„Recht ist durchsetzbar, Moral an sich nicht.”

Von Simon Nehrer, Mario Stepanik & Johannes Almási-Szabó

Dieses Gespräch wurde im März 2019 mit der noch-Verfassungsgerichtspräsidentin Brigitte Bierlein geführt, behält aber bis heute seine Relevanz. Über Demokratie und Rechtsstaat.

Frau Präsidentin, wozu braucht es Gesetze?

Weil ein friedliches Zusammenleben der Menschen ohne gewisse Regelungen nicht möglich ist. Klare Regeln sorgen für Abgrenzungen. Letztlich muss der Staat auch in der Lage sein, diese Regeln durchzusetzen. In einer Demokratie kann das nur über eine gewählte Volksvertretung erfolgen. Regeln gehören einfach zum Zusammenleben.

Reicht es für den Erhalt der Demokratie, nur dem Gesetz zu folgen?

Die Demokratie ist vom Volk getragen – Art. 1 unserer Bundesverfassung: „Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus.“ Das wird gewährleistet, indem der Rahmen der Gesetzgebung und gewählte Volksvertretungen die Organe bestimmen, die dann für die Einhaltung der Gesetze verantwortlich sind.

Recht ist durchsetzbar, Moral an sich nicht.

Ist es aber immer genug, nur dem Gesetz zu folgen? Oder braucht es auch etwas wie Tugend oder Moral, um eine Demokratie zu bewahren? Oftmals beziehen sich Politiker darauf, ja nur dem Recht zu folgen, tun aber dennoch vielleicht nicht das Richtige.

Im Idealfall decken sich Moral und Recht. Dieser Idealfall ist natürlich nicht immer gegeben. Recht ist durchsetzbar, Moral an sich nicht. Das Recht hat auch die Aufgabe, gesellschaftliche Entwicklungen nachzuvollziehen. Das ist vielleicht etwas salopp formuliert, aber wenn Moral und Recht zu sehr auseinanderdriften, können gefährliche Entwicklungen entstehen. Denken Sie an die NS-Zeit; damals ist einer solcher Zustand besonders deutlich geworden.

Welche Rolle spielt der Verfassungsgerichtshof in der Erhaltung der Demokratie? Auf dem Weg in den Austrofaschismus wurde der Verfassungsgerichtshof 1933 durch Rücktritte einiger Mitglieder beschlussunfähig. Hätte er die Entstehung eines undemokratischen Systems verhindern können? Könnte er es heute?

Der Druck der damals Mächtigen auf den Verfassungsgerichtshof war 1933/34 so groß, dass er beschlussunfähig wurde. Der Rücktritt mehrerer Mitglieder war ja nicht freiwillig. Wir sind 14 Richterinnen und Richter: der Präsident, der Vizepräsident und zwölf Mitglieder. Ab acht stimmführenden Mitgliedern – abgesehen vom Präsidenten, der grundsätzlich kein Stimmrecht hat – wäre die Beschlussfähigkeit des Verfassungsgerichtshofs, auch damals schon, gegeben. Die Verfassung ist bald 100 Jahre alt, hat sich aber diesbezüglich seit der Novelle von 1929 nicht geändert. Unter Druck sind dann sieben Mitglieder zurückgetreten. Damit war das Plenum gemäß Verordnung vom 23. Mai 1933 stimmunfähig, der Verfassungsgerichtshof ausgeschaltet. Erst 1945 wurde er dann wieder nach dem Modell von 1929 eingerichtet.

Ich denke nicht, dass das heute möglich wäre. Der österreichische Verfassungsgerichtshof ist als Hüter der Verfassung und Wahrer der Grundrechte in der Zweiten Republik unbestritten. Er war auch Vorbild für viele andere Verfassungsgerichte weltweit, auch für ehemalige kommunistische Ostblockstaaten. Deutschland hat seit den 1950er Jahren ein ähnliches Modell, wenn auch mit unterschiedlichen Ausformulierungen. Das österreichische Modell ist eine internationale Erfolgsgeschichte. Das andere System ist das US-amerikanische, in dem jedes Gericht Normen auf Verfassungsmäßigkeit prüfen kann. Das österreichische Modell war nach dem Ersten Weltkrieg epochemachend. Auch wenn man sich heute gar nicht mehr vorstellen kann, wie revolutionär das Konzept von „Gründervater“ Hans Kelsen und anderen war. Erstmals konnte ein spezielles, eigens dafür verantwortliches Gericht Gesetze überprüfen und gegebenenfalls aufheben. Eine Kontrolle des Parlaments durch ein Gericht, das war nach dem Zusammenbruch der Monarchie 1918/19 wirklich etwas Revolutionäres. Heute haben wir zum Glück demokratische Verhältnisse und diese stehen in Österreich auf sehr soliden Fundamenten. Auch wenn es Entwicklungen in Teilen von Europa gibt, die aus meiner Sicht doch zu gewisser Besorgnis Anlass geben.

