„Ich mache nicht Politik,
um einen besseren Menschen zu bekommen.“

Die europapolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag über wohlverstandenes Eigeninteresse, faire Einwanderung und ihr Verständnis von Freiheit.

VON LUCIUS MALTZAN UND JULIA ELISE SCHMIDT

Okay, zugegeben: Wir haben geschummelt. Franziska Brantner ist nicht Spitzenkandidatin der Grünen für die Europawahl. Das sind Ska Keller und Sven Giegold. Dafür ist Brantner europapolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag und ein fachlich gleichwertiger Ersatz: Sie kommt aus der deutsch-französischen Grenzregion, hat über die Vereinten Nationen promoviert und viel Erfahrung auf dem internationalen Parkett.

Wir besuchen sie in ihrem aufgeräumten Abgeordnetenbüro in Berlin, wo uns – wie könnte es anders sein? – ein französischer Praktikant in Empfang nimmt. Wenig später trifft Brantner ein. Wir beginnen ohne weitere Umschweife.

Frau Brantner, wie geht es Europa?

Ich glaube, dass es Europa eigentlich besser geht, als viele es wahrnehmen. Europa ist immer schwierig und kompliziert, im Grunde ist es ja eine riesige Kompromissfindungsmaschine. Europa wurde ja nicht geschaffen, weil sich alle lieb haben, sondern weil es immer Konflikte und unterschiedliche Interessen gab und man nach Jahrhunderten der Kriege gemerkt hat: Es ist vielleicht besser, wir tragen diese Konflikte friedlich aus. Aber das Versprechen lautete nie, dass es einfach wird. Ich glaube, das ist vielen nicht mehr so bewusst. Es wäre daher falsch, zu versprechen, dass Europa irgendwann einfach wird oder unkompliziert oder schnell. Was mir aber Sorgen macht, ist, dass mehr und mehr Parteien und Regierungen wieder dafür werben, den europäischen Ausgleich als Nullsummenspiel zu betrachten: Du gewinnst, ich verliere, so à la Trump. Die Überzeugung, dass jeder einmal nimmt, ein anderes Mal gibt und man am Ende weiter vorankommt, erodiert dagegen langsam. Das ist die besorgniserregende Entwicklung in Europa: das um sich greifende Nationale und der fehlende Glaube, dass wir gemeinsam alle gewinnen können.

Sehen Sie denn eine Grundlage für einen solchen europäischen Gemeinsinn?

Für Zusammenarbeit gibt es immer eine Grundlage. Ich sage immer: Es ist unser wohlverstandenes Eigeninteresse. Gemeint ist ja nicht: „Wir sind alle die moralisch Besseren und deswegen machen wir das.“ Nein, es ist in unserem eigenen Interesse! Wenn es uns jetzt zum Beispiel nicht gelingt, uns bei der Digitalisierung europäisch zu koordinieren, dann werden wir eben amerikanisch oder chinesisch digitalisiert – und das ist ja langfristig nicht im deutschen Interesse. Wir müssen wieder begreifen, dass wir nur gemeinsam überhaupt handlungsfähig sind.

Ich glaube nicht, dass die Nationalstaaten ausgedient haben oder in naher Zukunft hinfällig werden.

Bei der Digitalisierung würden wenige in Abrede stellen, dass es europäischen Handlungsbedarf gibt. Die Grünen wollen aber weiter gehen: Sie wünschen sich eine Sozialunion, eine Arbeitslosenversicherung, ein Eurozonenbudget, einen größeren EU-Haushalt und Einiges mehr. Müssen wir als Deutsche für die europäische Solidarität auch finanzielle Opfer bringen?

Opfer bringt hier überhaupt gar niemand. Erst einmal finde ich es wichtig, die Dimensionen klarzustellen: Der europäische Haushalt beträgt derzeit 1% des europäischen Bruttoinlandsprodukts. Wir diskutieren ohne jegliche Schwierigkeit darüber, 2% des BIP für die Verteidigung auszugeben, weil die NATO es so will – immer mit der Begründung, wir würden so den Frieden auf dem Kontinent erhalten.

