„Freiheit kann
schleichend verloren gehen“

Die Spitzenkandidatin der FDP über ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten, Experten für den Klimaschutz und ihren unerschütterlichen Glauben an das Individuum.

VON DINA KÖRZDÖRFER UND LUCIUS MALTZAN

Der unwahrscheinlichste Ort für ein Treffen mit der Spitzenkandidatin der FDP? Berlin-Neukölln, würde man meinen. Doch ausgerechnet in das (ehemals) verruchte und verrufene Szeneviertel bittet man uns zum Gespräch mit Nicola Beer. Die Liberalen drehen hier in einem kleinen Filmstudio ihren Wahlkampfspot. Auf der Fassade des gegenüberliegenden Hauses werben bunte Banner um finanzielle Unterstützung für eine Hausbesetzung, die Antifa hat ihr Revier mit allerlei Stickern und Graffitis markiert und als Passant begegnet man früher oder später zuverlässig jemandem, der das Viertel nach Unterschriften für die Enteignung einer großen Wohngesellschaft durchkämmt. Wenn sie wüssten…

Der Eingang zum Studio liegt in einem großen Hinterhof, dessen industrieller Charme keine Absicht ist. Der Regisseur ist noch unzufrieden, Beer muss ihre Sätze wieder und wieder aufsagen. Diesmal aber den blauen Blazer bitte, und die Hände aus den Hosentaschen!

Wir treffen sie schließlich nach Drehschluss in der Maske. Ob das Interview auch als Podcast veröffentlicht werde? Wir verneinen wahrheitsgemäß, was sie nicht davon abhält, ihre Sätze so akkurat zu bilden, als würden sie live gesendet. Es wäre ein guter Podcast geworden.

Frau Beer, wie geht es Europa?

Momentan ist die EU in keiner guten Verfassung. Europa könnte es sicherlich besser gehen. Mir tut weh zu sehen, wie die einzelnen Staaten auseinander driften: große und kleine, Nord und Süd, Ost und West. Die großen Errungenschaften des Kontinents – Frieden, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Wohlstand für alle sind aktuell bedroht. Ich will zusammen mit den Freien Demokraten im Europaparlament etwas dagegen tun, weil ich glaube, dass wir Europa durch Reformen wieder gut aufstellen können.

In Ihrem Wahlprogramm heißt es, Europa solle sich in verschiedenen Geschwindigkeiten entwickeln. Haben Sie nicht Angst, dass dadurch neue Gräben in Europa entstünden?

Es stimmt, wir wollen ein Europa der mehreren Geschwindigkeiten. Das bedeutet: Wir nehmen verschiedene Projekte in Angriff, für die sich einzelne Mitgliedsstaaten schon einmal zusammenschließen können, ohne dass wir gleich alle 27 überzeugen müssen. So können diejenigen, die nicht gleich mitmachen wollen, nicht alle anderen aufhalten. Wir haben solche Projekte ja schon: Nehmen Sie den Schengen-Raum oder die Eurozone als Beispiele. Genauso könnten wir zum Beispiel bei der Verteidigung oder bei der Innovationspolitik mit bestimmten Projekten vorangehen. Dabei gilt: Jeder kann jederzeit dazustoßen, und diejenigen, die den Anfang machen, überzeugen hoffentlich auch bald die anderen.

Der Schengen-Raum ist ein Zusammenschluss von 26 europäischen Staaten. Weil alle Schengen-Staaten untereinander auf Grenzkontrollen verzichten, herrscht zwischen ihnen absolute Reisefreiheit. Das Abkommen ist nach dem Luxemburger Dorf benannt, in dessen Nähe sich das Schiff befand, als die Staatschefs bei einer Fahrt über die Mosel den Vertrag unterzeichneten.

Versetzen wir uns aber zum Beispiel in einen jungen Italiener: Wenn er und sein Land nicht mehr teilhaben an europäischen Zukunftsprojekten, wäre die EU dann nicht eine große Enttäuschung für ihn?

Nein, denn es könnte ja jeder von Anfang an dabei sein. Wir wollen ja kein Europa der zwei Geschwindigkeiten: Da hätte ich wirklich Sorge vor einer Spaltung. Bei unserem Vorschlag ist aber jedes Land willkommen, auf Wunsch hinzuzustoßen.

