“Ein Zynismus, den ich in der Politik noch nicht erlebt habe.”

Von EUGENIE DESMEDT und PHILIPP GRÜLL

In der Parteizentrale der NEOS geht es lebhaft zu. Wir setzen uns neben ein lebensgroßes Flamingo-Stofftier auf die Couch und werden von einem gut gelaunten Helmut Brandstätter, dem ehemaligen Chefredakteur des Kuriers und nunmehrigen Listenzweiten der NEOS, begrüßt. Umgeben von bunt bemalten Whiteboards und Post-Its reden wir über Klimaschutz, gesellschaftlichen Zusammenhalt und ungemütliche Wahrheiten.

Wie geht es Österreich heute?

In der sogenannten Geburtslotterie kann man sich schon einmal bedanken, wenn man in Österreich auf die Welt kommt. Aber die glücklichste Generation, die in Österreich jemals leben durfte, war meine: 1955 geboren, gerade noch in einem besetzten Land. Nach dem Staatsvertrag 1955 kamen mehr Wohlstand, mehr Öffnung, mehr Freiheit, mehr Möglichkeiten, mehr Chancen. Jetzt sind wir bei der Frage: Geht das so weiter? Hier beginnt die Politik.

Glauben Sie, 17 Monate Türkis-blau haben Österreich nachhaltig geschadet?

Wenn es jetzt wirklich vorbei ist, werden wir das aushalten. Wenn es weitergeht, wird das Österreich nachhaltig schaden.

Aus welchen Gründen?

Österreich ist es gelungen, nach dem Krieg eine Gesellschaft des Zusammenhalts aufzubauen. Ihr kennt es aus den Geschichtsbüchern oder von den Großeltern. Ich kenne es noch von den Eltern: Das große Thema sind die 30er-Jahre, als der Hass regiert hat. Bürgerkrieg ist wohl das Schlimmste, was einem Land passieren kann. Man braucht nur heute nach Syrien zu schauen. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich ein Zusammenhalt entwickelt. Ein Konsens, dass alle Menschen, die hier leben, miteinander auskommen können, nicht ausgegrenzt werden. Ich bin in einem konservativen und christlichen Haushalt aufgewachsen. Mein Vater war sehr konservativ, ein ÖVPler. Zu seiner Denkweise gehörte schon auch Leistung und Anstand. Aber genauso gleichwertig war das soziale Bewusstsein, weil er die 30er-Jahre als Kind erlebt hatte. Das hat mich immer sehr bewegt.

Ich bin auch nicht dafür, dass alle Menschen der Welt nach Österreich kommen. Aber wir brauchen gut organisierte Zuwanderung von gut ausgebildeten Menschen.

Diesen Zusammenhalt sehen Sie in Gefahr?

Er ist in Gefahr, sobald Menschen ausgegrenzt werden. Ich bin auch nicht dafür, dass alle Menschen der Welt nach Österreich kommen. Aber wir brauchen gut organisierte Zuwanderung von gut ausgebildeten Menschen. Wenn jemand als Flüchtling kommt, muss man Asylansprüche prüfen. Wenn er kein Asyl bekommt, muss er wieder gehen. Dennoch müssen wir auch gegenüber diesen Menschen Menschlichkeit und nicht Zynismus leben. „Ausreisezentrum“ auf ein Erstaufnahmezentrum zu schreiben, zeugt von einem Zynismus, den ich in der Politik noch nicht erlebt habe. Als das Sterben im Mittelmeer begonnen hat, habe ich auf der Website des Kuriers Postings gesehen, in denen stand so etwas wie: „Sollen sie ersaufen.“ Wenn das mit echtem Namen geschrieben wurde, haben wir Anzeige erstattet. Das ist Verhetzung. Das heißt nicht, dass die Leute bei uns Asyl bekommen müssen. Aber ich kann mich nicht damit abfinden, dass Menschen sterben. Da hat sich etwas in unserer Gesellschaft verschoben. Vor 20 Jahren hätte man das nicht für möglich gehalten.

