BÜNDNIS 90 – DIE GRÜNEN

Erhalt durch Wandel

VON ROBERT REMY

Verändern, um zu bewahren; einschränken, um Freiheit zu gewährleisten – für die Grünen sind das keine Widersprüche, sondern folgen direkt aus Kernthemen wie Verantwortung, ökologischem Bewusstsein und Gerechtigkeit.

Die Grünen gehen aus mehreren Bewegungen hervor: Die Wichtigste war dabei die in den 1980er Jahren aktive „Neue Soziale Bewegung“ ­– ein Sammelbegriff für verschiedene Strömungen, die Themen wie Bürger- und Menschenrechte, die Emanzipation von Frauen, Ökologie, Frieden und Abrüstung in das Bewusstsein der Gesellschaft zu bringen versuchten. Im Gegensatz zur „alten“ sozialen Bewegung standen revolutionäre und antikapitalistische Positionen nicht im Vordergrund.  In der Entstehungsgeschichte spielen jedoch auch andere Gruppierungen eine wichtige Rolle, so zum Beispiel die 68er-Bewegung.

Zuerst noch ein Wahlbündnis unterschiedlicher Gruppierungen, wird die Partei 1980 gegründet. Sie beherbergt ein breites Spektrum an Meinungen, dass sich nur in Kernthemen, wie dem Umweltschutz, einig ist. Anfangs gibt es deswegen eine Reihe von Konflikten: So lehnen die radikal systemkritischen „Fundis“ eine Regierungsbeteiligung in jeglicher Form ab. Im Gegensatz dazu wollen die sogenannten „Realos“ das System schrittweise reformieren. Im Laufe ihres Reifeprozesses trennt sich die Partei sowohl von bürgerlich-konservativen, als auch linkeren Kräften. Inzwischen sind die Differenzen innerhalb der Partei nicht mehr mit denen der Anfangszeit zu vergleichen. Nach der Fusion der grünen Parteien Ost- und Westdeutschlands kommt außerdem das Bündnis 90 hinzu, das sich aus der Bürgerrechtsbewegung der DDR heraus gründet.

Während die individuelle Freiheit wichtig ist, haben die Grünen kein rein individualistisches Weltbild. Ihr Parteiprogramm ähnelt zwar deswegen in manchen Punkten dem der Liberalen ­­– so zum Beispiel in Sachen Datenschutz. Im Gegensatz zu den Liberalen legen sie jedoch einen größeren Schwerpunkt auf den Schutz von Minderheiten und sozial Benachteiligten. Das ist auch an der Struktur der Partei zu erkennen: seit 1986 gibt es in den Gremien eine Frauenquote von 50%. Für die Grünen haben Erfolg und Misserfolg eines Menschen auch mit den Strukturen und Rahmenbedingungen des Landes zu tun, woraus sich zum Beispiel eine größere Verantwortung von Vielverdienern gegenüber dem Rest der Gesellschaft begründet.

Viele Fragen der heutigen, globalisierten Welt sind den Grünen zufolge nur auf höherer Ebene zu lösen – Nationalstaaten kommen an ihre Grenzen, wenn es um den Klimawandel oder die Macht globaler Konzerne geht: Hier sehen sie Europa in der Pflicht. Nicht nur den jetzigen und den zukünftigen Generationen europäischer Bürger gegenüber fühlen sich die Grünen verantwortlich: Auch den globalen Süden wollen sie unterstützen, vor allem, wenn es um die Auswirkungen des Klimawandels geht, den Europa auch historisch zu großen Teilen mit zu verantworten hat.

Die deutschen Grünen sind das größte Mitglied der European Greens und Teil der Fraktion Grüne/EFA – ein Zusammenschluss einiger progressiver, regionaler Parteien. Die Fraktion macht derzeit 10 Prozent des europäischen Parlaments aus.

Bei den Grünen
sehe ich rot

KOMMENTAR KONTRA

VON NOAH SCHNEIDERS

Die Grünen machen Politik, bei der man sich gut fühlt. Allerdings lassen sich hinter ihren schönen Ideen nur selten brauchbare Politikvorschläge erkennen. Versteckt hinter dem in den Vordergrund getretenen Realoflügel pflanzt der fundamentalistische Teil der Partei nach wie vor radikale Vorschläge ins Wahlprogramm.

