Wirklich ein Kontinent
der Werte?

VON BENEDIKT HANSA

Von Orban bis Salvini. Von Frankreich nach Polen. Die Demokratie steckt in einer Krise. Ein kritischer Blick auf die Europakarte.

Im Jahr 1992 prophezeite der Politikwissenschaftler Francis Fukayama in seinem Buch „Ende der Geschichte“, die westlichen Ideale der liberalen Demokratien würden sich langsam aber sicher in der ganzen Welt durchsetzen. Die totalitären Systeme des Faschismus und des Kommunismus seien 1945 mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und 1989 mit dem Fall der Berliner Mauer unwiederbringlich besiegt worden. Die Zahl der demokratischen Staaten werde unaufhaltsam steigen. Mehr Menschen würden von Jahr zu Jahr in freieren, offeneren Gesellschaften leben. Der unaufhaltbare Sieg der Demokratie läute das Ende der (politischen) Geschichte ein. Sie komme zum Stillstand. Die Sektkorken knallten, man feierte die liberale Demokratie und sich selbst.

Liberale Demokratien vereinen liberale Aspekte, wie die Rechtsstaatlichkeit (Gleichheit vor dem Gesetz, Freiheit) und die Marktwirtschaft mit dem Gedanken der Demokratie – die Macht des Staates geht vom Volk aus.

Kaum ein Vierteljahrhundert später hat die liberale Welt einen üblen Kater. Heute würde die These des Endes der Geschichte wohl niemand mehr unterschreiben. Auf der ganzen Welt werden in demokratischen Wahlen Personen gewählt, die es sich zum Ziel gesetzt haben, die Pressefreiheit einzuschränken, Minderheitenrechte zu beschneiden und demokratische Institutionen zu schwächen. Kurz: Sie wollen die Demokratie in ihren Staaten aushöhlen und sie zu illiberalen Demokratien umbauen.

Für den Begriff Illiberale Demokratiegibt es bisher keine eindeutige Definition; eigentlich widersprechen sich “illiberal” und “Demokratie”. In den letzten Jahren waren mit dem Ausdruck jedoch meist demokratische Staaten gemeint, die autoritär geführt werden. In solch einer illiberalen Demokratie existiert weniger Gewaltenteilung, die Regierung nimmt Einfluss auf andere Ebenen des Staates und die Meinungs- und Pressefreiheit wird eingeschränkt. Den Begriff prägte Viktor Orban, der Ministerpräsident Ungarns.

Ungarn

Viktor Orban, der ungarische Ministerpräsident, ist nunmehr seit fast zehn Jahren mit seiner nationalkonservativen Partei FIDESZ an der Spitze der Ungarischen Republik. Seither kann er auf die Unterstützung von zumindest zwei Drittel aller Abgeordneten bauen, was ihm damit sogar die Macht verleiht, Verfassungsänderungen durchsetzen zu können – wovon er auch Gebrauch macht: Mit der siebten Verfassungsänderung 2018 wurde das Versammlungsrecht eingeschränkt, Obdachlosigkeit unter Strafe gestellt und ein Verbot erlassen, „ausländische Ethnien nach Ungarn einzusiedeln“.

Mit George Soros – der in der ganzen Welt liberale Projekte unterstützt – hat Viktor Orban einen „Staatsfeind“ ausgemacht. Dem Milliardär jüdischen Glaubens wird vorgeworfen, illegale Masseneinwanderung nach Ungarn zu unterstützen. Auch gegen die „Central European University” des Milliardärs geht die ungarische Regierung vor. So sind Zahlungen aus dem Ausland an ungarische Universitäten eingeschränkt, wogegen die EU-Kommission bereits vor den EuGH gezogen ist.

Im Europaparlament steht Ungarn gleich wegen zwei Dingen unter Beobachtung: Zum einen wurde ein Verfahren wegen Verletzung der europäischen Grundrechte eingeleitet, was im extremsten Fall einen Verlust der Stimmrechte im Europäischen Rat bedeuten kann. Zum anderen kritisierten Vertreter vieler Fraktionen, dass die Europaabgeordneten von Orbans FIDESZ-Partei der Fraktion der EVP (Europäische Volkspartei) angehörten – gemeinsam mit CDU/CSU und ÖVP. Auf großen öffentlichen Druck hin wurde FIDESZ rechtzeitig vor der Wahl suspendiert, wenn auch nicht endgültig aus der Parteienfamilie ausgeschlossen.