BIP bezeichnet das Bruttoinlandsprodukt, eine Kennzahl für die wirtschaftliche Gesamtleistung eines Landes. Die Staaten der NATO europäisch-amerikanischen Verteidigungsbündnis, haben zugesagt, ihre Ausgaben bis 2024 auf 2% des BIP zu erhöhen. In Deutschland wäre das eine Erhöhung von 45 Milliarden auf 60 Milliarden Euro jährlich.

Europa hat mit dem Frieden auf dem Kontinent aber auch sehr viel zu tun. Ich möchte einfach mal den Rahmen abstecken, denn viele Leute haben immer das Gefühl, es würden wesentlich mehr Gelder in die EU fließen als beispielsweise in die Verteidigung. Aber zum Konkreten: Wir wollen ja eine gemeinsame Investitionsunion. Unser Ziel ist es, gemeinsame europäische öffentliche Güter zu definieren. Das umfasst etwa die Digitalisierung, Grenzkontrollen, Verteidigung, eine gemeinsame Strategie für den Klimaschutz und so weiter. Diese Güter wollen wir dann gemeinsam finanzieren, indem wir die nationalen Gelder umleiten, wie man das in anderen Bereichen auch gemacht hat. Das ist eben keine Transferunion und kein Opfer für uns. Wir schreiben ja keinen Scheck und schicken ihn von Berlin nach Athen, sondern nehmen gemeinsam Geld in die Hand, damit wir unsere Ziele zusammen erreichen. Beim Eurozonenbudget lautete der Vorschlag beispielsweise, Gelder aus einer europaweit angeglichenen Unternehmenssteuer zu verwenden, womit wir gleichzeitig gegen Steuervermeidung vorgehen würden. Wir schlagen also zwei Fliegen mit einer Klappe. Wenn wir uns ernsthaft mit dem Vorschlag beschäftigen, sehen wir, dass es eigentlich nur Gewinner gibt.

Welche Aufgaben sind denn Ihrer Meinung nach besser bei den Nationalstaaten aufgehoben?

Wir sollten nicht festlegen, dass die eine oder die andere Ebene eine Aufgabe alleine übernimmt. Es geht eher darum, dass die Ebenen gut ineinandergreifen und dass transparent bleibt, wer für welche Entscheidungen verantwortlich ist. Im deutschen Föderalismus hat man zum Beispiel gesagt: Ihr dürft auf gar keinen Fall Bildung machen! Und dann hat man nach Jahren gemerkt, dass das doch nicht so sinnvoll war. Deshalb würde ich kaum sagen, dass es Themen gibt –  vom Handel oder der Meerespolitik vielleicht abgesehen –, die wir vollständig an die EU abgeben sollten. Trotzdem gibt es noch viele Bereiche, in denen wir sinnvoll zusammenarbeiten könnten.

Föderalismus ist das Prinzip, dass sich einzelne Glieder zu einem großen Ganzen zusammenschließen, dabei aber ihre Eigenständigkeit teilweise wahren. In Deutschland zum Beispiel ist die Bildungs- und Kulturpolitik laut Grundgesetz Sache der Bundesländer.

Großen Wert legen Sie außerdem auf die Rolle der Regionen und Kommunen. Könnten Sie sich langfristig eine starke EU mit vielen regionalen Einheiten vorstellen, in der die Nationalstaaten verschwinden?