Sie fordern unter anderem einen Konvent bis 2020, der eine europäische Verfassung ausarbeiten soll, eine EU-Armee und eine europäische Außenministerin. Das klingt, als sollte die EU langsam zum vollwertigen Staat werden.

Wir wollen ein föderales, dezentrales Europa. Ich hänge sehr an dem europäischen Motto „Einheit in Vielfalt“. Das bedeutet: Einigkeit in den großen Fragen, aber keine Vereinheitlichung. Gerade die regionale Ebene möchten wir wieder verstärkt zur Geltung kommen lassen. Dafür braucht es aber ein gemeinsames europäisches Bewusstsein, gerade wenn wir in Bereichen wie Außen- oder Verteidigungspolitik voranschreiten wollen. Was könnte uns da besser helfen als eine intensive Diskussion unter den Bürgerinnen und Bürgern über unsere Werte, Prinzipien und Handlungsmaximen?

Föderalismus ist das Prinzip, dass sich eigenständige Glieder zu einem großen Ganzen zusammenschließen und ihre Selbstbestimmungsrechte teilweise wahren. Das Gegenteil ist Zentralismus, wo alle Macht auf einen Punkt konzentriert ist.

Glauben Sie aber wirklich, dass dafür eine Bereitschaft besteht? In ganz Europa haben Bewegungen Zulauf, die jede Form eines europäischen Superstaates vehement ablehnen.

Aber das ist ja genau die Frage, die die Bürgerinnen und Bürger am 26. Mai zu entscheiden haben: Gibt es etwas, was wir wirklich gemeinsam machen wollen? Haben wir bestimmte Politikfelder – Migration, Klima- und Energiepolitik, äußere und innere Sicherheit, Freihandel, innovatives Europa – wo wir gemeinsam stärker sind? Dieses Gemeinsame müssen wir auch auf eine gemeinsame Grundlage stellen: Eine Verfassung, die unseren Wertekompass bildet und unsere Entscheidungen prägt. Gleichzeitig müssen wir das europäische Parlament stärken und die EU-Kommission verkleinern, um Europa grundlegend neu aufzustellen.

Ohne Zweifel hat der Freihandel allen innerhalb Europas und unseren Freihandelspartnern Vorteile und Wohlstand gebracht.

Nun haben Staaten im Allgemeinen aber nicht nur eine Verfassung und ein Parlament, sondern auch eine einheitliche Steuerpolitik und ein gemeinschaftlich organisiertes Sozialsystem. Die FDP lehnt das ausdrücklich ab. Weshalb?

Wir haben in den europäischen Verträgen die Grundlagen festgelegt. Meines Erachtens ist es zum Beispiel nach wie vor besser, wenn man bedürftige Menschen vor Ort unterstützt, bis sie wieder Fuß fassen können. Ich glaube, die europäische Ebene ist da schlicht zu weit weg. Wir machen das in Deutschland ja auch bewusst auf kommunaler Ebene und nicht national. Außerdem wäre es viel zu kompliziert, die sehr unterschiedlichen Systeme zu vereinheitlichen. Genauso befürworte ich den Wettbewerb in der Steuerpolitik, wenn er denn auf eine klare, faire Grundlage gestellt ist. Dazu fordern wir zum Beispiel eine gemeinsame Bemessungsgrundlage bei der Körperschaftsteuer. Aber dann wollen wir einen Wettbewerb der Steuersätze, wie es ihn auch in Deutschland zwischen den verschiedenen Bundesländern gibt, und bloß keine Zentralisierung oder gar ein Recht der EU, direkt Steuern zu erheben.

Der französische Präsident Emmanuel Macron schlug außerdem ein eigenes Budget für die Eurozone vor. Doch auch das stieß bei der FDP auf Ablehnung.

Bislang verwalten die europäische Staaten ihre jeweiligen Haushalte eigenverantwortlich. Ein gemeinsames Budget würde einen kleinen Teil der nationalen Gelder vergemeinschaften und konkreten Projekten in der Eurozone (und möglicherweise darüber hinaus) zukommen lassen.

Aber nicht nur seitens der Freien Demokraten. Der französische Präsident Macron hat damit europaweit bei den Staats- und Regierungschefs bisher keinen wirklichen Rückhalt gefunden. Was wir uns vorstellen können, ist ein gemeinsamer Investitionsfonds, um in den Regionen direkt in Wettbewerbsfähigkeit zu investieren. Aber ein gemeinsamer „Topf“, über den nationale Regierungen jeweils nach Gutdünken verfügen können, hält nur davon ab, die Staatshaushalte wirklich solide zu machen – und das ginge zu Lasten der nächsten Generation.