Polen

In Polen scheint die Entwicklung besonders rasant voranzuschreiten. Durch eine Absenkung des Pensionsalters wurden die obersten Richter des Landes zwangspensioniert und die richterliche Unabhängigkeit infrage gestellt. Denn neue Richter werden von einem Justizrat bestimmt, deren Mitglieder mittlerweile ausnahmslos aus der Regierungspartei PiS („Recht und Gerechtigkeit“) kommen. In einem Urteil des EuGHs wurde angeordnet, die „Zwangspensionierung” der Richter rückgängig zu machen, woran sich Polen immerhin hielt. Auch die unabhängigen Medien haben es laut „Reporter ohne Grenzen“ immer schwieriger: So werden Anfragen von Journalisten nicht mehr rechtzeitig bearbeitet und Mitarbeiter des öffentlich-rechtlichen Rundfunks entlassen.

Unter internationaler Kritik wurde im Jahr 2018 ein „Holocaust-Gesetz“ vom Präsidenten unterschrieben, das die Verwendung von Begriffen wie „polnisches Vernichtungslager“ unter Strafe stellt. Wer der polnischen Nation Verantwortung für Verbrechen des Dritten Reichs zuschreibt, konnte unter diesem „Zensurgesetz“ mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren belangt werden. Teile dieses Gesetzes wurden ein halbes Jahr später entschärft. Im Jahr 2017 leitete das EU-Parlament gegen Polen ein Verfahren wegen Verletzung der Rechtsstaatlichkeit ein.

Italien

Seit 2018 wird Italien von einer Koalition zwischen der Fünf-Sterne-Bewegung und der rechtsradikalen Lega, ehemals Lega Nord, regiert. Beide zeichnen sich durch ihre EU-Skepsis, ihre Nähe zum Kreml und ihrer Behauptung, der wahre Vertreter des italienischen „Volkes“ zu sein, aus, was auch zu der Diskriminierung von Minderheiten geführt hat.

So finden sich im Koalitionsvertrag Maßnahmen gegen die Roma: Die Bedingungen in ihren „Nomadenlagern“ werden auf rassistische Art kritisiert. Sie sollen wegen der schlechten hygienischen Bedingungen und der Kriminalität abgerissen werden. Dass die EU Italien seit Jahren dafür kritisiert, dass Roma außerhalb der Lager nie Wohnraum finden, findet im Vertrag keine Erwähnung. Der Innenminister Matteo Salvini (Lega Nord) schlug sogar vor, diese Minderheit akribisch zählen zu lassen, um sie anschließend dem Lande zu verweisen. Eine Aussage, die die jüdische Gemeinde kritisierte, da sie Parallelen zur Zählung von Juden in der Zeit des Diktators Benito Mussolini sehe.

In Europa leben schätzungsweise zwischen 10 und 12 Millionen Roma. Dabei handelt es sich um eine Bevölkerungsgruppe, die seit über 700 Jahren in Europa beheimatet ist und eine eigene Sprache und eigene Brauchtümer pflegt. Einem häufigen Vorurteil entgegen sind die meisten von ihnen sesshaft. Sie wurden jahrhundertelang immer wieder Opfer von Ausgrenzung und Verfolgung.

Auch mit der EU gibt es Konflikte: Nachdem die Kommission den Budgetvorschlag der italienischen Regierung aufgrund einer dreimal so hohen Abweichung vom geplanten Defizit abgelehnt hatte, dauerte es Wochen, bis sich beide Streitparteien auf einen neuen Haushaltsentwurf einigen konnten. Teure Wahlversprechen scheinen jetzt nur noch schwer umsetzbar zu sein. Ein Gesetzesvorschlag der Kommission, der die Auszahlung von EU-Fördergeldern an das Einhalten von Grundwerten knüpft, könnte auch Italien treffen.