Und trotzdem ist Türkis-blau weiterhin die beliebteste Koalitionsvariante. Die ÖVP liegt stabil bei 35 Prozent. Was machen diese Parteien richtig?

Sie geben den Menschen offenbar ein Gefühl, dass die Regierung auf gutem Weg ist und für uns, die Österreicher, und gegen sie, die Ausländer, etwas tut. Politik ist heute fast nur mehr Gefühl.

Austria first?

Austria first, genau. Das kann vielleicht kurzfristig funktionieren. Aber wir sehen auch in Amerika, Italien oder Ungarn: Natürlich kann man ein autoritäres Regime in einem EU-Land aufbauen. Aber die Folgen sind zweierlei: Die eine ist Korruption. Autoritäre Regime müssen korrupt sein, weil es keine Kontrolle durch Medien oder Justiz gibt. Zweitens werden gut ausgebildete Menschen, die andere Möglichkeiten haben, das Land verlassen. Deswegen gibt es in solchen Ländern immer einen Brain-Drain.

Ich bin auch dafür, die Pensionen wie in den letzten Jahren an die Inflation anzupassen. Aber wenn man schon sagt, man möchte ihnen mehr geben, müsste man ein Konzept vorlegen, um das Pensionssystem langfristig zu sichern. Manche meinen ja gerne, das sei sowieso gesichert: Die Löcher stopfen wir einfach aus dem Budget. Aber was ich aus dem Budget für Pensionen ausgebe, kann ich nicht noch einmal für die Bildung ausgeben.

Gibt es in diesem Wahlkampf eigentlich auch inhaltliche Themen oder dreht er sich in Wahrheit nur um sich selbst?

Ich glaube schon, dass einige Themen aufgetaucht sind.

Die Pensionen sind natürlich dank der anstehenden Erhöhung kurz vor der Wahl für den Wahlkampf missbraucht worden.

Ich habe in eurem Alter auch nicht an Pensionen gedacht. Ich denke immer noch nicht an die Pension! Ich bin auch dafür, die Pensionen wie in den letzten Jahren an die Inflation anzupassen. Aber wenn man schon sagt, man möchte ihnen mehr geben, müsste man ein Konzept vorlegen, um das Pensionssystem langfristig zu sichern. Manche meinen ja gerne, das sei sowieso gesichert: Die Löcher stopfen wir einfach aus dem Budget. Aber was ich aus dem Budget für Pensionen ausgebe, kann ich nicht noch einmal für die Bildung ausgeben. Außerdem ist es keine Zumutung, länger zu arbeiten, wenn wir alle älter werden. Natürlich ist es ein Unterschied, ob jemand 40 Jahre Schwerarbeit am Bau geleistet hat und seine Pension verdient hat. Aber ein 65-jähriger Richter kann noch arbeiten und hat auch so viel Erfahrung wie nie zuvor im Leben.

Zusätzlich zu der bereits beschlossenen Pensionserhöhung der Bundesregierung wollen ÖVP, SPÖ und FPÖ die Pensionen kurz vor der Wahl um 400 Millionen Euro erhöhen. Kritiker bemängeln, ein offensichtlicheres Wahlzuckerl habe es selten gegeben. (Anm.d.Red.)

Die NEOS haben sich gegen das neue Parteienfinanzierungsgesetz ausgesprochen. Logischerweise, meinen viele, weil die NEOS viele private Spenden erhalten, die nun begrenzt wurden. Wenn das Geld hauptsächlich von einigen, wenigen Großspendern kommt, bestehe das Risiko oder zumindest jenes des Anscheins, es könnten Gefälligkeiten gegen Spenden getauscht werden. Verstehen Sie diese Kritik?

