“Meine Fragen stören ja nur bei der Wahlrede!”
VON ARTHUR KRÖN & SIMON NEHRER
Wie geht es Österreich heute?
Österreich geht es prinzipiell ausgezeichnet. Alle Menschen, die hier geboren sind, haben in der Geburtslotterie einen Fünfer mit Zusatzzahl gemacht.
Geht es Österreich noch gleich gut wie vor der letzten Legislaturperiode?
Was die Lebenswirklichkeit der allermeisten Menschen betrifft, ist es in einem sehr ähnlichen Zustand wie vor zwei Jahren.
Sie haben mehr Erfahrung als wir: Was würden Sie Armin Wolf fragen, wenn Sie ihn interviewten?
Sorry, aber ich mache keine Spontan-Interviews ohne Vorbereitung.
Gute Antwort. Wie lange bereiten Sie sich für ein Interview vor?
Sehr ausführlich. Das ist der Hauptteil meiner Arbeit. Ich möchte möglichst alles lesen, was der Gast schon einmal öffentlich zu einem Thema gesagt hat. Ich möchte mitbekommen, wenn mir jemand einen Schmäh erzählt.
In welchem anderen Land wären Sie gerne Journalist?
Ich war einmal Amerika-Korrespondent. Das ist natürlich spannend, weil es das politisch relevanteste Land der Welt ist. Journalistisch ist bestimmt Brüssel sehr spannend. Auch wenn ich nicht unbedingt in Brüssel leben wollte. Am allerliebsten wäre ich natürlich Toskana-Korrespondent. Aber dort haben wir leider keinen.
Armin Wolf, live aus dem Chianti?
Das Chianti ist mir egal, und der Chianti auch, weil ich keinen Alkohol trinke. (lacht.)
Sie beobachten die österreichische Innenpolitik seit Jahrzehnten. Wie hat sich Österreich verändert?
Die größte Veränderung war ganz bestimmt das Wachstum der FPÖ, nachdem Jörg Haider die Partei 1986 übernommen hatte. Österreich war lange Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ein Land gewesen, das gänzlich von zwei großen Parteien dominiert wurde: der SPÖ und der ÖVP. Sie haben gemeinsam regiert, bekamen bis in die 1980er-Jahre bei jeder Wahl rund 95 Prozent der Stimmen und haben sich das Land untereinander aufgeteilt. Nicht nur die politischen Institutionen, sondern auch die verstaatlichte Industrie, staatsnahe Betriebe und so weiter und so fort. Daneben gab es noch die Sozialpartnerschaft aus Gewerkschaft und Wirtschaftskammer, die eine Art Nebenregierung war. Alle Gesetze, die Wirtschaft oder Soziales betrafen, wurden de facto in der Sozialpartnerschaft ausgemacht und im Parlament nur mehr verabschiedet. Das hat sich mit dem Aufstieg der FPÖ verändert, die zur dritten großen Partei geworden ist. Bei der Nationalratswahl 1999 hatte sie bereits 27 Prozent.
In der Sozialpartnerschaft verhandeln Interessenvertretungen der Arbeitgeber (Wirtschafts- und Landwirtschaftskammer) und Arbeitnehmer (Arbeiterkammer und Gewerkschaftsbund).
Die Proporzkritik der Haider-FPÖ war also berechtigt?
In der Nachkriegszeit wurden im Sinne der Friedenswahrung und sozialer Konsenspolitik möglichst alle Ämter unter den beiden Großparteien aufgeteilt. Kritiker bemängeln, dieses Proporzsystem habe bald vorrangig dem Machterhalt der Großparteien gedient.
Ja, ganz bestimmt. In dieser Hinsicht war Österreich nur ein halb-demokratisches System. Österreich hatte die höchste Anzahl an Parteimitgliedern in der westlichen Welt! Die SPÖ hatte mehr Mitglieder als die SPD in Deutschland. In einem zehnmal so großen Land. Das hatte weniger damit zu tun, dass es in Österreich so viele überzeugte Sozialdemokraten gegeben hätte, sondern dass es zum Beispiel in Wien geholfen hat, ein rotes Parteibuch zu haben, um eine Gemeindewohnung oder einen Job im Magistrat oder bei den Stadtwerken zu bekommen. In Niederösterreich oder Tirol war es dasselbe in Schwarz. Das hat sich aus verschiedenen Gründen geändert. Der wichtigste davon war bestimmt die Liberalisierungs- und Privatisierungswelle in den 90er-Jahren und frühen 00er-Jahren. Es gibt heute schlichtweg weniger staatsnahe Betriebe oder verstaatlichte Industrie als früher.
Und damit hatte auch die FPÖ zu tun?
Das lag bestimmt auch an der Kritik der FPÖ. Man merkt das übrigens auch daran, dass die Anzahl der Parteimitglieder zurückgeht, weil die Parteien nicht mehr so viel für einen tun können. Dann kam die schwarz-blaue Bundesregierung in den frühen 00er-Jahren. Das war ein großer Bruch. In den Alleinregierungen von ÖVP und SPÖ zwischen 1966 und 1983 hatte es noch die Sozialpartnerschaft gegeben, in der beide Großparteien – auch jene in der Opposition – an den wesentlichen Entscheidungen beteiligt waren. Das hat sich unter der schwarz-blauen Koalition verändert. Die SPÖ war nun nicht mehr im Spiel, weil der Einfluss der Sozialpartner deutlich zurückgedrängt wurde.