Orbán in Ungarn und Kaczynski in Polen hinterfragen Rechtsstaat und Gewaltenteilung. Der österreichische Innenminister Herbert Kickl sagte zuletzt, das Recht habe der Politik zu folgen, und nicht die Politik dem Recht.

Politik hat natürlich der Gesetzgebung zu folgen und nicht umgekehrt, auch wenn Parlamente Gesetze beschließen und diese natürlich auch ändern können. Sie haben dabei einen Gestaltungsspielraum, um gesellschaftspolitische Entwicklungen aufzufangen. Die Grenzen für die Politik ist natürlich die Verfassung, insbesondere die Baugesetze der Verfassung: das demokratische, das föderale, das rechtsstaatliche Prinzip und die Gewaltenteilung. Wie schon Immanuel Kant treffend sagte: “Das Recht muss nie der Politik, wohl aber die Politik jederzeit dem Recht angepasst werden. Alle Politik muss ihr Knie vor dem Recht beugen.”

Würden Sie sagen, dass der Innenminister als Philosophiestudent diesen Satz vielleicht bewusst umgedreht hat?

Das kann und will ich nicht beurteilen. Ich sage ja üblicherweise immer, dass ich zu Aussagen tagespolitischer Art keinen Kommentar abgebe. Aber der Satz von Kant hat in dem Zusammenhang gut gepasst.

Das kann man, wenn man will, als einen gewissen Hoffnungsstrahl sehen, dass Polen sich an diese Anordnungen aus Luxemburg gehalten hat.

Dennoch eine Frage zur Tagespolitik in Polen: Sie werden aufgrund der Altersgrenzen nur bis Ende 2019 Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs bleiben. Eine Justizreform in Polen setzte jene Altersgrenzen für die obersten Richter herab und torpedierte so laut EU-Kommission den “Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit und insbesondere auch der Unabsetzbarkeit von Richtern”. Wie sehen Sie die Lage in Polen?

Es ist vor diesem Hintergrund erstmals in der Geschichte der EU ein Art. 7-Verfahren nach den Verträgen der EU eingeleitet worden, weil in Polen die Altersgrenze gleichsam über Nacht heruntergesetzt wurde, um bestimmte Richter oder Richterinnen nicht mehr im Aktivstand zu haben. Es hat auch der EuGH in Luxemburg eine einstweilige Verfügung gegen Polen erlassen, um dies rückabzuwickeln. Polen hat sich – immerhin – daran gehalten. Das Gesetz wurde zurückgenommen und den Richtern die Möglichkeit eröffnet, wieder an die frühere Stelle zu treten. Es haben nicht alle Richter davon Gebrauch gemacht, aber einige schon. Das finde ich bemerkenswert. Das kann man, wenn man will, als einen gewissen Hoffnungsstrahl sehen, dass Polen sich an diese Anordnungen aus Luxemburg gehalten hat.

Das Art. 7-Verfahren ist technisch ein relativ kompliziertes und schwerfälliges Verfahren, das für den Entzug des Stimmrechts am Ende des Tages die Einstimmigkeit der EU-Mitglieder voraussetzt. Die EU ist ein Staatenverbund. Man hat sich bei der Gründung darauf geeinigt, dass sich alle Mitgliedstaaten an die Rechtsstaatlichkeit und andere Grundsätze halten, was aber inzwischen leider in mehreren Fällen etwas fraglich geworden ist. Ich hoffe aber, dass bei Polen und Ungarn – denn auch gegen Ungarn ist ein Art.7-Verfahren eingeleitet worden – der Rechtsstaat obsiegt. Der österreichische Verfassungsgerichtshof pflegt auch sehr gute und regelmäßige  Kontakte zu den polnischen und ungarischen Verfassungsgerichten. Wir nahmen erst kürzlich an einer Tagung in Budapest teil, bei der ich über die Bedeutung der richterlichen Unabhängigkeit und deren Gefährdungen vorgetragen habe. Es ist wichtig, den betreffenden Regierungen zu zeigen, dass die Verfassungsgerichte in Europa zusammenhalten und einander den Rücken stärken.