Ja. Ich bin ich dafür, dass Privatspenden in der Sekunde öffentlich gemacht werden müssen. Auch Herr Haselsteiner, der in diesem Zusammenhang gerne genannt wird, will den NEOS keinen Groschen mehr spenden, wenn sie einmal in der Regierung sind.

Damit genau dieser Verdacht nicht auftaucht.

Auch das finde ich gut. Solange alles transparent ist, ist die Gefahr der Korruption wesentlich geringer. Dann kann jeder sehen: Na Moment, der hat gespendet und bekommt jetzt dieses oder jenes? Viele Leute haben nach dem Ibiza-Video gesagt, so seien alle Politiker. Ich kann auch als Journalist noch sagen: Nein! Das machen nicht alle! Ich kenne genug Politiker, denen ich das nie im Leben zutrauen würde. 

So schön das klingt, wäre es unwahrscheinlich, dass die NEOS all die früheren Spenden des Herrn Haselsteiner sofort wieder vergessen, nur weil sie Teil einer Regierung würden. (Anm.d.Red.)

Sie würden also die privaten Parteispenden nicht begrenzen?

Das ist jetzt Gesetz.

Und das finden Sie auch in Ordnung so?

Es ist Gesetz. Halt ma uns an die Gesetze. 

Die NEOS haben gegen den Misstrauensantrag gestimmt mit dem Argument, Sebastian Kurz müsse Verantwortung übernehmen. Hat er diese Verantwortung dennoch wahrgenommen?

Nein. Ursprünglich hat er als Spitzenkandidat für den Nationalrat kandidiert. In dem Moment, in dem er nicht mehr in der Regierung war, hätte er sein Nationalratsmandat wieder aufnehmen müssen. Das hat er nicht getan. Stattdessen hat er das Parlament gegen das Volk ausgespielt.

Da gab es diese “das Volk wird entscheiden”-Plakate.

Das ist primitiver Populismus, wie er eigentlich zur FPÖ gehört.

“Das Parlament hat bestimmt. Das Volk wird entscheiden!”, schrieb Kurz nach dem Misstrauensantrag auf Facebook. Kritiker monierten, man solle das “Volk” und das Parlament (die Repräsentantenkammer des Volks) nicht so gegeneinander ausspielen. Das schwäche die Legitimation des Parlaments.

Würden die NEOS trotzdem mit der Kurz-ÖVP regieren?

Die NEOS haben klar gesagt, sie wollen stärker werden. Sie schließen eine Koalition nicht aus. Ich werde das nicht entscheiden. Aber wenn wir unsere wesentlichen Punkte, besonders im Bildungsbereich, durchbringen, halte ich es für sinnvoll. 

Welche Reaktionen gab es auf Ihre Kandidatur bei den NEOS und anderen Parteien? 

Bei den NEOS war vor allem eines wichtig: Passt der zu uns oder nicht? Was hat der für Überzeugungen? In der ÖVP habe ich natürlich auch Reaktionen gehört: Das ist ein Bürgerlicher. Der nimmt uns Stimmen weg. Den muss man bekämpfen. Möglichst dafür sorgen, dass er nicht im ORF auftritt. Da gab es auch Anrufe beim ORF – ja, wirklich! Viel Feind, viel Ehr‘, denk ich mir da. Sie wissen, sie können mich nicht als Linken vernadern, sie können mich nicht als Deppen vernadern und dann wird halt herumgesucht, ob sie nicht irgendetwas gegen mich verwenden können. Da sind auch ganz kuriose Gerüchte aus meiner Zeit als Chefredakteur des Kuriers aufgetaucht. 

Zu welcher Partei wären Sie vor 20 Jahren gegangen?

Da wäre ich vielleicht zur FDP, der liberalen Partei in Deutschland, gegangen, weil ich da gerade in Deutschland gewohnt habe. Das ist jetzt natürlich eine gute Ausrede. (lacht.)

Stimmt. Aber in Österreich?