Ich glaube nicht, dass die Nationalstaaten ausgedient haben oder in naher Zukunft hinfällig werden. Sie sind nach wie vor ein wichtiger Bezugsrahmen für die Bürgerinnen und Bürger und unsere ganze Organisation. Aber es stimmt: Wir setzen immer stark auf Kommunen und Regionen. Ich bin der festen Überzeugung, dass das Kommunale und das Regionale für die Menschen sehr wichtig bei der Frage ist, wo man sich zuhause fühlt. Daher müssen wir sicherstellen, dass wir funktionsfähige, lebenswürdige Regionen haben. Europa spielt da eine wichtige Rolle, etwa bei der Frage der Finanzen: Wie können wir kreative Steuergestaltung beenden, damit Kommunen in Zukunft überhaupt noch Einnahmen haben? Wie können wir sie in ihrer Handlungsfähigkeit stärken? Ich bin außerdem eine Verfechterin davon, das Ziel der EU eher wieder von unten zu definieren. Wir sollten die EU-Grundrechtecharta daher für alle Gesetze auf allen Ebenen verbindlich machen. Das ist ein wunderbares Dokument, da stehen tolle politische, soziale und ökologische Rechte drin. Jeder Staat, jede Region und jede Kommune wäre dann in der Pflicht, diese Rechte zur Geltung zu bringen. Wo Hilfe von europäischer Seite nötig ist, soll sie kommen. Aber erstmal sind die unteren Ebenen dafür zuständig.

Die EU-Grundrechtecharta muss von allen Mitgliedsstaaten der EU eingehalten werden. Sie definiert grundlegende Rechte in den Bereichen Menschenwürde, Gleichheit, Freiheit, Demokratie, Rechtsstaat und anderem und geht darin teilweise weiter als das deutsche Grundgesetz. So enthält sie zum Beispiel ein Recht auf Bildung, auf gute Verwaltung und auf Datenschutz.

Es ist ja nicht so, dass die Umweltverschmutzung nicht ohnehin ihre Kosten hätte – sie zahlen halt nur andere.

Ist die EU zu bürokratisch?

Die EU ist nur so bürokratisch wie die Gesetze, die die Mitgliedsstaaten und das europäische Parlament beschließen. An sich ist die EU eine Ebene, die 28 Bürokratien durch eine ersetzt und reduziert daher erstmal Bürokratie. Beim Brexit merken die Briten jetzt auf einmal, dass sie lauter nationale Behörden wieder aufbauen müssen und dass es zum Beispiel doch ganz praktisch war, eine einzige Lebensmittelbehörde für alle zu haben. Und wenn es doch mal mehr Bürokratie gibt, liegt das nicht an der EU an sich, sondern an den Mitgliedsstaaten und der Mehrheit im Parlament. In Einzelfällen kann man aber bestimmt etwas ändern.

Sie sehen also nicht die Gefahr, dass die EU den Anschein einer Technokratie erwecken könnte?

Eine Technokratie ist eine Form der Regierung, in der ausschließlich wissenschaftliche Erkenntnisse und technische Erwägungen die Politik gestalten. Da das gemeinhin als undemokratisch gilt, wird der Begriff oft abwertend verwendet.

Nein, denn die europäische Ebene ermöglicht politisches Handeln überhaupt erst und nimmt es heraus aus irgendwelchen technokratischen Zirkeln. Natürlich gefallen mir nicht immer alle europäischen Entscheidungen. Mir gefallen auch nicht alle Entscheidungen der Bundesregierung oder der bayerischen Landesregierung. Die EU ist für mich einfach eine weitere Ebene des politischen Handelns, die ich für notwendig halte, und dann kommt es auf die politischen Mehrheiten an. Ein anderes Beispiel: Wir kritisieren den Scheuer (Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer von der CSU, d. Red.) fast stündlich für seine Nicht-Verkehrspolitik, aber keiner von uns käme auf die Idee, deswegen die Abschaffung des Verkehrsministeriums zu fordern. Wir würden an seiner Stelle allerdings Vieles anders machen. Und so muss man es auch mit der europäischen Ebene sehen.

Eines der Themen, die Sie anders angehen würden, wäre mit Sicherheit die Umweltpolitik. Wäre es denn schlimm, wenn wir zugunsten einer umweltverträglicheren Wirtschaft höhere Preise für unseren jetzigen Lebensstil bezahlen müssten?

