“Jemanden mit erhobenen
Zeigefinger habe ich bei den Grünen nicht getroffen.”

VON VIKTOR HANDL UND UNA NOWAK

“Einen Kräutertee, bitte!” Entspannt setzt sich Sibylle Hamann, Listendritte der Grünen, zu uns an den Tisch. Im geschichtsträchtigen Café Prückel im ersten Wiener Bezirk wird die nächste Stunde ausgiebig über ihre just beendete journalistische Arbeit, die sozialverträgliche Klimawende und linke Wertvorstellungen geplaudert.

Frau Hamann, wie geht es Österreich heute?

Wir sind ein vergleichsweise reiches Land mit leicht zugänglicher öffentlicher Infrastruktur und einem guten Sozialsystem. Wir sind uns dessen sehr häufig nicht bewusst. Bei vielen Leuten, die gern über Österreich schimpfen, würde ich mir wünschen, sie hätten einmal ein Jahr in einer anderen, vergleichbaren Großstadt verbracht. Andererseits dürfen wir nicht vergessen, dass es nicht allen Menschen hier so gut geht. Wir haben doch eine relativ große Gruppe, die keinen Zugang zum Wahlrecht hat, und zu Kultur oder Bildungschancen keinen Zugang findet. Da müssten wir uns als Gesellschaft viel mehr anstrengen, um diese Menschen aktiv hereinzuholen.

Warum treffen wir uns gerade im Café Prückel und nicht in einem der vielen progressiven Wiener Cafés mit einem Angebot aus nachhaltiger Landwirtschaft? 

Erstens, weil es pragmatisch ist. Es liegt direkt am Weg zwischen meinem Zuhause und dem Büro der Grünen. Zweitens liebe ich diesen großzügigen Raum. Die Höhe, das Licht und die Einrichtung aus den Fünfzigerjahren. Ich bin wohl auch selbst eine Mischung aus altmodisch und modern. 

Konnten die Grünen das Image des erhobenen Zeigefingers abschütteln? 

Beim erhobenen Zeigefinger ist viel Klischee dabei. Das schreiben uns andere gern zu. Es gibt sicher Menschen, die ihre Überzeugungen zum Maßstab aller Dinge machen, und das nervt natürlich. Ich behaupte aber einmal, dass es solche Menschen nicht nur bei den Grünen gibt. Unsere Truppe, die jetzt zu den Wahlen antritt, ist eine mit Menschen mit viel Lebenserfahrung aus verschiedensten Bereichen, die sich recht neu zusammengefunden hat. Jemanden mit erhobenem Zeigefinger habe ich bei den Grünen nicht getroffen.

In einem Interview haben Sie über die Themenauswahl Ihrer Kolumnen für Die Presseund den Falter gesagt: “Ich möchte also eigentlich immer dort sein, wo es nicht passt.” Haben Sie auch Meinungen, die nicht zur Linie der Grünen passen?

Die Grünen sind kein homogener Block an Weltanschauung. Aber ich glaube, ich habe oft parallele Entwicklungen durchgemacht wie die Grünen. Im Sommer, als ich mit der Politik begann, habe ich mir darüber viele Gedanken gemacht. Ich habe mich rückblickend gefragt, welche Orte, Personen und Erlebnisse in meinem Leben meine politischen Überzeugungen geschärft haben, und bin draufgekommen, dass ich tief drinnen wahrscheinlich immer schon eine Grüne war. Begonnen hat meine Politisierung mit der Besetzung der Hainburger Au, als ich 18 Jahre alt war. Dann habe in meinem Leben viele Umwege gemacht. Als Studentin hatte ich zum Beispiel eine Phase, in der ich Anarchie cool fand. Später war ich in Afghanistan und habe gesehen, was das überhaupt bedeutet. Anarchie heißt: Wer die größere Waffe hat, gewinnt. Wer sieht, was das Ausgeliefertsein und die Willkür mit Menschen macht, ist gegen die Faszination des Anarchismus ein für alle Mal immun. 

Hatte Peter Pilz mit seiner Kritik an den Grünen recht?

