wirtschaftskooperation eingingen. Das Konzept der differenzierten Integration ist der EU übrigens keineswegs fremd. Beispielsweise haben sich einige EU Staaten auf den Euro als eine gemeinsame Währung geeinigt, während andere ihre eigenen Währungen behielten. Der Schengenraum ist ein weiteres Beispiel.

Vier: Weniger, aber effizienter

Die EU würde ihre Kräfte zum Beispiel beim Verbraucherschutz, der Migration oder der Sicherheit bündeln. Konkret bedeutete das zum Beispiel eine komplette Übernahme des Außengrenzschutzes durch eine europäische Grenzbehörde und eine Bearbeitung aller Asylanträge durch eine europäische Asylagentur. Dagegen würde die EU nur noch geringe Tätigkeiten in anderen Bereichen ausüben. Die Kommission sieht zum Beispiel Möglichkeiten, Ressourcen aus der Regionenentwicklung und der öffentlichen Gesundheit abzuziehen. Eine große Schwierigkeit dieses Szenarios läge darin, zu Beginn einen Konsens der Mitgliedstaaten über die Schwerpunktsetzung zu finden.

Fünf: Viel mehr gemeinsames Handeln

Europa spräche international mit einer Stimme und würde bis 2025 eine Europäische Verteidigungsunion schaffen. Das internationale politische Gewicht, das die EU genießt, würde sie dazu nutzen, führend im Kampf gegen den Klimawandel zu werden und die globale humanitäre und entwicklungspolitische Hilfe auszubauen. Sie würde ein gemeinsames Migrationskonzept zur Steuerung der regulären Migration entwickeln und gemeinsam gegen irreguläre Migration vorgehen. Der Binnenmarkt in den Bereichen Energie, Digitales und Dienstleistungen sowie die Bankenunion würden rasch vollendet. Die Kommission erkennt aber auch das Risiko, dass sich EU-skeptische Teile der Bevölkerung von der Union abwenden könnten und das Gefühl hätten, die EU habe den nationalen Behörden zu viel Macht abgenommen.

Deutschland fällt in der Debatte über die Zukunft Europas eine besondere Rolle zu. Während Deutschland als größte Wirtschaftskraft der Union Vorreiter dieses Wandels sein könnte, hat die Bundesregierung Emmanuel Macron mit seinen Vorschlägen zur Weiterentwicklung so lange hingehalten, bis der französische Präsident von seinen eigenen innenpolitischen Problemen eingeholt wurde.

Ulrike Guérot
und die Europäische Republik

VON JOSEF HUBER

In ihrem 2016 erschienenen Buch „Warum Europa eine Republik werden muss!“ fordert die deutsche Politikwissenschaftlerin und Professorin für Europapolitik Ulrike Guérot ein radikales Umdenken der Europäischen Union: Europa als Republik. Aber wie?

Für jemanden wie Guérot, die als leidenschaftliche Europäerin gilt, scheint es auf den ersten Blick ungewöhnlich, Verständnis für die Kritik der britischen Brexit-Befürworter zu äußern. Doch sie gibt sie ihnen Recht, wenn sie sich über einen Kontrollverlust in der Europäischen Union beschweren. Das klingt zunächst paradox.

Guérots Diagnose: Die Union leide unter einer Legitimationskrise, ausgelöst von sozialen Ungerechtigkeiten zwischen den EU-Mitgliedstaaten, überbordendem Nationalismus und einem schweren Demokratiedefizit der europäischen Institutionen. Daher brauche es „eine Republik, die den politischen Gleichheitsgrundsatz für alle Bürger*innen Wirklichkeit werden lässt. Das Gemeinwohl, res publica, dient hierbei als Leitprinzip einer zukünftigen europäischen Ordnung.“

Wie soll eine Europäische Republik also konkret aussehen? Guérot wünscht sich eine Republik nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten von Amerika. Der Souverän wäre die europäische Öffentlichkeit, ein europäisches Volk, bestehend aus allen 500 Millionen Bürgern der EU.

Der Souverän in einem Staat ist die Person oder Gruppe, die die Staatsgewalt ausübt und Entscheidungen trifft. In einer Demokratie ist der Souverän die Gesamtheit der Bürger.

Die politische Führung der Republik fiele einem Präsidenten zu, der vom europäischen Volk direkt gewählt wird. Die Legislative übernimmt ein europäisches Parlament, das wie der US-Kongress aus zwei Häusern besteht: einem Senat (mit zwei Repräsentanten pro Region und sechs pro Metropole) und einem Repräsentantenhaus (das nach dem one person one vote-Prinzip gewählt würde). Einen echten europäischen Parlamentarismus soll es geben. Und europäische Parteien!

Die Republik steuert jedoch nicht alle Angelegenheiten in Europa. Ganz nach dem Subsidiaritätsprinzip soll ein föderalistisches System entstehen, in dem sowohl auf der europäischen als auch auf der regionalen Ebene regiert würde. Durch gemeinsame Besteuerung europäischer Bürger soll auch ein gemeinsames Sozialsystem ermöglicht werden. Umgesetzt werden soll das alles bis spätestens 2045, wenn möglich auch früher.

Das Subsidiaritätsprinzip besagt, dass die EU nur solche Aufgaben übernehmen soll, die sie besser als die Ebene darunter (wie die Nationen oder die Regionen) lösen kann. In einem föderalistischen System schließen sich viele gleichberechtigte Glieder zu einem Ganzen zusammen, wahren aber teilweise ihre Selbstbestimmungsrechte.

Europa soll also auf drei Prinzipien basieren: einer republikanischen Ordnung nach amerikanischem Vorbild, einem gemeinsamen Wohlfahrtsstaat für alle europäischen Bürger und der Idee eines Europas ohne Nationalstaaten. Guérot fordert eine europäische Identität unter den Bürgern Europas und die Auflösung der europäischen Nationalstaaten zugunsten europäischer Regionen. Der österreichische Journalist und Schriftsteller Robert Menasse ist derselben Ansicht und sagt: „Region ist Heimat, Nation ist Fiktion.“ Er prophezeit das Ende des Nationalstaats.

Ulrike Guérot und Robert Menasse vertreten mit ihren Vorschlägen also ein Europa der Regionen – eine beliebte und umstrittene Vision. Tatsächlich ist der Nationalstaat in seiner heutigen Form ein relativ junges Staatsmodell, das erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts als europäische Norm gilt. Zuvor waren viele europäische Staaten wie Deutschland oder Italien jahrhundertelang in viele kleine Herrschaftsgebiete zersplittert. Die Europäische Republik soll nach Guérots Vorstellungen aus 50 bis 60 europäischen Regionen und einzelnen Metropolen bestehen, nicht aus Nationalstaaten. Denn viele der heutigen Probleme in der EU, insbesondere das Demokratiedefizit, seien durch nationale Alleingänge einzelner Mitgliedstaaten oder intransparente Hinterzimmergespräche zwischen einigen wenigen Nationen verursacht. Die Regionen seien dafür  „traditionelle Kulturregionen“, die über nationale Grenzen hinausgehen: Katalonien, Bayern, die Wallonie und viele andere. Europäischer Regionalismus existiert tatsächlich bereits: Südtirol, Tirol und das Trentino haben beispielsweise eine gemeinsame Vertretung bei der EU.

Guérots Vorschlag einer Europäischen Republik ist radikal. Wie zum Beispiel ein europäisches Selbstverständnis aller EU-Bürger entstehen soll, bleibt unbeantwortet. Ob, wie und wann der regionale Gedanke tatsächlich umsetzbar ist, ist ebenfalls offen. Die Zeit wird es zeigen.