Das führt ja zur Frage nach der CO2-Besteuerung: Die würde bewirken, dass Produkte ihre wirklichen Kosten widerspiegeln. Denn es ist ja nicht so, dass die Umweltverschmutzung nicht ohnehin ihre Kosten hätte – sie zahlen halt nur andere. Wir sind für eine CO2-Bepreisung bei gleichzeitigem sozialem Ausgleich. Wir nennen es das „Bürgerenergieeinkommen“. Das ist die Idee, dass man pro Kopf eine Pauschale auszahlt und dadurch einen sozialen Ausgleich schafft. Von daher wollen wir umweltschädliche Produkte höher besteuern, aber es darf nicht zu einer ungleichen sozialen Belastung führen.

Sollten wir uns darauf einstellen, dass wir unsere Lebensgewohnheiten grundlegend ändern müssen?

Nein, denn häufig bedeutet das ja gar keinen Komfortverlust. Die EU-Kommission hat zum Beispiel kürzlich angesichts der Plastikpest gesagt: Wir verbieten die Produkte, die wir schon heute mit anderen Rohstoffen weniger schädlich produzieren können. Es ist ja kein Komfortverlust, wenn mein Strohhalm in der Fanta aus Bambus statt aus Plastik ist, sondern einfach weniger umweltbelastend. Und ein Tier, das gut gelebt hat, schmeckt meist auch besser. Aber ich bin der festen Überzeugung, dass wir spätestens in ein paar Jahrzehnten harte Komfortverluste erleben werden, wenn wir jetzt nicht handeln und der Klimawandel richtig zuschlägt. Deswegen hilft alles, was wir jetzt tun, spätere Verluste zu vermeiden.

Unsere Hilfe in anderen Ländern ersetzt nicht, dass wir bei uns vor Ort das Klima schützen müssen.

Es hat aber auch unbequeme Folgen, umweltschädliches Verhalten zu verteuern: Viele könnten zum Beispiel in den Ferien nicht mehr wie gewohnt in die Türkei fliegen, sondern würden mit dem Zug in die Mecklenburger Seenplatte fahren. Warum sagen Sie das nicht offen?

Ich will das ja gar nicht. Solches Verhalten muss bloß den Preis widerspiegeln, den es tatsächlich hat. Vor allem wollen wir aber andere Verkehrswege ausbauen. Früher gab es Nachtzüge in die Türkei – warum gibt es die eigentlich heute nicht mehr? Wie ist es möglich, dass man in Frankreich mit der Bahn in zwei Stunden von Paris nach Marseille kommt, wir aber zum Beispiel von Berlin nach Freiburg sieben Stunden Zug fahren? Vielleicht entwickeln wir ganz andere Arten von Flugzeugen mit anderen Treibstoffen – who knows? Mein Ziel ist nicht, dass alle nur noch in Mecklenburg-Vorpommern Urlaub machen, wo es übrigens sehr schön ist, sondern eine neue, umweltfreundliche Mobilität voranzutreiben. Dann wäre da noch die Forderung nach einer Kerosinsteuer: Warum ist denn Flugbenzin überhaupt nicht besteuert? Warum zahlen wir das als Bürger indirekt alle mit, ob man fliegt oder nicht? Das ist auch nicht besonders gerecht. Ich mache nicht Politik, um einen besseren Menschen zu bekommen, sondern um einen Ordnungsrahmen zu geben, der uns allen ermöglicht, unsere Lebensgrundlagen zu schützen.

Wäre das Geld, das wir hierzulande in den Klimaschutz investieren, nicht andernorts effizienter angelegt? Indien zum Beispiel plant den Bau hunderter neuer Kohlekraftwerke.

Das ist ja kein Entweder-oder. Zum Glück ist das Pariser Klimaschutzabkommen ein internationales Abkommen – bis auf die USA zumindest, die sind ja wieder ausgestiegen. Aber natürlich muss sich auch in Indien und China etwas bewegen, und das passiert ja auch. China und auch Indien setzen zunehmend auf erneuerbare Energien. Wir können da nur mit gutem Beispiel vorangehen und tun, was hierzulande möglich ist. Natürlich können wir diesen Prozess in anderen Ländern auch finanziell unterstützen: Die Weltbank sollte Entwicklungshilfe zum Beispiel nicht mehr in Projekte mit fossilen Rohstoffen stecken, sondern erneuerbare Energien fördern. Aber das ersetzt nicht, dass wir bei uns vor Ort handeln müssen.