Versuchen wir noch, auf die EU einzugehen: Die EU ist kein Staat und hat keine Verfassung. Was ist sie aus rechtlicher Perspektive?

Ein Verbund von Staaten, die sich zusammengeschlossen haben; ursprünglich aus wirtschaftlichen Gründen, danach auch mit politischen Dimensionen. Ich bin eine leidenschaftliche Europäerin und ich finde Entwicklungen, die die Union gefährden, alles andere als positiv, wenn man an den Brexit oder an die bereits angesprochenen Entwicklungen in einigen früheren Ostblockstaaten denkt. Wenn auch nicht alles perfekt funktioniert und gewisse Schwerfälligkeit herrscht, hat die Europäische Union allen Mitgliedstaaten große Vorteile gebracht. Europa kann nur durch Zusammenhalt stark bleiben, was ohnehin schwierig ist gegen die anderen Großmächte, die es, ohne jetzt zynisch zu werden, positiv sehen, wenn Europa nicht mehr so stark ist. Ich halte die Europäische Union dann für zukunftsträchtig, wenn sie weiterhin Stärke und Eintracht beweist.

Es gibt durchaus eine explosionsartige Flut an Richtlinien und Verordnungen, die den nationalen Gesetzgeber natürlich sehr fordern.

Die österreichische Verfassung, dieses wunderbare Werk Kelsens, ist doch ein wenig in Konflikt mit dem EU-Beitritt Österreichs gestanden. Es hat einer Volksabstimmung bedurft, weil in Grundprinzipien eingegriffen wurde. Wie ist es möglich, dass der Beitritt zur EU in diese Prinzipien eingreifen hat müssen?

Weil die Verfassung ja nur für Österreich verfasst wurde – 1920 war von der EU natürlich noch keine Rede. Auch wenn die Verträge der Union ein großartiges Werk sind, musste vor dem Beitritt eine Volksabstimmung stattfinden, weil damit bis zu einem gewissen Grad in die Gewaltenteilung und Souveränität unseres Staates eingegriffen wurde. Es gibt ja das primäre und das sekundäre Unionsrecht, das man ohne Volksabstimmung nicht übernehmen hätte können. Die Volksabstimmung selbst ist mit einer Zustimmung von über 66 Prozent deutlich für einen EU-Beitritt ausgefallen.

Gibt es einen Kern der österreichischen Verfassung, der unter keinen Umständen von EU-Gesetz angetastet werden könnte?

Der Kern der Bundesverfassung sind die Baugesetze. Wir versuchen zwar, unsere Judikatur an jener der beiden europäischen Gerichte zu orientieren und diese auch, soweit es möglich ist, zu beachten. Wenn wir abweichen, was selten vorkommt, dann wird das sehr exakt begründet.

Wie unterscheidet sich der EuGH vom österreichischen Verfassungsgerichtshof in seiner Befähigung, das Recht auszulegen und vielleicht auch weiterzuentwickeln?

Nur der EuGH hat die Kompetenz, Unionsrecht auszulegen. Das können nationale Verfassungsgerichte nicht. Bei anderen Fragen überlässt der EuGH die Entscheidung den nationalen Gerichten.  

Würden sie die Entwicklung des in Österreich geltenden Rechts seit dem EU-Beitritt positiv oder negativ bewerten, jetzt wo die Gesetzgebung zu einem Teil auch in den Händen der EU liegt?

Ich bewerte die Entwicklung als sehr positiv. Es sind harmonisierende Regelungen geschaffen worden. Man hat versucht – auch wenn die Nationalstaaten jeweils ihr eigenes Recht haben – das Europarecht miteinzubeziehen. Auch wenn damit im Einzelfall nicht jeder glücklich ist. Es gibt durchaus eine explosionsartige Flut an Richtlinien und Verordnungen, die den nationalen Gesetzgeber natürlich sehr fordern. Es ändert sich vieles sehr rasch und das ist für die Rechtssicherheit nicht immer gut. Das Recht und die Rechtsordnung sollten doch eine gewisse Stabilität haben, national wie international. Ich bin keine Anhängerin von Anlassgesetzgebung.