Seit jeher ist Klimapolitik das Steckenpferd der Grünen. Initiativen wie der “Veggie Day” oder das Dieselfahrverbot stehen dabei sinnbildlich für die starken Einschnitte, die die Partei der Bevölkerung aufzwingen will. Zu Recht haben sich die Grünen damit einen Ruf als Verbotspartei eingebracht. Es steht natürlich außer Frage, dass der Klimawandel eine große Herausforderung für die Menschheit bedeutet und gehandelt werden muss.

Initiative der Grünen Partei vor der Bundestagswahl 2013 zur Einführung eines ausschließlich fleischfreien Angebots in öffentlichen Kantinen an einem Tag in der Woche.

Aber Verbote sind nicht der richtige Weg. Ein gutes Beispiel für den Denkfehler in der grünen Politik ist die Energieerzeugung: Die Partei fordert Verbote für bestehende Technologien wie die Atomkraft, um dann auf Technologien wie Wind- oder Solarenergie zu setzen. Bei diesen vermeintlichen Alternativen bleibt jedoch zweifelhaft, ob sie überhaupt eine ausreichende Energieversorgung gewährleisten können. In Deutschland wurde der lange geforderte Atomausstieg längst auf den Weg gebracht –  mit dem Ergebnis, dass Deutschland weltweit einer der größten Kohleverbraucher ist. So erreicht man die Klimaziele wirklich nicht. Es wäre besser, einen Mix aus aktuell verfügbaren Technologien zu verwenden, unerwünschte Technologien schrittweise auszurangieren und stärker in die Forschung und Entwicklung neuer Energieträger wie der Kernfusion zu investieren. Das sollten die Grünen fordern.

Anders als bei der aktuell in Kernkraftanlagen verwendeten Kernspaltung werden bei der Fusion Atomkerne miteinander verbunden. Durch diese Art der Energiegewinnung entstehen keine radioaktiven Nebenprodukte wie bei der Spaltung. Die Technologie wird unter anderem im Rahmen eines großen Forschungsprojekts in Frankreich erforscht. Allerdings ist nicht absehbar wann und ob die Kernfusion jemals kommerziell nutzbar wird.

Ähnlich kritisch ist das teure und engstirnige Vorhaben, den Transport durch massive öffentliche Investitionen großflächig auf die Schiene zu verlegen. Dabei wird vergessen, dass der Flugverkehr einen wichtigen Beitrag zur Wirtschaft, Wissenschaft und Völkerverständigung geleistet hat. Außerdem ist der Schienenverkehr in einigen Fällen schlicht keine Alternative, vor allem wenn der Ausbau des Schienennetzes durch zumeist Grüne Iniativen verhindert bzw. um Jahrzehnte verzögert wird. Der Vorstoß der Grünen ignoriert Innovation und Forschung, zum Beispiel im Bereich nachhaltiger Antriebsstoffe. So ein enger Blick erinnert an das große urbane Umweltproblem des vorletzten Jahrhunderts: Der starke Bevölkerungszuwachs gegen Ende des 19. Jahrhunderts hat dazu geführt, dass Städte im Pferdemist unterzugehen drohten – bis das Automobil kam. Dass Autos ihre eigenen Probleme mit sich bringen, zeigt nur die Fortführung des Zyklus, in dem alte Technologien durch Neue ersetzt werden, wenn sie den Anforderungen der Zeit nicht mehr gerecht werden. Verbote und die Beschränkung von aktuellen Technologien sind auf jeden Fall zu wenig.

Der Vorschlag, Heizen und Transport durch eine CO2 Steuer zu verteuern, wird vor allem untere Einkommensklassen treffen, denn diese verwenden einen größeren Teil ihres Verdienstes auf lebensnotwendige Güter. Aber auch die anderen Einkommensschichten werden nicht begeistert sein von einer weiteren Steuer. Der Effekt verstärkt sich, wenn der Vorschlag über das Europaparlament angestoßen werden soll, eine Einrichtung die vielen sowieso schon als fern und abgehoben erscheint. Darüber hinaus ist es fraglich, wie das sogenannte „Energiegeld” europaweit funktionieren soll, denn der bürokratische Aufwand auf EU-Ebene wäre immens.