Ob beim Klimaschutz, der Sozialpolitik oder der Infrastruktur – Sie wünschen sich insgesamt mehr Investitionen. Würden Sie in Kauf nehmen, dass Deutschland dafür mehr Schulden aufnähme?

Bei den Schulden stellt sich ja immer die Frage: Wann und für was macht es Sinn, Schulden zu machen? Schulden sind ja per se immer eine Belastung für die nächsten Generationen und deswegen erstmal sehr kritisch zu betrachten. Denn wenn man sich heute verschuldet, muss das ja irgendwann mal jemand zurückzahlen. Das Gegenteil ist, gar keine Schulden zu machen und sich lieber in die nächste Krise zu sparen – das ist für die nächste Generation auch nicht lustig. Das haben etwa die Italiener sehr hart zu spüren bekommen. Das sind die zwei Extreme, die beide nicht begrüßenswert sind. Deswegen muss man sich immer sehr klug überlegen, wann Schulden Sinn machen. Momentan hat Deutschland sehr hohe Einnahmen und Ausgaben, da würden wir eher andere Prioritäten setzen. Aber wenn wir in eine Krise kommen sollten und die Wirtschaft alleine offensichtlich nicht wieder herauskommt, sollten wir durchaus sinnvolle öffentliche Investitionen – in Bildung, Forschung und Innovation zum Beispiel – tätigen. An sich ist es aber selbstverständlich kein Selbstzweck, Schulden zu machen.

Es ist nicht fair, dass afrikanische Länder für die Ausbildung bezahlen und die Fachkräfte dann hierherkommen.

Auch die Migrationsdebatte wird uns noch sehr lange begleiten. Haben die Grünen denn eine langfristige Strategie, mit Migration umzugehen?

Erstmal müssen wir natürlich festhalten, warum Menschen ihre Heimat verlassen. Die einen fliehen vor Krieg, die anderen vor Hunger, wieder andere vor politischer Unterdrückung – um nur einige Gründe zu nennen. Wenn wir die Sache grundsätzlich angehen möchten, sollten wir uns zuerst fragen, wo Europa einen größeren Beitrag zum Frieden leisten könnte und mit welchen Diktatoren man sich vielleicht nicht täglich einlassen sollte. Dann müssen wir auch bereit sein, unsere Handelspolitik und unsere Fischereipolitik dahingehend zu ändern, dass andere Länder überhaupt eine Chance haben, aufzusteigen. Ein klassisches, wahres Beispiel: das Fischereiabkommen mit dem Senegal, durch das europäische Firmen vor Westafrika die Meere leerfischen. Da muss man sich auch nicht wundern, wenn die Leute an der Küste nichts mehr haben, wovon sie leben können, und das Land verlassen. Und dann ist da noch die Klimakrise: Die Vereinten Nationen schätzen, dass es über 100 Mio. Klimaflüchtlinge geben wird, wenn wir es nicht schaffen, den Klimawandel aufzuhalten. Die meisten davon werden niemals nach Europa kommen und innerhalb Afrikas fliehen. Wenn man Migration und Flucht also langfristig angehen möchte, ist Klimaschutz eine der zentralen Aufgaben. Die zweite Aufgabe ist, mit denjenigen umzugehen, die jetzt schon unterwegs sind. Bedauerlicherweise stand die deutsche Regierung da über Jahre auf der Bremse. Bis Juni 2015 hat Frau Merkel den Italienern immer wieder gesagt: Nein danke, wir wollen keinen Verteilungsmechanismus in Europa. Und im August 2015 hat man dann gemerkt: Ach, es wäre übrigens gut gewesen, wir hätten einen Verteilungsmechanismus eingeführt. Das kommt davon, wenn man keine langfristige Politik macht. Aktuell wollen wir von den Osteuropäern, dass sie sich stärker am Umgang mit Geflüchteten beteiligen, während sie uns bitten, Nord Stream 2 nicht zu bauen, darin aber von der Bundesregierung ignoriert werden. Solidarität ist eben keine Einbahnstraße.