Deutschland

Denkt man an illiberale Tendenzen in Deutschland, so wird einem relativ schnell die AfD einfallen. Seit 2017 ist die Alternative für Deutschland im Bundestag vertreten und hat ausgezeichnete Beziehungen zu Viktor Orban, Matteo Salvini und anderen Parteichefs, die in ihren Ländern autoritär regieren. Um dem starken Zulauf zur AfD entgegenzuwirken und ihr ein wenig den Wind aus den Segeln zu nehmen, haben mittlerweile auch schon einige andere deutsche Parteien ihren Ton in der Sicherheitspolitik verschärft. Durch ein neues bayerisches Gesetz kann die bayerische Polizei beispielsweise seit 2018 Menschen schon bei „drohender Gefahr“ statt bei „konkreter Gefahr“ festnehmen und “Gefährder” dürfen drei Monate eingesperrt bleiben.

Sicherlich sind die Entwicklungen in Deutschland mit denen in den anderen erwähnten Ländern nur schwer zu vergleichen, aber die Tendenz ist da. Die Zeit wird zeigen, wie es in Deutschland weitergeht. In näherer Zukunft stellt sich zum Beispiel die Frage, ob die CDU unter neuer Führung von Annegret Kramp-Karrenbauer enttäuschte Protestwähler der AfD zurückgewinnen kann oder ob die AfD gar schon bald in einer Landesregierung sitzt.

Österreich

Land der Berge, Land am Strome – Land der Rechtspopulisten? Natürlich ist Österreich nicht das einzige europäische Land mit einer starken rechten Partei. Aber während die Lega Nord seit 1989, die PiS seit 2001 und die AfD erst seit 2013 existiert, gibt es die FPÖ schon seit 1955 (und ihre Vorgängerpartei, die VdU, sogar seit 1949). Sie mischt also seit dem Beginn der Zweiten Republik als drittstärkste – 1999 sogar zweitstärkste – Kraft in der österreichischen Innenpolitik mit. Seit 2017 ist sie als Juniorpartei in einer Koalition mit der ÖVP. Während es wegen der Angelobung der schwarz-blauen Regierung im Jahr 2000 sogar zu Sanktionen der (damals) 14 anderen EU-Staaten gegen Österreich kam, passierte bei der Angelobung von Türkis-Blau 2017 nichts Derartiges. Dass rechte Parteien in Regierungen sitzen, scheint in Europa Alltag geworden zu sein.

Wer an einem Donnerstag schon einmal durch die Wiener Innenstadt spazierte, dem wird die wöchentliche „Donnerstagsdemo“ (die ihren Ursprung in der ersten schwarz-blauen Regierung Anfang der 2000er Jahre hat) wohl kaum entgehen. Einen Satz liest man auf den Plakaten der Demonstranten immer wieder: „Kickl muss weg!“ Bereits fünf Mal gab es einen Misstrauensantrag gegen den blauen Innenminister Herbert Kickl. Mit Sätzen wie „das Recht hat der Politik zu folgen und nicht die Politik dem Recht“ und seinem Vorschlag, Asylwerber „konzentriert an einem Ort zu halten“ sorgte er für Unmut in der Opposition und in weiten Teilen der Gesellschaft. Ferner wurden die „Erstaufnahmezentren” für Asylsuchende in „Ausreisezentren” umbenannt – ein zynischer politischer Akt, der große Teile der Bevölkerung anwiderte.

Auch Kickls Rolle in der sogenannten BVT-Affäre sorgt für Kritik. Das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) ist eine 2002 gegründete Organisation – eine Mischung aus Polizei und Geheimdienst. Seit der Durchsuchung des BVTs im Februar 2018 durch die Einsatzgruppe zur Bekämpfung der Straßenkriminalität (EGS) im Auftrag der Korruptionsstaatsanwaltschaft geben internationale Geheimdienste laut Kritikern nur noch wenige Informationen an Österreich weiter. Hinzu kommt, dass die EGS von einer FPÖ-nahen Person geleitet wird. Unter den 40.000 beschlagnahmten Gigabyte an Daten finden sich auch Dateien zu Ermittlungen gegen die FPÖ-nahe Zeitung unzensuriert.at. Ein halbes Jahr später wurde die Hausdurchsuchung vom Oberlandesgericht Wien für unrechtmäßig erklärt. Seit Herbst 2018 tagt ein – von SPÖ, NEOS und JETZT gemeinsam eingesetzter – Untersuchungsausschuss, um die Frage zu klären, inwiefern Versuche unternommen wurden, auf den BVT politisch Einfluss zu nehmen.