Im Jahr 1999 konnte ich mir nicht vorstellen, zu einer Partei zu gehen. Liberale gab es keine, die ÖVP hat gerade mit der FPÖ angebandelt und die SPÖ fand ich auch nicht interessant. Eine eigene Partei zu gründen, hätte ich mir auch nicht zugetraut; umso mehr Respekt für Matthias Strolz!

Steuern senken alleine ist noch keine Steuerreform. Einkommenssteuer senken, aber CO2-Ausstoß bestrafen – das ist steuern im wahrsten Sinne des Wortes. 

Die NEOS fordern eine CO2-Steuer. Was sagen Sie zu dem Einwand, eine solche CO2-Steuer träfe die unteren Einkommensschichten stärker?

Die letzte Regierung hat gesagt, sie wolle die Steuern senken. Aber Steuern senken alleine ist noch keine Steuerreform. Einkommensteuer senken, aber CO2-Ausstoß bestrafen – das ist steuern im wahrsten Sinne des Wortes. Es wurde ausgerechnet, dass es nach unserem Modell beispielsweise für einen Pendler nicht teurer würde. Ein großes Thema ist der Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs. 

Ist die Klimakrise tatsächlich so einfach abzuwenden, ohne dass es Verlierer geben wird?

Wir müssen vor allem im Wahlkampf ein ganz unsympathisches Wort verwenden: das Wort „Verzicht“. Auf manche Dinge werden wir eben verzichten müssen. Ich glaube durchaus, dass das jeder auch für sich entscheiden muss. Im Wahlkampf will das keiner diskutieren, aber darüber muss man eben auch reden.

Also sollten diese Entscheidungen vor allem dem Individuum überlassen werden?

Nein. Ich sage nur, dass das Individuum auch nicht sagen darf, dass der Staat alles machen muss. Es braucht beides. Worauf sind wir bereit, zu verzichten? Wofür bin ich bereit, auch höhere Steuern zu zahlen? Da sind wir bei der sozialen Frage.

Sind Sie beispielsweise für eine Kerosin-Steuer (sinnvollerweise auf europäischer Ebene), die das Fliegen teurer machen würde?

Ich habe mit einem gut verdienenden Freund gesprochen, der mit einer Schwedin verheiratet ist. Er hat mir erzählt, dass man in Schweden seinem Freundeskreis nicht mehr erzählt, wenn man zu Weihnachten zum Beispiel nach Mauritius fliegt. Da hat sich etwas verändert. Ich bin grundsätzlich gerne im Winter im Süden. Aber wenn ich schon im Winter in den Süden fliegen will, sollte ich wenigstens darauf ordentlich Steuern zahlen, um einen erhöhten Beitrag zum Schutz der Umwelt zu leisten.

Das ist keine soziale Frage, ob man im Winter herumfliegt.

Das ist eine sehr individuelle Frage.

Die Grünen sähen das vielleicht anders. (Anm.d.Red.)

Werner Kogler hat einmal gemeint, das Mercosur-Abkommen hätte „null Ansätze für Klimaschutz“ und sei „das klimaschädlichste Abkommen überhaupt“. Die NEOS unterstützen das Abkommen aber weiterhin?

Erstens einmal stehe ich dazu, dass ich die Details des Mercosur-Abkommens nicht kenne, mich aber bei Kollegen informiert habe. Das Abkommen muss auf jeden Fall so weit verändert werden, dass wir Einfluss darauf haben, dass Brasilien nicht weiter den Regenwald abholzen kann. 

Haben Sie vor, bei den NEOS etwas zu verändern?

Da wäre mir bis jetzt nichts aufgefallen. Das ist der Vorteil bei liberalen Parteien: Individuelle Freiheit ist ein hohes Gut. Dass es keinen Klubzwang gibt, war für mich ganz wesentlich. Das heißt nicht, dass ich mir jeden Tag überlegen werde, wie ich gegen meine Fraktion stimmen kann, sondern dass man intern überzeugen oder überzeugt werden kann.