Der Freihandel, eine weitere Säule des Liberalismus, steht von links wie rechts unter Beschuss. Wie erklären Sie sich das?

Das ist die Wende rückwärts, der Drang zur nationalen Abschottung. Ohne Zweifel hat der Freihandel allen innerhalb Europas und unseren Freihandelspartnern Vorteile und Wohlstand gebracht – ganz gleich, ob es sich um Industrie-, Schwellen- oder Entwicklungsländer handelt. Wir beseitigen Barrieren, indem wir Zölle abschaffen und unsere Standards gegenseitig anerkennen. Gleichzeitig gelingt es uns in Europa, unsere Standards zu exportieren. Die wiederum transportieren aber auch unsere Werte, sei es zu Rechtsstaat, Demokratie, Arbeitsschutz oder Umweltschutz. So ermöglichen wir ein besseres Leben – egal, mit wem wir Handel treiben.

Wenn Sie sich zum Beispiel die Freihandelsabkommen der EU mit afrikanischen Ländern ansehen: Haben diese Deals ausschließlich bessere Lebensbedingungen geschaffen?

Ja, der Freihandel hat den Wohlstand in den Entwicklungsländern gehoben. Es wird sogar vereinzelt zuerst aus einem afrikanischen Staat nach Europa exportiert, um dann aus Europa heraus wieder in ein anderes afrikanisches Land zu importieren, weil man innerhalb Afrikas leider noch keine solche Freihandelszone hat. Das macht natürlich wenig Sinn, aber es zeigt, dass wir uns bemühen sollten, den innerafrikanischen Handel zu erleichtern. Doch ich gebe Ihnen durchaus recht: Gerade bei den älteren Abkommen mit Entwicklungsländern müssen wir prüfen, ob sie aktuell noch fair sind oder wir eine weitere Öffnung brauchen.

Die FDP nimmt für sich in Anspruch, größten Wert auf eine gute Bildungspolitik zu legen. Bei der Europawahl fordern Sie unter anderem eine europaweite „Bildungsfreizügigkeit“. Wird das nach der Jugendgarantie das nächste unerfüllbare Versprechen?

Die Jugendgarantie ist das Versprechen der EU an alle ihre Bürger unter 25 Jahren, in den ersten vier Monaten der Arbeitssuche ein gutes Angebot für eine Arbeitsstelle, eine Ausbildung oder ein Praktikum zu erhalten. Zwar hat das Programm Millionen junger Menschen erreicht – die Jugendarbeitslosigkeit ist vor allem in Südeuropa aber nach wie vor sehr hoch.

Nein, das wollen wir ganz real umsetzen. Wir kennen ja die vier Grundfreiheiten für Personen, Waren, Kapital und Dienstleistungen. Aber es gibt keine europaweite Grundfreiheit für Bildung. Gerade in jungen Jahren und bei der späteren Fort- und Weiterbildung sollten wir dabei viel mehr auf Austausch setzen.

Deswegen möchten wir unbedingt Erasmus+ stärken. Gleichzeitig müssen wir darauf achten, dass nicht nur ein paar Studierende und Gymnasiasten davon profitieren. Ich möchte, dass auch jeder Hauptschüler, jeder Realschüler und jeder Berufsschüler die Chance hat, sechs Monate unabhängig vom Elternhaus im europäischen Ausland zu verbringen. Einmal in Litauen, in Portugal, in Rumänien an der Werkbank gestanden zu haben, das ist unglaublich viel wert! Mehrsprachigkeit ist ebenso wichtig, doch dafür müssen wir jungen Menschen das nötige Selbstbewusstsein vermitteln: „Hey, trau dich, du packst das! Es ist nicht schlimm, wenn du die Sprache am Anfang noch nicht fließend sprichst. Geh hin, du wirst sehen: Du kannst Europa erleben, schmecken, riechen, hören, fühlen.“ Wer das erlebt hat, kommt als völlig veränderter Mensch zurück. Das ist nicht nur persönlich wertvoll, sondern schafft auch ein gemeinsames europäisches Verständnis für andere Kulturen, Lebensweisen und Perspektiven.