Nachdem es in den letzten Jahren, besonders 2015, erhöhte Migration nach Europa gab, befasst sich der Kontinent nun mit der Integration der Neuankömmlinge sowie mit den Ängsten in Teilen der einheimischen Bevölkerung. In so einer Zeit bringen die Grünen den Klimapass ins Spiel. Dieser wird nur mehr Ängste schüren und im Zweifel noch mehr konservative Wähler und andere Unzufriedene in die Arme der populistischen Rechten treiben. Außerdem ist es schleierhaft, warum ein Klimapass das beste Mittel sein sollte, um den Opfern des Klimawandels zu helfen. Niemand möchte seine Heimat verlassen, auch nicht für Europa. Deshalb sollten Optionen, die es Geschädigten erlauben, nahe ihrer Heimat zu bleiben, zuerst ausgeschöpft werden.

Der Klimapass gibt den Opfern des Klimawandels, besonders den Bevölkerungen von bedrohten pazifischen Inseln, ein Anrecht auf einen europäischen Reisepass und damit ein Recht in der EU zu leben.

Die Migrationspolitik der Grünen im Allgemeinen ist ähnlich verblendet von Idealismus. Die Idee, asylsuchende Menschen nach vorherbestimmten Quoten auf die Mitgliedstaaten zu verteilen, ist nicht neu und in der Theorie gut. Die letzten Jahre haben aber gezeigt, dass es seitens vieler EU Mitgliedstaaten erheblichen Widerstand gegen eine solche Regelung gibt. Anstatt an diesem Modell festzuhalten und hohe Zuwanderung im Alleingang oder mit einzelnen Ländern wie Schweden zu lösen, sollten andere Lösungen gesucht werden. Zum Beispiel könnten mehr Ressourcen auf die Bekämpfung von Fluchtursachen verwendet werden. Darüber hinaus kommt im grünen Wahlprogramm die Feststellung zu kurz, dass nicht alle Asylsuchenden auch ein Recht auf Asyl haben und dass in solchen Fällen Abschiebungen notwendig sein können. Das ist wichtig für ein glaubwürdiges Asylsystem, das EU-Bürgern nicht das Gefühl gibt, veräppelt zu werden. Wenn rechtmäßige Abschiebungen nicht durchgeführt werden können, wird das System unfair und belohnt Migranten, die ohne ein Anrecht auf Asyl nach Europa gereist sind, sich als Flüchtling ausgeben und so die Bemühungen europäischer Staaten ausnutzen, ihren menschenrechtlichen Verpflichtungen nachzukommen. Nicht durchgeführte Abschiebungen können zudem eine Sogwirkung haben und noch mehr Menschen mit oder ohne Anrecht auf Asyl nach Europa locken. Implizit ermuntern so die EU Länder Migranten ihr Leben bei einer Flucht nach Europa aufs Spiel zu setzen. Das ist moralisch fragwürdig. Gerechter und menschlicher wäre ein Asylsystem, das Abschiebungen aus Europa, aber gleichermaßen Asylanträge im Fluchtland erlaubt. Nur so kann man denen Asyl gewähren, die einen Anspruch darauf haben, ohne ihnen die lebensbedrohliche Reise zuzumuten.

Im Bereich Verteidigung haben die Grünen inhaltlich Fortschritte gemacht: Sie haben sich erstmals über ihren dogmatischen und politisch wenig hilfreichen Pazifismus hinausgewagt. Die Forderung nach mehr Kooperation auf europäischer Ebene durch eine europäische Sicherheitsunion ist begrüßenswert. Allerdings erkennt die Partei die bewährte Abschreckungswirkung von Atomwaffen nach wie vor nicht an und fordert ihre Abrüstung. Dabei sind kurzfristige, einseitige Handlungen wie der Abzug US-amerikanischer Atomwaffen aus Europa in der aktuellen geostrategischen Situation unrealistisch und unklug. Nachhaltig können Sicherheit und Frieden nur durch langfristige internationale Kooperation gesichert werden.