In rechtsphilosophischen Abhandlungen seit der Antike sieht man immer wieder die Maxime, das Gesetz müsse an kulturelle Gegebenheiten angepasst werden. Fällt das mit der zentralisierten europäischen Gesetzgebung teilweise weg?

Es gilt das Subsidiaritätsprinzip. Die EU sollte nur dann Normen initiieren, wenn dies mit der Subsidiarität in Einklang steht.

Hält sie sich daran?

Es gibt ja meistens einen Spielraum, auch bei Unionsrechtsvorgaben. In vielen Fällen ist es nicht ganz strikt und der Gesetzgeber kann innerstaatlich schon noch viel auf nationaler Ebene tun. Die Rechtsfortentwicklung halte ich an sich für positiv.

Welche Grundrechte sehen Sie im 21. Jahrhundert am meisten bedroht?

Das Persönlichkeitsrecht und Datenschutzrechte. Das wird uns auf nationaler, europäischer und globaler Ebene in Zukunft sicher noch sehr beschäftigen. Wobei ich natürlich sehe, dass manche Entwicklungen insgesamt schwer aufzuhalten sind. Aber das Grundrecht auf Datenschutz ist weiterhin ein sehr hohes Gut. Der zweite Punkt betrifft die Persönlichkeitsrechte, besonders in Hinblick auf die Migrationsflüsse der letzten Jahre. Das Fremden- und Asylrecht sind Herausforderungen, die uns aktuell und vermutlich noch lange beschäftigen werden.

Auf der anderen Seite ist die EU auch „nur“ ein Staatenverbund. Es geht wohl nicht anders als mit dem Einstimmigkeitsprinzip, vor allem für kleinere Länder wie Österreich oder Malta.

Was können zukünftige Generation leisten, um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit weiterhin zu gewährleisten?

Ich glaube, dass die Bewusstseinsbildung unglaublich wichtig ist; dass man den Wert einer Demokratie, die ja für die Jugend ohnedies schon selbstverständlich ist, immer wieder neu betonen muss. Trotz allem sind auch Grundwerte leider vielfach fragil, z.B. die Rechtsstaatlichkeit, wenn man zu manchen Nachbarstaaten schaut. Man kann das Bewusstsein daher nicht früh genug und nicht eingehend genug schärfen, damit die Jugend und die späteren Generationen entsprechend sensibilisiert werden, um negative Entwicklungen, die es da und dort gibt, frühzeitig zu verhindern.

Vor allem wäre wichtig, dass auch die Jugend, die ja auch schon relativ früh wählen kann, den hohen Wert einer Wahlberechtigung erkennt.

Wir widmen unser Magazin vor allem jungen Lesern. Können sie ihnen vielleicht in einfachen Worten erklären, wieso solche Angriffe auf Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und Unabhängigkeit der Justiz solchen Wirbel machen?

Weil es Grundfundamente des Staates sind und wenn diese „Spielregeln“ nicht eingehalten werden, kann die Demokratie gefährdet werden. Die Demokratie ist die beste aller Staatsformen, wie Winston Churchill einmal gesagt hat. Das ist Faktum, seit der Antike, weil das Gegenteil Tyrannei ist und jeder Rückschritt von der Demokratie einen Weg in Richtung einer Entwicklung eröffnet, die wir, oder zumindest ich, in Europa sicher nicht haben wollen. Politische Bildung, schon ab der Mittelschule, ist sehr wichtig. In der Schule und auch im Studium wird, so hoffe ich, Wert darauf gelegt, dass man den Wert der Demokratie erkennt; dass man auch zu Wahlen geht. Das Wahlrecht wurde ab dem Jahre 1848 und für Frauen in Österreich erst 1919 erkämpft. Vor allem wäre wichtig, dass auch die Jugend, die ja auch schon relativ früh wählen kann, den hohen Wert einer Wahlberechtigung erkennt.

Dazu versuchen wir auch, unseren Beitrag zu leisten.

Ich bin sehr froh, dass es solche Initiativen gibt!