Es ist nicht Aufgabe der Politiker, ein Urteil über die Tauglichkeit einer Technologie zu fällen.

Noch mehr als die Bildungspolitik treibt die junge Generation gegenwärtig der Klimaschutz um. Einen „deutschen Alleingang“ beklagt die FDP dabei bei der Energiewende und beim Atomausstieg. Meinen Sie nicht, Deutschland könnte durch seine Vorreiterrolle auch viel Gutes bewirkt haben?

Diese Vorreiterrolle schützt das Klima aber offensichtlich nicht besser. Wir haben zum Beispiel steigende Emissionsraten, geben aber trotzdem viel Steuergeld hierfür aus. Das ist offensichtlich nicht wirkungsgenau. Deutschland vollzieht die vermeintliche Wende derzeit recht alleine und scheint noch keinen der Nachbarstaaten wirklich überzeugt zu haben. Das zeigt doch, dass wir das Klima national nicht schützen können und mindestens europäisch agieren müssten, idealerweise international. Ich trete dafür ein, dass wir  gemeinsame Ziele festlegen, wie beim Pariser Abkommen, und dann technologieoffen an die Umsetzung gehen. Außerdem müssen wir darauf achten, dass Energie nicht nur für alle verfügbar ist, sondern auch für alle bezahlbar bleibt.

Das Pariser Klimaabkommen ist eine Vereinbarung von 196 Staaten, die sich verpflichten, die Erderwärmung gemeinsam „deutlich unter 2 Grad Celsius“ zu halten. Anders als die vorige Vereinbarung, das Kyoto-Protokoll von 1997, schließt es auch Schwellen- und Entwicklungsländer mit ein.

Es würde wahrscheinlich niemand bezweifeln, dass die Frage am allerbesten auf globaler Ebene gelöst wäre. Gleichzeitig ist fraglich, ob eine europäische oder gar eine globale Strategie in naher Zukunft realistisch ist. Könnte es nicht auch wertvolle Zeit vergeuden, darauf zu warten?

Nein, das glaube ich nicht. Es macht ja keinen Sinn, immer wieder immer mehr Geld in falsche Instrumente zu investieren, nur weil sie gerade politisch en vogue sind. Es ist nicht Aufgabe der Politiker, sondern der Ingenieure, der Wissenschaftler und letztlich des Marktes, ein Urteil über die Tauglichkeit einer Technologie zu fällen.  Deswegen unterstütze ich Instrumente wie den europaweiten CO2Zertifikatehandel, den wir dringend auf weitere Sektoren wie Wärme oder Verkehr ausdehnen sollten. So bekommt klimaschädliches Verhalten einen Preis. Das gilt auch für den Kohleausstieg: Es wäre deutlich sinnvoller, mit Steuergeldern Emissionszertifikate aus dem Markt zu kaufen, statt dieses Geld den Kraftwerksbetreibern zu geben. Denn diese bauen die ganze Anlage anderswo in Europa wieder auf, produzieren also weiter dieselben Emissionen und werden dafür auch noch entschädigt. Und zu guter Letzt sollten wir viel mehr global in Klimaschutzmaßnahmen investieren: Das ist viel effektiver als alle Versuche, hierzulande auf den letzten Metern noch umweltfreundlicher zu werden.

Der Handel mit CO2-Zertifikaten funktioniert folgendermaßen: Für jede Tonne CO2, die ein Unternehmen ausstößt, muss es ein Zertifikat besitzen. Wenn es mehr Emissionen produziert, muss es Zertifikate hinzukaufen. Wenn es weniger verbraucht, kann es überschüssige Zertifikate an andere verkaufen. Die Menge der Zertifikate wird von der EU jährlich reduziert, sodass der Preis für Kohlenstoffemissionen allmählich steigt.

Muss man eine Expertin oder ein Experte sein, um sich zum Klimaschutz eine Meinung zu bilden?

Nein. Aber es braucht mehr als das durchschnittliche Wissen eines Politikers, um neue Technologien zu schaffen, die noch wirksamer sind als die jetzigen.

Das bezweifelt ja auch niemand. Viele junge Menschen vermissen aber den politischen Ehrgeiz.

Ich glaube, die Ziele sind schon ehrgeizig. Nehmen Sie das Pariser Klimaschutzabkommen! Wichtig wäre es aber, in Europa gemeinsam aufzutreten und auch anderswo die Modernisierung zu unterstützen. Das bringt dem weltweiten Klima mehr, als wenn Deutschland allein den Musterschüler spielt.