Die wirtschaftspolitische Forderung nach einer Digitalsteuer klingt gut. Aber auch diese ist fehlplatziert, denn sie widerspricht einer aktuell weltweit praktizierten Norm: Die Umsatzsteuer, auch Mehrwertsteuer genannt, wird im Absatzland erhoben, also in dem Land, in dem eine Ware verkauft wird. Die Gewinnsteuer wird dann in dem Land erhoben, in dem ein Produkt entwickelt wurde. Nehmen wir als Beispiel Frau Merkel, die sich in Deutschland ein neues iPad kauft. Dann werden 19% Mehrwertsteuer in Deutschland fällig – aber der Gewinn, den Apple mit dem iPad macht, wird in den USA versteuert. Soweit die internationale Norm. Die Digitalsteuer dagegen besteuert die Gewinne aus digitalen Geschäften vor Ort. Sie ist ein nationaler oder, im besten Falle, europäischer Alleingang, der Vergeltungssteuern auf deutsche und europäische Industrien riskiert. Natürlich ist offensichtlich, dass die internationale Norm den Technologieunternehmen unserer Zeit nicht mehr gerecht wird. Aber das Mittel der Grünen ist nicht das Richtige. Wir brauchen mehr internationale Zusammenarbeit im Steuerrecht, um zeitgemäße und faire Steuerstandards zu schaffen. Ein System ohne Schlupflöcher gelingt nur im globalen Rahmen.

Die Partei offenbart ihre fundamentalistischen Züge, wenn ihr Spitzenkandidat Sven Giegold auf seiner offiziellen Webseite Mitstreiter auffordert in seinen “Club der Fledermausvertediger*innen” einzutreten, um “Europa und die Fledermaus zu feiern mit unserer Plüsch–Bechsteinfledermaus [sic] mit Europa-Outfit!”. Herr Giegold feiert damit EU-Vorschriften, die so ausgelegt werden können, dass in Deutschland eventuell ein Stückchen Wald vor der Rodung bewahrt wird. Damit reduziert er Europa von einem Friedensprojekt auf ein Mittel zum Zweck für Umweltfanatiker. Das ist im besten Fall lächerlich und es sollte einem zu denken geben, wenn man überlegt, Grün zu wählen.

Kein Verstecken vor der Zukunft – zusammen die EU weiterentwickeln

KOMMENTAR PRO

VON CHARLOTTE GUSTORFF

Als freie und gleichberechtigte Bürgerinnen in einem sozialen, demokratischen Europa leben und die EU zum weltweiten Vorreiter im Klimaschutz machen: Ideen und Konzepte dafür liegen längst auf dem Tisch. Die Grünen wollen sie endlich umsetzen.

Durch den Klimawandel ausgelöste Probleme treffen nicht irgendwen in ferner Zukunft. Unsere Generation erlebt die Folgen. Im Pariser Klimavertrag haben sich 196 Staaten dazu verpflichtet, die Erderwärmung deutlich unter 2 Grad zu halten. Doch auch dieses Ziel werden wir verfehlen, wenn gewirtschaftet wird wie bisher. Das Wahlprogramm der Grünen sieht deshalb umfassende Reformen in Landwirtschaft, Industrie, Verkehr sowie auf den Finanzmärkten vor. Dadurch sollen in Zukunft deutlich weniger Treibhausgase entstehen und die Zerstörung von Ökosystemen verhindert werden. Bis 2050 wollen die Grünen den gesamten Bedarf an Strom, Wärme und Energie für Mobilität aus erneuerbaren Energien gewinnen. Solche ehrgeizigen Ziele können nur in einer Europäischen Union mit eng vernetzen Mitgliedstaaten, Regionen und Kommunen erreicht werden.

Erneuerbare Energien meint die Verwendung von Wind, Sonne, Wasser und nachwachsenden Rohstoffen wie Holz und Biogas für die Strom- und Wärmegewinnung. Anders als Erdöl, Erdgas und Kohle wachsen die verwendeten Stoffe nach oder stehen, wie das Sonnenlicht, sowieso unbegrenzt zur Verfügung.

Schon jetzt verbindet der europäische Strommarkt Offshore-Windparks vor der Küste Dänemarks mit Solaranlagen in Spanien. Damit allerdings Strom aus erneuerbaren Energien flächendeckend produziert werden und zur Verfügung stehen kann, muss umfassend Infrastruktur ausgebaut werden. Die nötigen Investitionen sind in unser aller Interesse und können nicht später, irgendwann oder nie getätigt werden. Die Kosten dafür sind angesichts der Risiken für Gesundheit, Frieden und Stabilität, die der Klimawandel mit sich bringt, mehr als gerechtfertigt. Deshalb reicht es auch nicht, nur verstärkt in nachhaltiges Wirtschaften zu investieren. Das Verwenden von umweltschädlichen Techniken muss teuer werden. Einige Maßnahmen dafür gibt es schon. So müssen beispielsweise Betreiberinnen von Heizkraftwerken im europäischen Handel mit Emissionsberechtigungen Zertifikate für jede Tonne ausgestoßenes Kohlendioxid erwerben. Die Grünen fordern, den Preis für Emissionsberechtigungen schneller als geplant anzuheben und weitere Wirtschaftszweige in den Handel einzubeziehen. Das ist nur konsequent, soll dieses wichtige Instrument im europäischen Klimaschutz seine Wirkung entfalten können.

