„Jede Partei braucht Flügel. Sonst kann sie ja nicht fliegen.“

VON CHRISTOPH HERLER UND MAX SCHACHERMAYER

Unser Plan war ursprünglich, einige ehemalige Politiker über die österreichische Innenpolitik reflektieren zu lassen. Am Ende hat leider nur Matthias Strolz zugesagt, und auch nur, weil wir ihm zufällig in Alpbach über den Weg gelaufen sind. Abseits des Feiertrubels erzählt er eifrig: über rhetorische (Miss-)Erfolge, pinke Aufbruchstimmung und liberales Umweltbewusstsein.

Wie geht es Österreich heute?

Diffus. Im Übergang zur Vierten Republik.

Strolz nimmt auf seinen Artikel in der Wochenzeitung Die Zeit Bezug.

Wir persönlich hören ja schon bei der Zweiten Republik zu zählen auf. Was ist denn die Dritte Republik, in der wir uns gerade befinden? 

Die Dritte Republik ist eine politische Eileiterschwangerschaft. Sie war zwar schwarz-blau angelegt, kommt aber nicht voll ins Leben. Das ist meine Prognose. Fußnote: Möglicherweise ist der Wunsch der Vater des Gedankens.

Was hat Sie so an der österreichischen Politik gestört, das sich nur mit der Gründung einer eigenen Partei korrigieren ließ?

Der Stillstand war 2010 erdrückend. Wenn man genauer hinsah, wurde klar, dass die Zweite Republik zu Ende gegangen war. Die Zweite Republik definierte sich durch das Muster eines dominanten rot-schwarzen Machtkartells. All diese Strukturen waren nicht mehr vital, korruptionsanfällig, selbstverliebt und nicht zukunftsfähig. Da haben wir gesagt: Wir müssen diesem Land eine neue Kraft der Mitte und der Vernunft stiften. Eine moderne, werte-basierte Bewegung. Langläufig wurden wir als liberale Partei apostrophiert. Ich hätte dazu ganz andere Etiketten, mit denen ich mich aber nicht verständlich machen konnte.

Was hat Sie nach Ihrem Einzug ins Parlament überrascht?

(Denkt lange nach.) Es menschelt schon sehr in der Politik. Wenn du hinter die Kulissen blickst und die Beziehungsdynamiken auf persönlicher Ebene kennenlernst, dann erschließen sich plötzlich viele Dinge.

Haben Sie ein Beispiel?

Wenn du zehn Stunden hinter Glawischnig oder Strache sitzt, dann entwickelst du bei der Sitzung ein Persönlichkeitsprofil dieser Person. Das ist wie Schulausflug jede zweite Woche. Du kannst dann Dynamiken aufgrund von Persönlichkeitsstrukturen verorten. Wobei: Die Politik formt dich und du die Politik. Meinen Vorsatz, immer mit etwas Positivem zu beginnen, konnte ich bei Reden nicht durchhalten. Ab einem gewissen Punkt übernimmst auch du selbst gewisse Muster des Systems – zum Beispiel, dass Opposition Angriff heißt.

Gibt es etwas, das Sie nachträglich bereuen?

Ich bereue nichts. Anders machen würde ich vieles, weil ich natürlich gescheiter geworden bin. NEOS war immer bereit, Fehler zu machen, da unsere Lernkurve steil war. Dazu musst du Fehler machen. Zweimal denselben Fehler darfst du aber natürlich nicht machen. Die Kommunikation beim Thema Wasser wurde durch teure und bösartige Kampagnen gegen uns verdreht. Wir waren bei Cannabis gleichermaßen hilflos ausgeliefert. Da hätte ich es schon besser gewusst. Die JUNOS haben mir das damals nicht geglaubt. 

Die NEOS konnten sich 2013 mit Kritik an alteingesessenen Parteien und Proporzstrukturen profilieren. Vermissen Sie den alten österreichischen Politikertypus heute, da der “Neue Stil” eingekehrt ist?