Letztendlich glaube ich, dass man Menschen nicht aufhalten kann, die sich vorgenommen haben, ihr Glück fern der Heimat zu suchen.

Themawechsel: Migration. Sie betonen oft den Unterschied zwischen Flucht mit Anspruch auf Asyl und andersartiger Migration. Auch das Dublin-Abkommen wollen Sie ersetzen. Wenn wir uns das jetzt verbildlichen: Ein Migrant kommt an der italienischen Küste an. Was passiert mit ihm, wer ist zuständig?

Das Dublin-Abkommen legt fest, dass dasjenige europäische Land für einen Asylantrag zuständig ist, das ein Asylbewerber als erstes betreten hat. In der Praxis sind das in den meisten Fällen Italien oder Griechenland.

Ich möchte schon verhindern, dass jemand erst einen Schlepper bezahlen muss, in ein Boot steigt und sich auf die gefährliche Überfahrt macht. Wir brauchen ein klares System, das zwischen drei Dingen unterscheidet: Asyl, also individuelle politische oder religiöse Verfolgung – zum Beispiel ein Menschenrechtler, der nach Deutschland flieht, weil er zuhause verfolgt wird; Kriegsflüchtlinge, die ein Recht auf befristete Aufnahme haben; und wirtschaftliche Zuwanderung, die nach einem Punktesystem ablaufen sollte. Solch ein System mit klaren Kriterien und Regeln könnte auch aus den Herkunfts- und Transitländern betrieben werden und würde die Verfahren für echte Asylanten und Kriegsflüchtlinge entlasten. Denn mit dem Punktesystem schaffen wir eine legale Einreisemöglichkeit für die große Gruppe derer, die sagen: „Also politisch verfolgt bin ich nicht, aber bislang war das mein einziges Törchen nach Europa. Wenn ich aber meine Qualifizierung unter Beweis stellen könnte, dann versuche ich es lieber auf sicherem Wege.“ Auch Menschen, die noch keinen garantierten Arbeitsvertrag im Ankunftsland haben, sollen dann kommen können, solange sie während der Jobsuche  keine Sozialleistungen in Anspruch nehmen. Keine der drei Gruppen müsste dann noch einen Schlepper finanzieren.

Stichwort qualifizierte Einwanderung: Europa würde natürlich enorm davon profitieren, sich weltweit die besten Bewerber herauszupicken. Könnte dieses System die Not in manchen Herkunftsländern nicht weiter verschärfen?

Es soll ja nicht das Einzige bleiben, was Europa tut. Wir wollen auch mit der Entwicklungszusammenarbeit vor Ort Perspektiven und Chancen schaffen. Außerdem ist es nicht ausgeschlossen, dass sich positive Effekte für die Herkunftsregionen ergeben: Wer hier Erfahrungen sammelt und Erfolg hat, könnte danach auch wieder etwas im Heimatland auf die Beine stellen. Letztendlich glaube ich, dass man Menschen nicht aufhalten kann, die sich vorgenommen haben, ihr Glück fern der Heimat zu suchen. Wir müssen daher auf beiden Seiten agieren: Zum einen die Entwicklungsperspektiven in den Herkunftsländern steigern, zum anderen die Möglichkeit bieten, sich hier etwas aufzubauen – sei es, um dauerhaft zu bleiben, sei es, um ins Heimatland zurückzukehren.

Sind Sie sicher, dass unser wirtschaftliches Eigeninteresse mit einem international fairen Verhalten zusammenfällt?

Ich bin mir sicher, dass ansonsten der ungeordnete und ungesteuerte Zustand anhält, den wir momentan haben. Das hat ja auch sehr inhumane Ergebnisse: eine Schlepperindustrie, Not auf dem Mittelmeer, überlange Verfahren und viel Enttäuschung und Leid. Weil wir keine wirtschaftliche Zuwanderung zulassen, werden am Ende sehr viele wieder weggeschickt. Das sind aber häufig die Falschen! Oft haben genau diejenigen schon angefangen, sich in dieser langen Wartezeit zu integrieren. Demgegenüber sind diejenigen, die sich nicht an die Regeln halten, abgetaucht sind oder kriminell werden, oft noch im Lande. Dieses System ist unfair gegenüber allen Arten von Zuwanderern und der hiesigen Bevölkerung nicht mehr zu vermitteln.