Gekapert von der Exekutive – Polens unausgereifter Rechtsstaat

VON DAVID ZIVKOVIC

Die unabhängige Rechtsprechung in Polen erodiert; die möglichen Reaktionen der EU-Institutionen sind begrenzt, vielleicht sogar kontraproduktiv. In vormals kommunistischen EU-Mitgliedstaaten laufen demokratische Instrumente und die Justiz Gefahr, dem starken exekutiven Druck zu unterliegen.

Polen – das „Problemkind“ der EU. Seit Herbst 2015 bekleidet die rechtskonservative Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS), die Teil der EKR-Fraktion ist, die Regierungsämter in Polen. Trotzdem gehören die Polen zu den größten EU-Enthusiasten. Laut Eurobarometer unterstützen gar 70 Prozent der befragten Polen die EU-Mitgliedschaft ihres Landes. Der EU mit der Zerschlagung des Rechtsstaats „eins auszuwischen“ kann also nicht Ziel der Regierenden in Polen sein. Wie erklärt sich die angespannte Lage?

Die Fraktion EKR, zu Deutsch „Europäische Konservative und Reformer“, ist eine nationalkonservative und EU-kritische Fraktion im Europäischen Parlament, der auch die britischen Konservativen angehören.

Der Rechtsstaat in Gefahr

Kaum hatte die PiS-Partei 2015 die absolute Mehrheit im Parlament erlangt, machte sie sich daran, das polnische Rechtssystem zu ihren eigenen Gunsten umzubauen. So wurde 2017 der Landesjustizrat, der für die Ernennung von Richtern zuständig ist, reformiert. Seine Mitglieder werden nun von der Parlamentsmehrheit (und somit von der Regierung) und nicht mehr von den Richtern selbst gewählt. Der Justizminister kann nun Richter absetzen und neue, der Regierung näher stehende, ernennen. Ähnlich schwerwiegende Probleme gab es bei der Ernennung neuer Mitglieder des Verfassungsgerichtshofs, der in seinen Kompetenzen geschwächt wurde. Auch ein Gesetz zum Obersten Gericht aus dem Jahr 2018 senkte das Pensionsantrittsalter der obersten Richter von 70 auf 65 Jahre und hatte die Zwangspensionierung von mehr als einem Drittel der Richter zur Folge.

Die internationale Gemeinschaft reagierte mit Kritik und Besorgnis. Bedenken meldeten auch verschiedene EU-Institutionen, die Vereinten Nationen und die Venedig-Kommission an. In Polen selbst kam es zu zahlreichen Protesten, an denen zehntausende Menschen teilnahmen. Ein Umschwenken der PiS-Regierung blieb – abgesehen von der Rücknahme der zuvor erwähnten Zwangspensionierungen nach einer EuGH-Entscheidung – aus. Das lag nicht zuletzt daran, dass die Popularität der Regierung in Umfragen relativ stabil blieb.

Die Europäische Kommission für Demokratie durch Recht, auch bekannt als Venedig-Kommission, ist Bestandteil des Europarats und berät Staaten in verfassungsrechtlichen Fragen.

Die Gewaltenteilung in Polen: Ein schwaches Fundament

Wie können die Justizreformen bei der polnischen Bevölkerung durchgehen? Vielleicht hilft ein Blick in die neuere politische Geschichte des Landes, eine Antwort zu finden.

Die Demokratie fußt auf der Gewaltenteilung: Die gesetzgebende (Legislative), die ausübende (Exekutive) und die rechtsprechende (Judikative) Gewalt sind voneinander unabhängig. Im kommunistischen Polen (also vor 1989) gab es keine solche Teilung. Der Staat, und damit die kommunistische Partei, kontrollierte alle Einrichtungen. Das Vertrauen in staatliche und rechtsstaatlichen Institutionen war gering. Von einer langjährigen Tradition eines unabhängigen Rechtssystems kann man in Polen (und in vielen seiner Nachbarstaaten) nicht sprechen.