Der “Neue Stil” kam eigentlich von uns. „Neue Köpfe, neuer Stil, neue Politik“ war schon 2012 unser Slogan. Nur konnten wir damit nicht durchbrechen. 2008 organisierten wir schon als sogenannte Eulennest-Gruppe eines der ersten österreichischen politischen Großgruppenformate mit dem Titel “Es braucht einen neuen Stil in der Politik”. Angesichts der Ibiza-Koalition habe ich tatsächlich ab und zu Heimweh nach den alten Zeiten gehabt. Aber das war ja auch nicht die Lösung. Ich hoffe, dass die Ibiza-Koalition ein Hofnarr der Zeitgeschichte war, den wir im Übergang zu einer höheren Qualität brauchten.

Türkis ist also eine farbliche Ableitung von Pink?

Türkis hat natürlich viel Inspiration getankt. Ohne NEOS würde es Sebastian Kurz in dieser Form nicht geben. Das geben die auch alle zu. Jetzt sind das zweifelhafte Verdienste. Der Eintritt der systemischen Kraft NEOS hat aber dazu geführt, dass andere Parteien unter Reformdruck kamen. Ich denke auch, dass der Wechsel in der SPÖ damals von uns mitinitiiert wurde. Deswegen waren auch die Kampfmethoden gegen uns so brutal. Man hat mir zugesichert, man würde mich in drei Tagen umbringen. Und zwar nicht irgendwer, sondern der Generalsekretär der ÖVP. Nicht körperlich natürlich, aber sie wollten mich in eine Insolvenz treiben. Man hat Bankkredite eingestellt, hat versucht, mich unternehmerisch tot zu machen. Das wäre auch fast gelungen. Jede Lehrerin aus Niederösterreich, die für die NEOS gespendet hat, bekam einen Anruf vom Bürgermeister. In einer Demokratie ist das nicht in Ordnung. 

Die NEOS finden unter anderen Parteien keine großen Freunde. Das merken auch wir in unseren Interviews. Peter Pilz bezeichnete die NEOS im Interview als “rechte Partei”. Ist das liberale Element der österreichischen Seele fremd?

Wir haben dazu einfach keine geschichtliche Tradition. Grundsätzlich denke ich aber, dass ein liberales Element in einer westlichen Demokratie in der DNA gespeichert ist. Zu Beginn unserer Gründungsphase wollten wir mit den Etiketten des 20. Jahrhunderts nichts zu tun haben, wollten partout nicht liberal sein, da die diversen “-ismen” im letzten Jahrhundert hunderte Millionen Menschen ins Jenseits befördert haben. Armin Wolf twitterte einmal, NEOS sei eine Caffè-Latte-Partei; also inhaltlich beliebige Bobos. Das war für mich unglaublich kränkend, da wir schon über eine Million ehrenamtliche Stunden investiert hatten. Da dachte ich mir: Lass uns ein Etikett nehmen, das die Menschen verstehen. Ich hätte treffendere Etiketten, die aber nicht geländegänging genug sind, von “systemisch” über “integral” bis “wertebasiert postmodern.”

Welche verschiedenen Spannungen, Flügel oder auch Differenzen gibt es innerhalb der NEOS? Wo sahen Sie die größten inhaltlichen Weichenstellungen und Veränderungen in den letzten Jahren?

Jede Partei hat Flügel, sonst kann sie ja nicht fliegen. (großes Gelächter) Eine Partei ohne interne Komplikationen ist eine tote Partei. Wir hatten keine so große monolithische gesellschaftliche Welle, auf der wir geritten sind, wie beispielsweise die Grünen; sie scheiterten ja auch beim ersten Versuch 1983. Aber wir konnten immer gut integrieren. Die Grünen konnten es erst im Angesicht der Niederlage. In manchen Bundesländern brauchten sie vier Antritte, bis sie in den Landtag einzogen. NEOS ist neben den drei Lagerparteien mit Abstand die am schnellsten wachsende Partei der Zweiten Republik. Sogesehen ist uns ein Jahrhundertprojekt gelungen. 

