Gegen einen europäischen Nationalismus

VON MERLIN KRZEMIEN

Es läuft gut in der EU. Aber deshalb sollten wir Europa nicht zum Wert an sich erheben. Im Gegenteil: Die europäische Identitätspolitik behindert die Debatte darüber, wie die EU in Zukunft aussehen sollte. Ja zu Europa! Aber nicht um seiner selbst willen. Die EU bietet uns die Gelegenheit, den Nationalismus hinter uns zu lassen und eine tolerante, offenere Gesellschaft zu schaffen. Diese Chance sollten wir nicht leichtfertig vertun.

Die EU sichert Frieden, schafft Wohlstand und ermöglicht Freizügigkeit, wie die breite Bevölkerung sie zuvor nicht kannte. In der Finanz- und anschließenden Währungskrise hat die EU ihrem Mitglied Griechenland aus der Pleite geholfen und übernimmt mittlerweile zusehends die Aufgabe, gegen den Demokratieabbau in Mitgliedstaaten wie Polen und Ungarn zu kämpfen. Die Mehrheit der europäischen Bevölkerung ist sich laut Umfragen einig: Europa ist eine gute Idee und wir sollten daran festhalten.

Aber diese europäische Symbolbesessenheit, die modischen blauen Pullover und goldenen Sterne, das Fahnenschwingen und die Slogans – das geht zu weit. Europa wird zum Wert an sich erhoben, den wir um jeden Preis erhalten müssen. Das Argument für eine solche europäische Identität ist einfach: Wir brauchen gemeinsame Werte, um die Solidarität zu sichern. Als Kleister, der uns auch in schwierigen Zeiten zusammenhalten soll. Europa ist gut und deshalb müssen wir es schützen. Erst im Anschluss sollen wir uns Gedanken darüber machen, wie es aussehen soll.

Dieser Überschwang entspringt der Furcht, dass die EU allzu bald ihren Problemen zum Opfer fallen könnte. Seien es die Rechtspopulisten, wachsende Ungleichheit, internationaler Druck oder innere Streitigkeiten. Als Schutzmechanismus wird Europa an sich gelobt: Was auch immer die Frage ist, in Europa wird die Antwort liegen. Eine konstruktive Diskussion darüber, ob Europa überhaupt in die richtige Richtung geht, wird dadurch beinahe unmöglich. Viele scheinen zu vergessen, dass die EU keine mystische Schicksalsgemeinschaft ist, sondern ein konkretes politisches Projekt mit Chancen, aber eben auch vielen Fehlern, an denen man arbeiten muss. So behindern die Symbole der „Alternativlosigkeit“ eine echte demokratische Debatte über ein europäisches Zukunftsmodell.

Wir können die wichtigen, die realen Fragen nicht weiter aufschieben. Europa wird niemals an einen Punkt gelangen, an dem es mehr Zeit hätte, sich um die grundlegenden Dinge zu kümmern. Nach der Finanzkrise kam die Währungskrise, kam die Brexit-Krise, kam die NATO-Krise. Die 2020er werden dann ruhiger? Unwahrscheinlich. Tatsächlich ist doch eines der großen Probleme der EU, dass sie eben nicht weiß, was sie sein will. Ein Wirtschafts- oder auch Militärbündnis? Eine Staatengemeinschaft oder doch ein Bundesstaat? Sozial oder nur marktwirtschaftlich? Wenn wir uns bei Europa nur „Ob“ fragen und niemals „Wie“, werden wir einer Lösung nicht näherkommen.

Das Problem reicht jedoch tiefer. Zu behaupten, wir müssten erst eine europäische Identität schaffen und könnten dann gemeinsam Politik machen, ist eine Finte. Warum sollte eine gesamteuropäische Union nicht in denselben Schwierigkeiten – Populismus, Fremdenfeindlichkeit und Ausbeutung – enden, mit denen wir heute schon auf nationaler Ebene zu kämpfen haben?

In der EU sind heute zum Beispiel der Binnenraum und der Euro indiskutabel, weil diese zu ihren „Grundfesten“ gehörten. Äußert man Zweifel daran, ob das so gut ist, wird man zum Anti-Europäer, selbst wenn man sich vielleicht einfach eine andere EU wünscht. Linke, Liberale und Konservative leiden gleichermaßen unter solchen Vorwürfen.

Politik ist niemals wertfrei. Das liegt in der Natur der Sache. Ziel der Politik ist es im besten Fall, der Gesellschaft einen staatlichen Rahmen zu geben, in dem sie florieren kann. Die Ausgestaltung ist dabei immer wertgebunden: Sie ist davon abhängig, was wir für gut und richtig halten. Gerade deshalb sollte die Festsetzung dieser Werte Teil eines politischen und demokratischen Prozesses sein. Eine europäische Identitätspolitik, die dem vorgreift und uns vorschreibt, wie sich ein guter Europäer zu verhalten hat, würde das Gegenteil bewirken.

Dass die europäische Vision nicht aus Brüssel kommen darf, zeigt auch das weitverbreitete Unbehagen an den Rändern der EU. Da fehlt gerade den Deutschen und Österreichern manchmal der Zugang. Natürlich sind wir zufriedener mit Europa. Wir bestimmen ja auch, wohin es geht. Stattdessen sollte die Vision aus der gesamteuropäischen Öffentlichkeit nach Brüssel getragen werden und von den Menschen ausgehen, die in Europa leben. Es gibt berechtigte Zweifel, ob die EU-Kommission, der Rat und das Parlament in ihrer aktuellen Form dafür geeignet sind. Es bedarf grundlegender Reformen, die Differenzierung und Selbstkritik ermöglichen. Dazu müsste man aber das europäische Versprechen neu aushandeln und offen sein für die Möglichkeit, dass die Wähler etwas anderes wollen als ein „Weiter so“.

Zuletzt muss man sich fragen, ob man europäische Symbole wie Flaggen und Hymnen, die doch eindeutig an nationale (und vielleicht nationalistische) Identitätspolitik angelehnt ist, in einem modernen Europa überhaupt gutheißen kann. Warum einen europäischen Nationalismus verfolgen, wenn man es besser machen könnte? Europa ist ein großer Kontinent mit einer Vielzahl an Sprachen und Kulturen. Man sollte nicht versuchen, diese Diversität in eine Einheitskultur einzuschmelzen, die sich dann wieder nach außen hin abgrenzt. Im Gegenteil: Europa bietet die Chance, eine weltoffenere, multikulturelle und postnationale Zukunft anzugehen.

Die Gefahr von Symbolen und einer vorgeschalteten Werte- und Identitätspolitik liegt darin, dass wir die Entscheidungsfindung einschränken und so tun, als hätten wir nur eine Wahl: Europa oder nicht. Aber wir können und sollten Europa nach unseren Vorstellungen gestalten. Wie genau das aussieht, ist nicht vorherbestimmt. Es ist Zeit, die Fahnen beiseite zu legen und uns an die Arbeit zu machen.