Gibt es Grenzen des Wachstums?

Es kommt darauf an, wie man Wachstum gestaltet. Wir wollen Wachstum ökologisch, ausgewogen und nachhaltig erwirtschaften. Dann brauchen wir diesem Wachstum auch keine Grenzen zu setzen.

Und Sie sehen keine Anzeichen, dass wir möglichen ökologischen Grenzen nahekommen?

Es kommt wie gesagt darauf an, wie wir dieses Wachstum gestalten. Über neue Technologien können wir Fortschritte machen, die uns ermöglichen, Wachstum zu kreieren und gleichzeitig die Umwelt zu schützen.

Die Gesellschaft hat ein Anrecht darauf, dass man sich nicht auf staatlicher Hilfe ausruht und rasch wieder auf eigene Beine kommt.

Der Liberalismus steht noch vor einer anderen Herausforderung: In der Popularität von Vorschlägen wie dem bedingungslosen Grundeinkommen zeigt sich, dass der liberale Leistungsgedanke an Unterstützung verliert. Beobachten Sie auch, dass viele des Denkens in den Begriffen Wettbewerb, Effizienz, Wachstum, Leistung oder Fortschritt überdrüssig sind?

Das bedingungslose Grundeinkommen bezeichnet die Idee, dass jeder Bürger einen festen monatlichen Betrag vom Staat erhalten sollte – ungeachtet aller Umstände. Befürworter behaupten, dadurch würden die Menschen unabhängiger und die Gesellschaft als Ganze lebendiger. Die Finanzierung gilt als schwierig.

Nein, ich erlebe unglaublich viele hochmotivierte Menschen jeden Alters, aber vor allem junge Leute, die Lust auf Gestaltung und Veränderung haben. Das ist die Antriebsfeder jeder Gesellschaft. Mein Ziel ist es, Menschen zu befähigen, ihre Talente und Potentiale zu nutzen. Denn wenn man Menschen stark macht und ihnen zeigt, dass sie die Möglichkeit haben, selbstständig etwas zu erreichen, dann setzt das ungeheuer viel Energie, Kreativität und Tatendrang frei. Schließlich geht es um zwei Dinge: Aus eigener Kraft erfolgreich zu sein und sich verantwortungsvoll für sein Umfeld und seine Nächsten einzusetzen – so verstehe ich mündige Bürgerinnen und Bürger. Das ermöglicht eine innovative, kreative und offene Gesellschaft, so wie ich sie mir wünsche.

Tatendrang, Kreativität, Energie… Andere erleben eher die Schattenseiten dieser Gesellschaft: Leistungsdruck, Konkurrenzkampf, Selbstbezogenheit. Kann der Liberalismus in seiner Extremform eine Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt sein?

Es kommt darauf an, wie man es organisiert. Es wäre dann gefährlich, wenn wir nicht auch ein Sozialsystem hätten. Die Soziale Marktwirtschaft soll ja dafür sorgen, dass die Gesellschaft jemandem auf die Beine hilft, wenn er sich einmal nicht mehr selber helfen kann – ob durch eigenes Verschulden oder nicht. Andererseits hat die gesamte Gesellschaft auch ein Anrecht darauf, dass man sich nicht auf dieser Hilfe ausruht und rasch wieder auf eigene Beine kommt.

Die Soziale Marktwirtschaft bezeichnet eine Wirtschaftspolitik, die mit staatlichen Eingriffen den freien Wettbewerb in Einklang mit dem sozialen Ausgleich bringen will. Seit vielen Jahrzehnten leitet dieses Prinzip das Handeln deutscher und österreichischer Regierungen.

Ist das in unserem gegenwärtigen Wirtschaftssystem schon ausgereizt? Oder sollte man den liberalen Individualismus noch weitertreiben?

Derzeit haben wir ein gutes Sicherheitsnetz aufgespannt. Es gibt aber durchaus noch Bereiche, wo man den Anspruch noch ein bisschen erhöhen kann, sich nicht auf den Lorbeeren anderer auszuruhen. Außerdem müssen wir viel mehr in Qualifizierung investieren, damit Menschen während ihres Berufslebens mehrmals die Tätigkeit wechseln können. Wir sehen ja, dass die Veränderungen am Arbeitsmarkt getrieben durch die Digitalisierung immer schneller und häufiger werden. Das bedeutet auch für den Einzelnen, sich darauf einstellen zu müssen, dass eine Ausbildung oder ein abgeschlossenes Studium nicht mehr für 40 oder 45 Jahre Erwerbstätigkeit reichen.