Nord Stream 2 ist eine geplante Pipeline durch die Ostsee, die Erdgas aus Russland direkt nach Deutschland bringen soll, damit Deutschland sicheren Zugang zu Energie aus verschiedenen Quellen hat. Kritiker fürchten, dass sich Deutschland dadurch zu sehr in russische Abhängigkeit begibt. Außerdem würden osteuropäische Staaten Milliarden verlieren, die sie heute als Gebühren für Gastleitungen durch ihr Staatsgebiet einnehmen.

Welche Möglichkeiten sollen nun beispielsweise einer jungen Senegalesin, die keinen Anspruch auf Asyl hat, offenstehen, um nach Europa einzuwandern?

Wer Anspruch auf Asyl hat, ist ja auf europäischer Ebene eindeutig geklärt, und auch in unserem Grundgesetz verankert. Für alle anderen haben wir in Europa bereits ein Einwanderungsrecht für Hochqualifizierte, sogenannte Blue Cards. Aber wir haben noch nicht einmal in Deutschland ein Einwanderungsgesetz für Personen, die niedriger qualifiziert sind und hier eine Ausbildung machen wollen. Wir Grünen fordern das seit Jahrzehnten. Aber natürlich würde es Sinn machen, europaweit ein gemeinsames Verfahren einzuführen. Es ist ja auch nicht fair, dass die afrikanischen Länder die Ausbildung bezahlen und die Fachkräfte dann hierherkommen. Daher wäre es wichtig, dass man die Möglichkeit eröffnet, bei uns eine Ausbildung, in der Pflege zum Beispiel, oder ein Studium anzufangen.

Blue Cards sind eine Aufenthaltserlaubnis für hochqualifizierte Einwanderer. Für eine Einreise nach Deutschland muss man dafür nachweisen, dass man mindestens 53.000 Euro brutto im Jahr verdienen wird.

Aber ganz konkret: Nach welchen Kriterien soll dann ausgewählt werden? Wohin soll sich besagte Senegalesin wenden, um eine bessere Chance auf Einreise zu haben als mit einer lebensgefährlichen Fahrt über das Mittelmeer?

Wenn sie nicht hochqualifiziert ist, bieten einzelne Länder in Europa schon Möglichkeiten. In Deutschland haben wir das leider noch nicht umfassend geregelt. Es gibt kleinere Vereinbarungen, zum Beispiel mit den Balkanstaaten bezüglich der Pflege – nach diesem Prinzip stellen wir uns das vor. Es geht immer um die Berufe, in denen das jeweilige Land Bedarf hat, und es kann natürlich nicht jeder einfach so kommen. Wir stellen uns das nach dem kanadischen Punktesystem vor, wo unter anderem einfließt, ob man die Sprache kann, welche Skills man hat, in welchen Bereich man möchte und ob es Verwandte im Land gibt. Diese Kriterien kann man dann unterschiedlich gewichten. Das kann dann auch bedeuten, dass die Frau im Senegal trotzdem nicht kommen kann, weil sie die Kriterien nicht erfüllt. Aber wenn sie Anrecht auf Asyl hat, sollte sie das in jedem Fall bekommen! Da haben wir derzeit kaum legale Wege. Wir brauchen zum Beispiel mehr humanitäre Visa über die Botschaften, damit man sich nicht mehr über das Meer auf den Weg machen muss. Außerdem möchten wir uns stärker an Kontingenten der UNO beteiligen, sodass die UNO aus ihren Lagern heraus diejenigen, die am dringendsten Schutz benötigen, bestimmen kann. Das ist ein uraltes Verfahren, und da könnten wir noch mehr machen.