Wenn Sie sich eine politische Reform für Österreich wünschen könnten, welche wäre das?

Natürlich eine Bildungsreform. Ich würde Österreich eine umfassende Schulautonomie verordnen, damit die konstruktiven Kräfte in Entfaltung kommen. Diese müssen mit ganz viel Kooperation kombiniert werden, damit der Wettbewerb nicht in die soziale Aufspreizung führt und Bildung noch stärker vererbt wird. 

Ihr und auch Christian Kerns Rücktritt erfolgten nicht zuletzt angesichts einer fünfjährigen Oppositionsrolle. Bereuen Sie Ihren frühen Abgang, nun da ein neuer Wahlkampf und eine neue Chance auf eine Regierungsbeteiligung ansteht?

Nein, überhaupt nicht. Ich bin mit mir im Frieden und habe stille “Vaterfreuden”, da ich eine kraftvolle Nachfolgerin sehe. 

Sie schließen also aus, als Minister, zum Beispiel als Bildungsminister, für die NEOS Teil einer Regierung zu werden?

Das schließe ich aus.

Die heutige Aussage des OMV-CEOs Rainer Seele am Europäischen Forum Alpbach, Geld solle die einzige Motivation sein und CO2 sei nicht giftig (man trinke es ja auch im Mineralwasser), hat unter Stipendiaten für Kontroversen gesorgt. Denken Sie als Liberaler, Unternehmen haben keine andere Verantwortung, als Profite für Aktionäre zu maximieren?

Nein. Ich bin ein Anhänger der sozial-ökologischen Marktwirtschaft. Diese muss fähig sein, Umweltaspekte zu integrieren. 2014 habe ich als NEOS schon vorgeschlagen, dass wir uns vom BIP als dominante Steuergröße für Volkswirtschaften dringend abwenden müssen. Damals haben wir den “Neuwind” (neuer Wirtschaftsindikator) vorgeschlagen, ein Indikator mit 36 integrierten Steuerungsgrößen. Da sind Bildungsqualität genau wie Umwelt und soziale Dimensionen einbezogen. Herr Seeles Ansage ist dumpf. Die dominante Steuerungslogik von privatwirtschaftlichen Unternehmen ist Gewinnmaximierung, einverstanden. Als mehrfacher Unternehmensgründer sage ich aber auch immer, dass eine Gründung idealerweise um einen ideellen Zweck aufgebaut sein sollte. Dass ein Unternehmen Gewinne machen sollte, und dass das nicht böse ist, würde ich in Österreich allerdings auch gerne mehrheitsfähig machen. Die negative Stigmatisierung von Unternehmen halte ich für ebenso dumpf. Ein großes Unternehmen wie die OMV aber hat Corporate Social Responsibility. Sie haben natürlich eine soziale Verantwortung. Aus der würde ich sie nie lassen. Wenn ein CEO diese nicht spürt, muss die Gesellschaft ihn an sie erinnern. 

Sie sind, wie Sie selbst sagen, Pilot Ihres Lebens, bringen ein neues Buch heraus. Was wollen Sie unseren vielen jungen Lesern, die in einem Alter großer Veränderungen und Ungewissheiten stehen, mitgeben?

Wir leben in spannenden Zeiten. Es ist schwer, heute Pilot seines Lebens zu sein. Die heutige Generation hat so viele Möglichkeiten wie noch keine in der Geschichte der Menschheit. Das ist ein Privileg und auch eine Last. Ich bin dafür, dass man Sturm und Drang spürt, kämpft und ambitioniert ist. Kultiviert die Stimme eures Herzens. Und folgt ihr auch. Die Flügel weit spannen, und dann fliegen.

Matthias Strolz hat ein Buch geschrieben.