Um 1990 zerbröckelt der Kommunismus im Osten, in Polen besonders durch die Solidaritätsbewegung. Erstmals werden Wahlen abgehalten, bei denen nicht im Vorhinein klar ist, wer aus ihnen als Sieger herausgehen wird. Die Bürger Polens erhalten ein Instrument, mit denen sie das politische Geschehen im Land gestalten können.

Die polnische Gewerkschaft „Solidarność“, auf Deutsch „Solidarität“, unter Leitung des damaligen Vorsitzenden Lech Wałęsa, wirkte in den 1980ern entscheidend am Ende des Kommunismus und dem Übergang zur Demokratie in Polen mit.

Exekutive, Legislative … und sonst?

Das Volk wählt die Parteien, die im Parlament sitzen, und entscheidet in weiterer Folge, wer regieren soll. Die Bevölkerung gewinnt leicht Bezug zu Legislative und Exekutive – sie wählt sie ja selbst. Bei der Judikative ist das komplizierter. Richter, Staatsanwälte und Justizräte werden nicht direkt vom Volk bestimmt. Es wird schwieriger, die wichtige Rolle nachvollziehen, die eine unabhängige Judikative in einer Demokratie spielt. Dasselbe Problem betrifft auch staatliche Medien. In den jungen Demokratien der Visegrád-Staaten hatten diese zwei Institutionen zeitlich bedingt wenig Möglichkeiten, ihre demokratische Relevanz unter Beweis zu stellen. Das Demokratieverständnis in diesen Staaten basiert stärker auf dem Mehrheitswillen des Volkes als in einem Staat mit langer Rechtsstaatstradition.

Die Visegrád-Gruppe ist ein halboffizielles Bündnis zwischen Ungarn, der Slowakei, Tschechien und Polen mit dem Ziel der Koordination gemeinsamer politischer Positionen, insbesondere im Zusammenhang mit der EU.

Die Regierenden in Polen stellen die Eingrenzung der exekutiven Gewalt durch Gerichtsorgane als elitäre Volksfeindlichkeit dar. Das trifft auch auf die EU zu, die mit einer Bedrohung für die staatliche Souveränität und die polnischen Werte gleichgesetzt wird. Die positive Einstellung zur EU in Polen, einem EU-Nettoempfänger, ist, dieser Logik folgend, eine gespaltene: Ja zu EU-Geldern, Nein zu schwer greifbaren EU-Werten wie unabhängige Richter und Medien.

Die Zukunft der Rechtsstaatlichkeit

Eine Änderung des Kurses von innen, etwa durch eine Ablösung der regierenden PiS-Partei bei den Parlamentswahlen im Herbst 2019, wäre die einfachste Lösung. Darauf kann sich die EU jedoch nicht verlassen, besonders weil derzeitige Umfragen keine eindeutige Tendenz nahelegen. Die wichtigsten Oppositionsparteien entwarfen bisher nur für die kommende EU-Wahl eine gemeinsame Strategie. Das Ergebnis der EU-Wahl bleibt abzuwarten, kann es doch maßgeblichen Einfluss auf die Parlamentswahlen im Herbst haben, wie auch der Sieg des PiS-Kandidaten bei der Präsidentenwahl 2015 der Partei den Pfad zum Sieg in den folgenden Parlamentswahl geebnet haben soll.

Das EU-Parlament hat im Januar 2019 dafür gestimmt, dass Mitgliedstaaten mit mangelhafter Rechtsstaatlichkeit EU-Gelder gekürzt werden können. Die Zustimmung des Ministerrats steht noch aus. Solche Maßnahmen könnten gerade bei Nettoempfängern wie Polen und den Visegrád-Staaten Wirkung zeigen. So könnte die EU effektiver Druck auf Mitgliedstaaten ausüben, die gravierende Mängel in den Grundpfeilern ihrer Demokratie aufweisen, und gleichzeitig die örtliche Bevölkerung in der Bekämpfung antidemokratischer Tendenzen „aktivieren“. Geldeinbußen sind schließlich greifbarer als Mahnungen zu demokratischen Werten. Mit den derzeitigen Mechanismen kommt die EU nämlich nicht weit und wird von den Regierenden nur weiter zum Feindbild dämonisiert.