Die Vereinten Nationen (engl. „United Nations Organisation“, kurz UNO oder UN) sind eine internationale Organisation, der sich fast alle Staaten der Welt angeschlossen haben. Sie verpflichten sich der friedlichen Zusammenarbeit, unter anderem auch im Umgang mit Flucht und Migration. So hat die UNO zum Beispiel Flüchtlingscamps in Krisenregionen eingerichtet.

Ich bin der festen Überzeugung, dass man offener und weltgewandter sein kann, je mehr man zuhause verankert, verwurzelt und beheimatet ist.

Nicht nur bei den Grünen ist oft die Rede vom europäischen Zusammenhalt, von unseren kulturellen Wurzeln und unserer gemeinsamen strahlenden Zukunft. Was macht den neuen europäischen Nationalismus so anziehend?

Ich bin für gar keinen Nationalismus – weder für einen deutschen noch für einen französischen oder europäischen. Eher für eine starke Verankerung in der eigenen Heimat und für einen Handlungsrahmen, der uns ermöglicht, das zu erhalten, was wir haben. Dafür muss Europa stärker werden, denn sonst sind wir gar nicht mehr handlungsfähig. In Europa gibt es kleine Staaten und solche Staaten, die noch nicht wissen, dass sie klein sind. Insofern hat das für mich nichts mit Nationalismus zu tun, sondern ist ein sehr klarer Realismus mit Blick auf die Frage, wie wir uns überhaupt in Zukunft noch selbst behaupten können. Ich bin außerdem der festen Überzeugung, dass man offener und weltgewandter sein kann, je mehr man zuhause verankert, verwurzelt und beheimatet ist.

Betrachten Sie Europa als Schicksalsgemeinschaft?

Wir sind nun einmal gemeinsam auf einem Kontinent. Deswegen haben wir bereits viel  gemeinsam durchlitten und haben noch viel gemeinsam vor. Wenn wir uns geschickt anstellen, dann liegen die besten Zeiten noch vor uns.

Halten Sie die Grünen für eine radikale Partei?

Wir sind sehr realistisch darin, zu sehen, wie radikal Vieles verändert werden müsste, damit wir weiterhin auf diesem Planeten leben können.

Eine solche radikale Veränderung mag im Sinne jüngerer oder späterer Generationen sein. Heute dagegen bedeutet sie möglicherweise auch staatlich verordneten Verzicht und Einschränkungen. Kann der Staat nicht auch übergriffig und bevormundend werden?

Das ist immer eine Abwägung, und das sollte auch eine mittel- und langfristige Perspektive haben. Der Staat hat die Aufgabe, einen Rahmen zu setzen und Regeln festzulegen. Die Frage ist nun, ob man damit nicht insgesamt mehr Freiheiten ermöglicht – und zwar für alle. Im Übrigen sehe ich nicht, dass diese Politik viele Freiheiten beschränkt. Es wird oft gesagt, es wäre eine Freiheitsbeschränkung, ein Tempolimit von 130 einzuführen. Wer seine Freiheit darüber definiert, auf der Autobahn 200 zu fahren… (seufzt) Ich definiere meine Freiheit darüber, dass ich weiß, dass meine Tochter auch in Zukunft noch gut leben kann, und dass das Einkommen für das Überleben keine Rolle spielt.

Muss man die Menschen manchmal zu ihrem Glück zwingen?

Nee.

Sie anstupsen?

Auch nicht. Das kann vielleicht die Kirche tun. Aber Aufgabe von Politik ist weder Glück noch Unglück und auch kein Gut oder Böse. Es geht darum, einen Rahmen für ein gutes Zusammenleben zu definieren, sodass jeder selbstbestimmt und in Freiheit sein Leben führen kann und die Chance erhält, zu verwirklichen, was er oder sie vorhat. Das ist die Aufgabe der Politik. Für das Glück jedes Einzelnen bin ich zum Glück nicht verantwortlich.