Das weiß ich nicht, weil ich da noch nicht bei den Grünen war. Ich habe von außen natürlich gesehen, dass es Zerwürfnisse gab. Aber die Hintergründe habe ich nur geahnt, so wie alle anderen Wähler auch.

Was sagen Sie zu der Kritik, die Grünen ließen beispielsweise Migrationsfragen unbeantwortet?

Das Migrationsthema muss man sachlich und aktiv ansprechen. Wir stehen auf der Basis von Menschenrechten, Ordnung und Rechtsstaatlichkeit, immer mit dem Ziel, Probleme tatsächlich zu lösen. Das unterscheidet uns von Kurz oder Kickl, die in ihrer Regierungszeit über Migrationsprobleme vor allem deswegen geredet haben, um sie politisch auszubeuten und Konflikte zu schüren. Als die Flüchtlingskrise in der Öffentlichkeit hysterisiert wurde, haben die Grünen wohl tatsächlich versucht, sich dem Thema ein Stück weit zu entziehen. Ich weiß nicht, was man damals hätte besser machen können. Jetzt sind die Gemüter wieder etwas beruhigt. Jetzt können und müssen wir das Thema sachlicher angehen.

Das ist keine Frage, die der Einzelne lösen kann, indem er Waren boykottiert. Da müssen Preisgestaltung, Steuermaßnahmen und Gesetze her. Deswegen möchte ich Politik im Nationalrat und nicht privat im Supermarkt machen. Was natürlich nicht heißt, dass ich nicht auch Bioprodukte kaufe.

Hätten Sie lieber eine Frau an der grünen Spitze?

Ich hätte immer lieber eine Frau an der Spitze, solange wir generell zu wenig Frauen in Führungspositionen haben. Aber auf der grünen Liste sind derzeit etwa zwei Drittel Frauen, und wir sind sicher nicht die stillsten. Bei uns ist das anders als bei Sebastian Kurz, der sich ein paar handverlesene Quereinsteigerinnen aussuchte, die dann in seiner Regierung und im Parlament nichts reden durften. Wir haben Regeln bei der Listenerstellung, die noch elaborierter sind als das Reißverschlusssystem, damit Frauen nie in der Minderheit sind. Außerdem sind die Männer auf unserer Liste Feministen. Was anderswo nicht selbstverständlich ist. 

Warum gehen Sie ausgerechnet jetzt in die Politik? 

Ich habe das Problem mit dem Klimawandel plötzlich persönlich gespürt. Dass es mich wie alle betrifft. Jetzt ist der letzte Zeitpunkt, zu dem wir noch etwas ändern könnten. Zu diesem Gefühl der Dringlichkeit haben sicher auch meine Kinder und die Fridays-for-Future-Demos beigetragen.

Österreichisches Bio-Obst, E-Autos, keine Flugreisen: Inzwischen ist es en vogue, sich mit Klimaschutz im privaten, kleinen Raum auseinanderzusetzen. Jedoch zeigt beispielsweise eine Studie der University of California, dass der weltweite Flugverkehr 2014 nur zwei Prozent der gesamten Treibhausgas-Emissionen ausgemacht hat. Wie sinnvoll ist denn der individuelle Klimaschutz ohne konkrete staatliche Maßnahmen? Wälzt der Staat Verantwortung an den Bürger ab?

Es ist definitiv nicht nur die Verantwortung des Einzelnen. Wenn der Staat festlegt, dass wir Sprit für Autos, jedoch nicht für Flugzeuge besteuern, ist das eine politische Entscheidung. Wenn Bio-Fleisch teurer ist als konventionelles, weil die ganzen Umweltschäden der industriellen Fleischproduktion nicht eingepreist werden, ist das eine politische Entscheidung. Das ist keine Frage, die der Einzelne lösen kann, indem er immer das Kleingedruckte auf den Packungen liest und Waren boykottiert. Da müssen Preisgestaltung, Steuermaßnahmen und Gesetze her. Deswegen möchte ich Politik im Nationalrat und nicht privat im Supermarkt machen. Was natürlich nicht heißt, dass ich nicht auch Bioprodukte kaufe.