Autoritäre und illiberale Regierungen – was kann die EU tun?

VON MARLIES HOFMANN

Illiberale Demokratien? Autoritäre Tendenzen? Die Entwicklungen im europäischen Osten tragen viele Namen. Das sind nicht nur „wieder Schlagwörter der Linken“, sondern gefährliche Entwicklungen in Polen und Ungarn, die ernst genommen werden müssen und die Union vor eine Herausforderung stellen.

Die Europäische Union ist auf den Grundwerten der Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit gebaut. Was kann die Union tun, wenn ihre Mitgliedstaaten diese Grundwerte mit Füßen treten? Beinahe täglich liest man neue Schlagzeilen über Ungarn und Polen: Studiengänge werden verboten, Medien ausgeschaltet, Berichterstatter verhaftet. In den einen Medien ist von illiberalen Demokratien die Rede, andere beschreiben die Zustände als autoritäre Tendenzen. Was genau bedeuten diese Wörter? Und über welche Mittel verfügt die EU, ihre Mitgliedstaaten in Schach zu halten?

Vor einem Beitritt in die Staatenunion werden potenzielle Mitglieder einem strengen Prüfverfahren unterzogen. Klare Bedingungen sollen sicherstellen, dass die Staaten über eine stabile Demokratie und einen funktionierenden Rechtsstaat verfügen. Diese Verfahren können sehr lange dauern und in manchen Fällen auch wieder zum Abbruch der Verhandlungen führen. Sobald Mitglieder aber in die Union aufgenommen wurden, verfügt sie über bedeutend weniger Mittel, Mitglieder zur Achtung ihrer Grundwerte zu ermahnen. Was derzeit in Ungarn und Polen passiert, versetzt die EU in eine ungewohnte Position.

In einer Demokratie muss das Recht auf das Volk rückführbar sein. Daraus ergibt sich eine gegenseitige Verantwortung zwischen Regierenden und Regierten. Die Regierenden müssen ihre Handlungen gegenüber dem Volk rechtfertigen können. Zum einen basiert das auf den Rechten und Pflichten, die ihnen mit der Verfassung übertragen wurden, zum Beispiel der öffentliche Zugang zu wahrheitsgetreuer Information. Die Zivilbevölkerung muss auf das Verhalten der Machthaber reagieren können, es hinterfragen und kritisieren  dürfen. Nicht nur am Wahltag muss die Bevölkerung die Chance haben, ihrer Stimme Gehör zu verschaffen. Die Demokratie lebt auch und vor allem vom Austausch zwischen Wahlen, beispielsweise durch Demonstrationen oder Äußerungen der Zivilbevölkerung durch freie Medien und NGOs.

NGOs (oder non-governmental organisations) sind zivilgesellschaftliche Interessenverbände, die nicht mit staatlichem Mandat handeln und daher unabhängig von der Regierung arbeiten. Mögliche  Beispiele sind die Caritas oder Amnesty International.

Illiberal und autoritär

Marlies Glasius, Expertin in Sachen internationale Beziehungen, unterscheidet zwischen autoritären und illiberalen Praktiken.

Wenn das Verhältnis zwischen Regierung und Regierten systematisch gestört wird, kann man von autoritären Tendenzen sprechen. Illegitime Geheimhaltung, Fehlinformation und Unterdrückung von Gegenstimmen zählen zu solchen Praktiken. Zum Beispiel in Ungarn: Die Medienfreiheit wurde eingeschränkt, die Central European University wurde gezielt ins Visier genommen. So werden Gegenstimmen für unglaubwürdig erklärt und die Möglichkeit, die Regierung zur Verantwortung zu ziehen, stark eingeschränkt.