Ein wesentlicher Teil der europäischen Fördergelder fließt in die Landwirtschaft. Die Grünen kritisieren, dass hier besonders die großen Betriebe zum Zug kommen. Dabei könnten neben der Fläche des Betriebs auch Qualitätsmerkmale, wie der möglichst geringe Verbrauch von Pestiziden bei der Berechnung der Gelder berücksichtigt werden. Eine Landwirtschaft, die das Grundwasser sauber hält und Böden nicht zerstört, ist schließlich für uns alle von existentieller Bedeutung. Es mag für einzelne Unternehmen lukrativ sein, Ressourcen auszubeuten und kurzfristig größere Gewinne zu machen. Für die Gesellschaft, die danach mit antibiotikaresistenten Keimen oder zerstörten Ackerböden umgehen muss, ist es alles andere als wirtschaftlich. Die Fördergelder der EU sind ein starkes Mittel, um nachhaltig wirtschaftende Betriebe zu unterstützen.

Mit Antibiotika können Bakterien abgetötet werden. Es handelt sich um wichtige Medikamente. Sie werden allerdings nicht nur zur Behandlung von Krankheiten beim Menschen eingesetzt, sondern kommen auch in der Landwirtschaft zum Einsatz. Das Problem dabei: Je länger Keime mit Antibiotika in Kontakt sind, desto eher entwickeln sie Überlebensstrategien gegen die Medikamente. Die Keime werden resistent und die eingesetzten Antibiotika verlieren ihre Wirkung.

Obwohl viele Unternehmen international arbeiten und die Vorteile des europäischen Binnenmarkts nutzen, ist ihre Besteuerung weiterhin national geregelt. Das historisch gewachsene System versucht, Gewinne dort zu besteuern, wo sie entstehen. Der auf dem Internet basierenden Arbeitsweise von Konzernen wie Facebook oder Google entspricht das längst nicht mehr. Einzelne Mitgliedstaaten versuchen große Unternehmen anzulocken und unterbieten sich gegenseitig mit niedrigen Steuersätzen. Durch dieses sogenannte Steuerdumping und durch Methoden der Steuervermeidung entgehen den Bürgerinnen Einnahmen. Der Schluss der Grünen, manche Steuern in Zukunft durch die EU einnehmen zu lassen, ist deshalb nur konsequent.

Im Umgang mit Schutzsuchenden zeigt eine Gesellschaft ihr Rückgrat. Menschenrechte, wie das Recht auf Asyl, müssen wirklich für alle gelten, wenn Verlass sein soll auf alle weiteren so wichtigen Grundsätze in der EU: Demokratie, Freiheit oder Rechtsstaatlichkeit werden zur Floskel, wenn Menschen vor dem Ertrinken gerettet, dann aber nicht in einen Hafen gelassen werden oder es in den Zeltunterkünften auf griechischen Inseln keine ausreichende medizinische Versorgung gibt. Die Grünen unterstützen, was eigentlich selbstverständlich sein sollte: ein ziviles Seenotrettungssystem und adäquat ausgestattete Erstaufnahmezentren. Asylverfahren sollen schnell, aber einem Rechtsstaat würdig, entschieden werden. Alle Mitgliedstaaten müssen sich danach an der Integration von Asylberechtigten beteiligen. Es ist empörend, dass sich einige immer weiter abschotten, statt an einer gemeinsamen Lösung zu arbeiten. Besonders Rechtspopulistinnen behaupten lautstark, offene Grenzen innerhalb der EU seien nichts wert und von Flüchtlingen ginge eine Gefahr aus. Mit den Grünen im Europaparlament gibt es eine selbstbewusste Gegenstimme. Sie hinterfragen vermeintlich einfache Lösungen, wie immer mehr Staaten als sichere Herkunftsländer anzuerkennen. Die Grünen kritisieren Rüstungsexporte in genau die Krisenregionen, aus denen Menschen in die EU fliehen. Sie fordern legale Fluchtwege, damit sich erst gar kein Mensch auf die oft tödliche Fahrt übers Mittelmeer begibt.