Müssen wir als Gesellschaft unseren Konsum-Wahn ablegen? 

Wir konsumieren alle nach wie vor sehr viel. Auch wenn wir ökologisch konsumieren, konsumieren wir. Es müssen Umweltschäden in die Preise der Konsumgüter eingerechnet werden. Am Ende müssen jene Produkte, die umweltschonend hergestellt werden, billiger sein. Es ist eigentlich völlig logisch, dass das Steak aus Argentinien mehr kosten müsste als jenes vom Bauern nebenan. Heute ist das aber nicht so.

Unsere Glaubwürdigkeit wurde über Jahrzehnte aufgebaut. Dass die anderen Parteien jetzt davon reden, aber es nicht besonders ernst meinen, durchschaut sowieso jeder. Niemand nimmt es Kurz ab, wenn er “Wasserstoff!” ruft und meint, damit sei das Klimaproblem gelöst.

Wollen Sie Ihre Klimaziele durch Verbote oder durch Anreize erreichen?

Die Klimawende wird eine Mischung aus beidem sein. Es wird natürlich Dinge geben, die man verbieten muss – tierqulälerische Praktiken in der Viehzucht zum Beispiel. Klar ist das ein Verbot. Aber gleichzeitig ermöglicht es Tierwohl. So wie in vielen Verboten gleichzeitig neue Freiheiten stecken. Ein Rauchverbot bedeutet Nichtraucherschutz. Ein Fahrverbot für Autos öffnet Raum für Fußgänger.

Inzwischen schreiben sich alle, selbst die FPÖ, Umweltschutz groß auf die Fahne. Warum braucht es die Grünen überhaupt noch?

Wir sind die Einzigen, die da glaubwürdig sind. Wir haben durchdachte Konzepte, die auch namhafte Wissenschaftler aus Österreich unterstützen. Unsere Glaubwürdigkeit bei diesem Thema haben wir über Jahrzehnte aufgebaut. Dass die anderen Parteien jetzt davon reden, aber es nicht besonders ernst meinen, durchschaut sowieso jeder. Niemand nimmt es Kurz ab, wenn er “Wasserstoff!” ruft und meint, damit sei das Klimaproblem gelöst.

Die Wahlprogramme der anderen Parteien sind also nicht glaubwürdig?


Ich bin nicht die Expertin für Klimaschutz, das wäre Leonore Gewessler, die Zweite auf unserer Bundesliste. Als Laie schaut für mich das Konzept der NEOS eher wie ein Steuersenkungskonzept aus, das für wohlhabende Menschen wenig Anreiz für eine Verhaltensänderung bringt, denn im Wesentlichen kann man dann weitermachen wie bisher, wenn man mehr für den Sprit zahlt. Große Autos würden sogar billiger. Unser grünes Konzept stellt hingegen den öffentlichen Verkehr in den Mittelpunkt –

es braucht eine Mobilitätsgarantie auch auf dem Land.

Klimaschädliche Arten von Verkehr werden teurer, klimafreundliche deutlich billiger. Ziel ist der Ausstieg aus Verbrennungsmotoren innerhalb von zehn Jahren. Dass wir aus der fossilen Art der Fortbewegung aussteigen müssen, hat ja jetzt endlich auch die Autoindustrie in Deutschland kapiert. Die haben 20 Jahre lang versucht, das Problem zu ignorieren.

Die grüne Mobilitätsgarantie schlägt vor, dass jede Gemeinde mit über 250 Einwohnern mindestens zwölfmal täglich Zugang zu öffentlichen Verkehrsmitteln erhält. Das sei absolut realitätsfremd, so Kritiker. (Anm.d.Red.)

Wieso sollte man in sozialpolitischen Fragen die Grünen und nicht die SPÖ wählen? 