Autoritäre Praktiken schaden dem demokratischen Austausch. Illiberale Praktiken hingegen greifen die Menschenrechte an. Darunter fallen systematische Menschenrechtsverletzungen, die Autonomie und Würde von einzelnen oder Gruppen verschmälern. Beispiele sind unrechtmäßige Festnahmen, unverhältnismäßiger Einsatz von Staatsgewalt und illegitime Überwachung. Das 2018 in Bayern verabschiedete Polizeiaufgabengesetz, das eine Festnahme für bis zu drei Monate aufgrund „drohender Gefahr“ anstatt „konkreter Gefahr“ erlaubt, schränkt das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren beispielsweise maßgeblich ein. In Ungarn ist die Versammlungsfreiheit seit 2018 stark eingeschränkt. Eine illiberale Demokratie ist also eine frei und demokratisch gewählte Regierung, die systematisch Grundrechte von Individuen verletzt.

Eine Unterscheidung zwischen autoritären und illiberalen Praktiken ist vor allem wichtig, um zu zeigen, dass nicht alles, was nicht in „den Kram passt”, den Stempel „illiberal“ verpasst bekommen sollte. Die beiden beiden Phänomene treten trotzdem oft gemeinsam auf.

In Polen haben es freie Medien derzeit schwer. Bei den öffentlich-rechtlichen Medienhäusern werden die Mitarbeitenden reihenweise entlassen. Die Sabotage des freien Journalismus ist einerseits eine autoritäre Praktik, da sie den freien Informationsfluss einschränkt und damit die Möglichkeiten, die Staatsgewalt zur Rechenschaft zu ziehen. Andererseits ist auch das individuelle Recht auf freie Meinungsäußerung und Autonomie eingeschränkt.

Rechtsstaat On|Off

Oft wird im Zusammenhang mit illiberalen Demokratien und autoritären Tendenzen auch von einem „Ausschalten des Rechtsstaats“ gesprochen. Der europäische Grundwert der Rechtsstaatlichkeit setzt voraus, dass die Regierung nichts anders als die Bürger an Gesetze und Regeln gebunden ist. Das bedeutet nicht, dass Gesetze nicht änderbar wären, sondern nur, dass jene Änderungen wiederum auch an Regeln gebunden sind. Wenn nun behauptet wird, der Rechtsstaat sei ausgeschaltet, bedeutet das nicht weniger als dass Regeln, die Gesetzmacher und -vollstrecker binden, ignoriert werden. Da im polnischen und ungarischen Parlament derzeit jeweils Regierungen sitzen, die mit ihrer Mehrheit die Verfassung verändern können, kann es leichter zu solchen Änderungen kommen. So war es beispielsweise bei den oben erwähnten Einschränkungen des Versammlungsrechts in Ungarn der Fall.

Der Rechtsstaat bindet die Ausübung aller staatlichen Gewalten an das Gesetz. Der Gesetzgebung liegt die Verfassung zugrunde. Der Rechtsvollzug und die unabhängige Rechtsprechung ist wiederum an das Gesetz gebunden. Das Recht schreibt somit klar vor, was der Staat darf und nicht darf.

Der Rechtsstaat wird nicht in einer einzelnen Handlung ausgeschaltet. Keine Demokratie wird von heute auf morgen illiberal. So kann man beispielsweise in Deutschland nur aufgrund des bayerischen Gesetzes nicht von einer illiberalen Demokratie sprechen. Es sind wiederholte, in Organisationen verflochtene Praktiken, die eine Gefahr darstellen.

In Polen wird mit diesen Praktiken die für den Rechtsstaat unabdingbare Gewaltentrennung angegriffen. Ein funktionierender Rechtsstaat basiert auf einer Aufteilung in die gesetzgebende, die vollziehende und die richtende Gewalt. Die Interpretation des Rechts wird in Demokratien unabhängigen Gerichten, der richtenden Gewalt, überlassen. In Polen schanzen allerdings neue Gesetze der Regierungspartei mehr Macht bei der Vergabe der Posten an Höchstgerichten des Landes zu. Wenn sich nun also regierungsnahe Personen in der Rolle der richtenden Gewalt wiederfinden, ist die unabhängige Justiz Geschichte.

Was kann die EU tun?