Die Menschen in Europa sehen sich vor gesellschaftlichen Aufgaben gestellt, für die sie in ihren einzelnen Nationalstaaten schwierig Lösungen finden können. Die Bekämpfung von Jugendarbeitslosigkeit, ein krisenfestes Bankensystem, Klimaschutz oder Terrorismusbekämpfung. Bei so vielen grenzüberschreitenden Themen kommt es auf europäische Zusammenarbeit an. Dabei verändert sich die EU laufend. Als Reaktion auf die Finanzkrise entstanden beispielsweise ganz neue Finanzinstitutionen, wie der europäische Stabilitätsmechanismus. Viele Vorschläge der Grünen zur Organisation der EU zielen darauf ab, diese Institutionen einer starken parlamentarischen Kontrolle zu unterwerfen. Entscheidungen auf europäischer Ebene sollen von Bürgerinnen getroffen, durchblickt und getragen werden. Dafür braucht es Reformen für einen transparenteren Rat und ein an die Legislaturperiode des Parlaments angepassten EU-Haushalt.

Für uns junge Wählerinnen sind viele Errungenschaften der Europäischen Union selbstverständlich. Wir informieren uns über freie Medien, verbringen ein Erasmus-Semester im Ausland, bewerben uns mit unseren in ganz Europa anerkannten Abschlüssen und telefonieren im Urlaub, ohne für Daten-Roaming zu bezahlen. Die EU ist mehr als ein Wirtschaftsraum. Wir können das Friedensprojekt EU hin zu einer ökologischen, demokratischeren und sozialeren Union weiterführen. Dafür treten die Grünen mit Ska Keller und Sven Giegold an der Spitze an. Dass gleich viele Frauen wie Männer auf ihrer Liste kandidieren, muss eigentlich nicht extra erwähnt werden. Für die Grünen ist das längst selbstverständlich.

Wahlkampfthemen

VON ROBERT REMY

  • Umweltschutz
  • Wirtschaft
  • Grundrechte und Demokratie
  • Flüchtlings- und Migrationspolitik
  • Sicherheitspolitik

Umweltschutz

Ein zentrales Thema sind die Energiequellen: Die Grünen fordern eine strikte Einhaltung des Pariser Klimaabkommens, das nur durch einen klaren Umschwung möglich ist.

Das Pariser Klimaabkommen wurde auf der Weltklimakonferenz 2015 von 195 Ländern verabschiedet. Es enthält verschiedene Schritte, deren Umsetzung den Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur auf deutlich unter 2°C gegenüber vorindustriellen Zeiten begrenzen soll.

So soll bis 2050 der gesamte Energiebedarf mit erneuerbaren Energien gedeckt werden. Der Kohleausstieg soll 2030 vollständig umgesetzt sein. Ein EU-Strukturfonds soll Regionen, die bisher vom Kohleabbau abhängig sind, helfen, neue Industriezweige zu erschließen. Eine Rückkehr zur Atomkraft soll vermieden werden, indem direkte und indirekte Subventionen gestrichen werden: Zum Beispiel fordern die Grünen, die Kosten für die Endlagerung des Atommülls den Konzernen zu überlassen. Der CO2-Ausstoß soll unter anderem durch einen europaweiten CO2-Mindestpreis gesenkt werden. Dieser soll nicht für die Produktion, sondern für Produkte gelten, um eine Auslagerung der Luftverschmutzung in Länder mit niedrigeren Umweltschutzstandards zu vermeiden. Da das Produkte teurer machen könnte, soll ein Pro-Kopf-Energiegeld ausgezahlt werden, das durch die Einnahmen der CO2-Steuern bezahlt werden soll. Mit dem Ausbau erneuerbarer Energien soll eine Investition in den Ausbau des Energienetzes und von Energiespeichern einhergehen, um europaweit Versorgungssicherheit durch erneuerbare Energien zu gewährleisten.