Die SPÖ hat in der Sozialpolitik große historische Verdienste. Aber heute sind die sozialen Problemlagen vielfältiger geworden, da brauchen wir persönlichere Lösungen. Im Moment schicken wir hilfsbedürftige Leute aufs Sozialamt, wo sie ständig neue Zettel ausfüllen und Bestätigungen bringen müssen, damit sie Geld bekommen. Das ändert aber an ihrem Problem nichts. Sinnvoller wäre es, Menschen individuell zu begleiten, und die Ursache für ihre Notlage zu identifizieren: Bist du überschuldet, hat dein Problem mit Alkohol zu tun, brauchst du einen Sprachkurs, eine Umschulung, eine Therapie oder vielleicht eine Scheidung? Dann wird ein Fahrplan gemacht, um das Problem zu lösen, und in dieser Phase hat man ein Recht auf materielle Absicherung. So ähnlich würde das grüne Modell der Grundsicherung funktionieren.

Was halten Sie vom bedingungslosen Grundeinkommen?

Das Grundeinkommen ist eine interessante Idee, die schon seit Jahrzehnten leidenschaftlich diskutiert wird und teilweise auch ausprobiert wurde, in Finnland zum Beispiel. Im Moment halten wir es nicht für sinnvoll. Es kostet natürlich wahnsinnig viel Geld, und man gibt dann alle

Steuerungsmöglichkeiten, die die Politik ansonsten hätte,

aus der Hand. 

“Steuerungsmöglichkeiten der Politik” könnte natürlich genauso Klientelpolitik heißen. (Anm.d.Red.)

Welches Modell stellen sich die Grünen für die Lösung der europäischen Flüchtlingsfrage vor? Wie soll eine “gerechte Verteilung” von Flüchtlingen aussehen?

Wir brauchen sicher eine geschützte gemeinsame EU-Außengrenze, und wir brauchen eine vernünftige gemeinsame EU-Asylpolitik mit einheitlichen Standards. Dass Menschen zuerst an unsere Grenze kommen müssen, bevor sie einen Asylantrag stellen dürfen, zwingt sie dazu, dass sie sich unter großen Gefahren auf den Weg hierher machen. Das ist ein völlig falscher Anreiz! Wir müssen den Zugang zu Asylverfahren in den Herkunftsregionen erleichtern. Die Abschaffung des Botschaftsasyls war ein riesiger Fehler. Jemand, der verfolgt wird, muss zumindest in einem der Nachbarländer Zugang zu einer diplomatischen Vertretung haben, im Idealfall einer gemeinsamen Vertretung der EU. Weiters müssen wir legale Migration ermöglichen. Ich kann mir Vermittlungsstellen in verschiedenen Regionen vorstellen, wo europäische Länder kundtun, für welche Jobs sie gezielt Leute suchen. Afghanische Lehrlinge haben auf unserem Arbeitsmarkt Lücken geschlossen – aber warum konnten die ausschließlich über die Asylschiene hierher kommen? Natürlich werden für abgelehnte Asylwerber auch Abschiebungen notwendig sein. Niemand kann ein Interesse daran haben, dass in Europa Menschen leben, die keinerlei Perspektive haben, weil sie nicht arbeiten dürfen, sich nicht selbst erhalten können, aber auch nicht zurückgeschickt werden können. Dafür braucht es Abkommen mit den Herkunftsländern. Im Gegenzug dafür, dass sie abgelehnte Flüchtlinge zurücknehmen, könnten diese Länder beispielsweise Stipendienprogramme für Studenten bekommen. Da brauchen wir ehrliche Lösungen, die man ordentlich verhandeln muss – was unsere letzte Regierung allerdings total versäumt hat. 

Die ÖVP liegt in Umfragen bei über 35 Prozent. Was macht Sebastian Kurz richtig?

Er hat zweifellos ein Talent, sich gut darzustellen. Wie wir jetzt nachlesen können, hat er es geschafft, dafür sehr viel Geld aufzustellen, ist wahnsinnig gut in der PR, setzt sich gekonnt in Szene und setzt sehr gezielte Botschaften ab. Wie belastbar er ist, wenn etwas nicht nach seinem Plan läuft, wissen wir nicht. Ich glaube, dass es ihm in Krisenzeiten an Lebenserfahrung fehlt.