Die EU verfügt vor einem möglichen Beitritt durch die Kopenhagen-Kriterien über effektivere Mittel, Kandidaten an die Achtung der Europäischen Grundwerte zu binden, als bei bestehenden Mitgliedern. Deshalb sind der EU aber noch lange nicht die Hände gebunden: Gegen Polen und Ungarn laufen derzeit Prozesse gemäß Artikel 7 (siehe unten).

Die Kopenhagen-Kriterien gelten für die Aufnahme neuer Staaten in die EU. Sie werden in das politische Kriterium, das wirtschaftliche Kriterium und die Bedingung der Übernahme des gesamten EU-Rechts unterteilt. Das politische Kriterium setzt sich aus der Wahrung der Menschenrechte, institutioneller Stabilität, demokratischer und rechtsstaatlicher Grundordnung sowie Achtung und Schutz von Minderheiten zusammen.

Alle Mitgliedstaaten werden aus freien Stücken Teil der Union und binden sich somit freiwillig an deren Grundwerte. Beim Beitritt wird darauf vertraut, dass sich alle Mitglieder auch an diese halten. Wenn das nicht der Fall ist, befindet sich die EU schnell in einer unglücklichen Zwickmühle, in der die Union das Verhalten ihrer Mitgliedstaaten nicht mittragen, aber gleichzeitig den betroffenen Staat nicht noch weiter wegstoßen möchte. Daraus ergibt sich das oft zögernde Verhalten der EU, in die innenpolitischen Geschehnisse der Mitgliedstaaten einzugreifen. Die EU scheut davor zurück, eine EU-feindliche Stimmung der Regierung nicht noch zusätzlich anzufachen. Andererseits will und muss die Union zu ihren Werten stehen.

Wenn Mitgliedstaaten gegen europäische Gesetze verstoßen, kann die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten. Das Hauptziel eines solchen Verfahrens ist die Berichtigung der EU-Staaten. In seltenen Fällen führt das bis zur Klage vor dem Europäischen Gerichtshof – Beispiele dafür sind Polen, Ungarn und Tschechien, als diese Länder trotz EU-Beschluss keine Flüchtlinge aufnahmen.

Artikel 7 des Vertrags von Amsterdam bezieht sich dagegen spezifisch auf Verstöße gegen die Grundwerte der EU. Diese sind als „Freiheit, Demokratie, Respekt für Menschenrechte und Grundfreiheiten und den Rechtsstaat“ definiert. Der erste Teil, Artikel 7.1, verlangt die Feststellung einer solchen Grundwerte-Verletzung und gibt dann dem Europäischen Rat, der aus den Regierungschefs der 28 Mitgliedsstaaten besteht, die Möglichkeit, eine formelle Warnung an das betroffene Land zu richten. Wird diese Feststellung erreicht und der betroffene Staat reagiert nicht ausreichend auf die Warnung, können mit Artikel 7.2 Sanktionen verordnet werden. Diese können bis zur Suspendierung des Stimmrechts des Staates führen. Allerdings verlangt Artikel 7.2 hier ein (vom betroffenen Staat abgesehen) einstimmiges Ergebnis, das schwer zu erreichen ist. So hat beispielsweise Ungarn schon angekündigt, in einem Verfahren gegen Polen keine Zustimmung zu geben. Nach einer erfolgreichen Einstimmigkeit in der zweiten Stufe kann mit qualifizierter Mehrheit ein Sanktionsbeschluss erfasst werden. Mögliche Sanktionen sind der Entzug des Anwesenheits- und Rederechts in Gremien und einiges mehr. Ein Ausschluss aus der EU ist allerdings keine mögliche Sanktion.

Grundsätzlich ist jeder Schritt im Verfahren von Artikel 7 an die Erwartung gebunden, das Verhalten des betroffenen Staates werde sich ändern. Durchgehend werden Warnungen geäußert, Fristen gestellt, Raum für Reaktionen des betroffenen Staates gegeben. Daher kann sich so ein Verfahren über Monate, wenn nicht sogar Jahre ziehen. Polen ist der erste Staat, gegen den je ein Verfahren gemäß Artikel 7 eröffnet wurde. Derzeit hält es daran fest, dass die Organisation der Justiz Sache der Mitgliedstaaten sei.