Transport und Mobilität sind für den Klimaschutz ebenfalls wichtig. Auch hier fordern die Grünen eine Einhaltung des Pariser Klimaabkommens und damit einen klimaneutralen Verkehr ab 2050. Das soll durch eine Verlagerung von Straße und Flugverkehr auf die Schiene erreicht werden: So fordern sie zum Beispiel eine Verdopplung europäischer Mittel, um das sogenannte Lückenschlussprogramm voranzutreiben. Dieses Programm soll das Eisenbahnnetz ausbauen und europäische Länder besser miteinander vernetzen. Außerdem fordern sie einheitliche Standards, um den Güter- und Personenverkehr zu stärken und die Belastung durch Schadstoffe zu senken.

Die Agrarpolitik Europas soll grundlegend verändert und nachhaltiger gemacht werden. Fördermittel sollen zum Beispiel nur noch an landwirtschaftliche Betriebe gehen, deren Leistungen über den gesetzlichen Standard hinausgehen. Tierschutzstandards sollen zum Beispiel gegen die Kräfte des Wettbewerbs geschützt werden. So sollen Schlachttiere zum Beispiel verpflichtend zum nächsten, statt zum billigsten, Schlachthof gebracht werden.

Wirtschaft

Die Grünen wollen den EU-Haushalt auf 1.3% des europäischen BIP deutlich vergrößern. Außerdem soll die EU eigene Steuern erheben dürfen.

Die Grünen sind der Ansicht, der Nationalstaat komme in einer zunehmend globalisierten Welt an seine Grenzen. Daher soll Europa auch in der Wirtschaftspolitik eine größere Rolle zuteilwerden. So fordern sie zum Beispiel ein einheitliche Bewertungsgrundlage für die Besteuerung von Unternehmen. Das soll auch vermeiden, dass europäische Länder im Anwerben von Firmen gegeneinander ausgespielt werden. Steuerflucht soll durch verstärkte europäische Zusammenarbeit und engere Kooperation mit Handelspartnern verhindert werden. Außerdem soll es eine europäische Digitalsteuer geben, die sich am Umsatz der entsprechenden Konzernen orientiert.

Eine Digitalsteuer ist eine Abgabe auf Umsätze, die mit digitalen Angeboten erwirtschaftet wird und würde unter anderem Konzerne wie Google oder Facebook treffen. Befürworter meinen, sie sei nötig, damit diese Unternehmen ihre Gewinne nicht mehr in kleinen Steueroasen umleiten können. Andererseits bräche die Digitalsteuer mit dem Grundsatz, dass Umsätze nur dort versteuert werden, wo das Unternehmen seinen Sitz hat, und könnte daher zu internationalen Konflikten führen.

Ein Kritikpunkt der Grünen an Europa ist die Ungleichheit zwischen den Ländern. Sie kritisieren die Sparmaßnahmen während der Finanzkrise, da sie die Krise in vielen Ländern verlängert habe und Europa insgesamt schade. Um das Ziel eines weniger ungleichen Europas zu erreichen, sprechen sich die Grünen für Strukturveränderungen aus – unter anderem durch eine konsequente Durchsetzung der Jugendgarantie, die Menschen unter 25 ein qualitativ hochwertiges Angebot zur Weiterbildung oder zum Berufseinstieg verspricht. Außerdem sehen die Grünen die Notwendigkeit, mittelfristig eine europäische Arbeitslosenversicherung einzuführen. Um Lohndumping innerhalb der EU zu verhindern, soll außerdem ein europäischer Mindestlohn eingeführt werden, der die Lebensunterhaltungskosten in der jeweiligen Nation berücksichtigt.

Drogenpolitik

Die Grünen halten das Verbot von Cannabis für gescheitert und treten für eine Legalisierung ein. Programme wie das Drug-Checking, also das Kontrollieren von Drogen auf Unreinheiten, soll ausgebaut werden, um Konsumenten zu schützen. Gleichzeitig wollen sie Werbung für legale Drogen verbieten.

Grundrechte und Demokratie

Whistleblower sollen geschützt und die Zivilgesellschaft gefördert werden – so wird die Rechtsform eines „europäischen eingetragenen Vereins“ gefordert, die Nationalregierungen in ihrem Spielraum, politische Gegner zu bekämpfen, einschränken würde.