Nicht alle können sich für diese raschen Veränderungen wappnen. Ist die ständige Beschleunigung ein Mitgrund für die neuen Unsicherheiten über die eigene Identität, Globalisierungsskepsis, Heimatlosigkeit und Entwurzelung?

Man kann dieser Gefahr sehr wirksam begegnen. Es sollte nicht mehr darauf ankommen, ob ich mir Bildung leisten kann. Stattdessen müssen wir ein zweites Bildungssystem des lebenslangen Lernens einrichten, das jedem die Chance auf neue Qualifizierungen bietet. Das könnte zum Beispiel über die Arbeitgeber geschehen. Auch ein steuerlich begünstigtes  System des Bildungssparens wäre eine Möglichkeit. Warum bezuschussen wir das Bausparen, aber nicht das Bildungssparen? Wir stellen uns da Lebensarbeitszeitkonten vor: Da kann man Überstunden oder Urlaubstage investieren, um sich dann einen Auslandsaufenthalt oder eine Weiterbildung leisten zu können. Auch vermögensbildende Leistungen des Arbeitgebers oder Steuervergünstigungen würden helfen.

Vermögensbildung, Steuersenkungen, Auslandsaufenthalte… Letztlich betrifft das aber nur einen gewissen Teil der Gesellschaft.

Nein, ich will damit eben alle erreichen! Und wenn ich zeige, dass ich meines Glückes Schmied bin, dann sehen auch Arbeitgeber: Aha, es lohnt sich, in meine Mitarbeiter zu investieren, weil sie in fünf Jahren schon eine ganz andere Aufgabe in meinem Unternehmen ausführen werden.

Durch Bevormundung und staatliche Eingriffe kann Freiheit schleichend verloren gehen.

Haben Sie Verständnis für jemanden, der 45 Jahre alt ist, in zwei befristeten Teilzeitverträgen steckt, zwei Kinder großzieht und der Zukunft nicht mit diesem Optimismus entgegensieht?

Sicher. Aber ich würde jederzeit mit dieser Person darüber diskutieren, dass sie am besten über Qualifizierung und Fortbildung aus ihrer Lage herauskommt.

Das könnte sie?

Das könnte sie, weil ich daran glaube, dass jeder Mensch Potential hat.

Der Liberalismus in seiner jetzigen Form scheint von innen wie außen bedroht. Wie erklären Sie sich das, was Sie vorhin eine „Wende rückwärts“ genannt haben? Weshalb können so viele Menschen dem Liberalismus nichts mehr abgewinnen?

Das hängt zum einen damit zusammen, dass Menschen das Gefühl haben, von der steigenden Komplexität großer Fragestellungen überfordert zu sein. Der neue Reichtum von Informationen kann auch zu einer Informationsflut werden. Dadurch haben manche den Eindruck, nicht mehr sicher unterscheiden zu können zwischen dem Wahren und dem Falschen oder falsch Dargestellten. Das verunsichert manche Menschen und spielt ihnen vor, man könnte den Problemen in einem nationalen Rahmen besser begegnen. Gleichzeitig surfen Populisten von rechts wie links, die diese Nationalstaatlichkeit predigen, sehr geschickt auf einer Welle, wenn sie sich ereifern, dass wir in Europa viel reden und selten handeln. Das möchte ich ändern, ich will diese Leute widerlegen. Denn es gibt Themen, wo dieses Europa besser gemeinsam handeln kann – über eine ganze Reihe haben wir heute schon gesprochen. Und dann will ich ermöglichen, dass in diesen Bereichen nicht nur diskutiert, sondern auch geliefert wird. Wenn wir Entscheidungen zügiger fassen, können die Menschen die Vorzüge Europas täglich erleben.

Schafft der Liberalismus sich selbst ab?

Nein, auf gar keinen Fall! Es gibt jeden Tag Anlässe, für Freiheit, Fortschritt und Frieden einzutreten. Gerade Freiheit kann schleichend verloren gehen durch Bevormundung und durch staatliche Eingriffe. Man muss sich immer wieder bewusst machen, dass man für diese Freiheiten kämpfen muss.