Das Lobbyregister, das auf europäischer Ebene bereits besteht, soll auf alle europäischen Institutionen ausgeweitet und verbindlich gemacht werden. Außerdem soll es eine unabhängige Institution geben, die den „legislativen Fußabdruck“ kontrolliert: Dadurch soll die Einflussnahme Dritter auf europäische Gesetzgebung öffentlich zugänglich und überprüfbar gemacht werden.

Das Lobbyregister ist eine Datenbank, in dem Lobbyisten und deren Aktivitäten einsehbar sind. Lobbyisten vertreten die Interessen von Unternehmen, Nichtregierungsorganisationen, sozialen Initiativen und anderen in der Politik.

Flüchtlings- und Migrationspolitik

Die Grünen kritisieren das Dublin-System und fordern ein gerechteres Verteilungssystem, das Länder wie Spanien, Italien oder Griechenland entlasten soll. Sie unterstützen ein solidarischeres System, dem das europäische Parlament bereits zugestimmt hat und das nur noch vom Rat der EU abgesegnet werden muss. Kommunen, die Flüchtlinge aufnehmen wollen, sollen Direkthilfen der EU bekommen. Eine weitere Forderung ist die Garantie der Straffreiheit für Seenotretter sowie den Aufbau eines europäisch organisierten und finanzierten zivilen Seenotrettungssystem.

Nach dem Dublin-System ist das erste EU-Land für einen Asylsuchenden verantwortlich, den den dieser betritt. Das benachteiligt EU-Randstaaten.

Neben dem Klimaschutz, der langfristig eine Rolle in der Bekämpfung von Fluchtursachen spielen wird, um die Anzahl an Naturkatastrophen zu vermeiden, wollen die Grünen europaweit Waffenexporte in Krisengebiete verbieten und 0,7% der Wirtschaftsleistung in den EU-Mitgliedstaaten für Entwicklungszusammenarbeit verwenden. Billigexporte in Entwicklungsländer sollen gestoppt werden. Staatliche Hilfen für umweltfreundliche Landwirtschaft soll die Herstellung von Lebensmitteln nachhaltiger machen.

Die Grünen fordern ein Migrationssystem „im Einklang mit den Menschenrechten“. Der legale Weg in die EU soll nicht nur für Hochqualifizierte aus dem EU-Ausland möglich sein. Vor allem im Lichte des demographischen Wandels sei dies vonnöten. Dabei soll der UN-Migrationspakt als Grundlage gelten.

Der UN-Migrationspakt ist ein rechtlich nicht bindendes Übereinkommen zwischen 180 Ländern. Der Pakt will die Rechte von Migranten stärken, außerdem soll Migranten ein Umfeld geboten werden, in dem es für sie möglich ist, die Gesellschaft zu bereichern.

Sicherheitspolitik

Die Grünen wollen einen Ausbau der sogenannten Sicherheitsunion, also einen Ausbau der Zusammenarbeit der Streitkräfte verschiedener Länder. Dabei sehen sie einige Einsparmöglichkeiten. Das Ziel der Nato, 2% des Bruttoinlandsprodukts auf das Militär zu verwenden, lehnen sie deshalb ab.

Who is who

Ska Keller – Die Spitzenkandidatin der Grünen ist Co-Vorsitzende der Grünen/EFA Fraktion und migrations- und handelspolitische Sprecherin im Europäischen Parlament.

Sven Giegold ­– Der Mitbegründer der globalisierungskritischen Organisation Attac Deutschland ist bei der Europawahl auf Listenplatz 2. Er ist Mitglied im Ausschuss für Wirtschaft und Währung im Europäischen Parlament.

Robert Habeck ­­­– Der promovierte Philosoph ist Bundesvorsitzender der Grünen. Als regelmäßiger Talkshowgast – von Anne Will bis hin zum literarischen Quartett – ist er einem breiten Publikum bekannt.

Annalena Baerbock – Bundesvorsitzende der Grünen und Mitglied des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Die Wahl der Doppelspitze wurde parteiintern von manchen kritisiert, weil zwei „Realos“ gewonnen haben. Das bedeutet, dass der linke Flügel der Partei zurzeit keinen Spitzenposten auf Bundesebene besetzt.

Joschka Fischer – ehemaliger Außenminister von 1998 bis 2005 unter der ersten und einzigen Regierungsbeteiligung der Grünen auf Bundesebene. Bei seiner Vereidigung im Bundestag trug er weiße Turnschuhe.