Die FPÖ ist natürlich nicht nur für ihre Kritik an der Parteibuchwirtschaft bekannt, sondern besonders für ihre Migrationsskepsis und Ausländerfeindlichkeit. Wie kam dieses Element ins Spiel?
Bis Jörg Haider 1986 an die Spitze kam, war die FPÖ eine völlig andere Partei: eine kleine, rechtsliberale Honoratiorenpartei aus Apothekern, Rechtsanwälten und Burschenschaftern. Ein wenig wie der rechte Flügel der FDP in Deutschland. Jörg Haider hat dann eine ganz andere Partei daraus gemacht, die zwei Botschaften hatte: Das eine war die Systemkritik, die wir gerade besprochen haben und zu der auch die Kritik an der Parteibuchwirtschaft gehörte. Der zweite Teil war die Anti-Ausländer-Politik und ab den 90er-Jahren die Kritik an der Europäischen Union.
Was unterscheidet die Haider- von der Strache- und der Hofer-FPÖ?
Die Kritik am Proporz ist natürlich unter Strache weniger geworden, weil die FPÖ mittlerweile selbst in der Regierung gewesen war und genauso ungeniert Jobs mit Parteileuten besetzt hat wie die SPÖ und die ÖVP. In dem Bereich war die Kritik nicht mehr glaubwürdig. Weniger wichtig wurde auch die Verteidigung der Weltkriegsgeneration. Das war Jörg Haider ein persönliches Anliegen, weil seine Eltern illegale Nazis gewesen waren. Aber er hatte auch ein politisches Motiv, weil zu dieser Zeit viele aus dieser Generation noch gelebt haben. Unter Strache sind dann die Burschenschafter wichtiger geworden. Haider war ideologisch viel flexibler. Nach der Trennung des BZÖ-Flügels 2005 war die Rest-FPÖ ganz stark auf den Kern der Burschenschafter als Funktionäre reduziert.
Ein großer Wendepunkt im Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit war auch die Wahl Waldheims zum Bundespräsidenten.
Absolut. Das war eben auch in der Zeit, in der sich die österreichische Politik stark verändert hat. Waldheim wurde 1986 zum Präsidenten gewählt; im gleichen Jahr, in dem Haider die FPÖ übernahm. 1988 kam dann noch der Bericht einer internationalen Historikerkommission, die Waldheims Kriegsvergangenheit untersucht hat. Das hat zu einer sehr tiefgehenden und auch emotionalen öffentlichen Diskussion über den Umgang Österreichs mit seiner Vergangenheit geführt. Diese Debatte dauerte über mehrere Jahre bis zur berühmten Rede Kanzler Vranitzkys über die Mitschuld Österreichs an den NS-Verbrechen. Der Kern dieser Debatte war die bis dahin quasi offiziell vertretene „Opferthese“ (also Österreich als erstes Opfer Hitler-Deutschlands) die heute natürlich kein seriöser Historiker oder Politiker mehr vertreten würde. Wenn Leute heute darüber reden, wie polarisiert die öffentliche Debatte sei, erinnere ich mich an diese Zeit. Das war wirklich emotional, da haben sich ganze Familien zerkracht.
Was sind die Eigenheiten der österreichischen Medienlandschaft?
Die österreichische Medienlandschaft hat drei sehr spezifische Eigenheiten, die sie von anderen Länder unterscheidet:
Erstens die Dominanz des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, des ORF. Es gibt kaum ein anderes Land, in dem der öffentlich-rechtliche Rundfunk einen derart großen Marktanteil hat, besonders im Bereich der politischen Information. In der Unterhaltung spielen deutsche Privatsender eine große Rolle (ProSieben, Sat1, RTL). Im Informationsbereich ist das Privatfernsehen aber – jedenfalls außerhalb von Wahlzeiten – ziemlich unbedeutend. Das ist untypisch. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass wir ein gleichsprachiges, sehr viel größeres Nachbarland haben, dessen Fernsehsender nach Österreich strahlen. Eine ähnliche Situation gibt es zum Beispiel auch in Belgien oder Kanada.
Die zweite Besonderheit ist die Stärke des Boulevards. Das war immer schon so wegen der Kronen Zeitung. Sie hatte zu ihrem Höhepunkt jeden Sonntag drei Millionen Leser; die Bild in Deutschland nur elf Millionen in einem zehnmal so großen Land. In den letzten zehn Jahren haben dann heute (das von Eigentümerseite de facto zur Kronen Zeitung gehört) und Österreich einen Teil dieser Leser übernommen. Wir haben also einen enorm starken Boulevard, der meines Wissens nach in keinem Land der Welt übertroffen wird. Der Politologe Fritz Plasser definiert Österreich sogar als „Boulevard-Demokratie“.
Die dritte Besonderheit liegt in der enormen Konzentration. Es gibt nur sehr wenige Tageszeitungen, 16 oder 17. In der Schweiz gibt es zehnmal so viele. Die meisten Bundesländer haben eine sehr starke Regionalzeitung. In Vorarlberg gibt es zwei Tageszeitungen, die aber demselben Eigentümer gehören und dort praktisch 100 Prozent aller Zeitungsleser erreichen. Im Süden ist die Kleine Zeitung sehr stark. Im Burgenland und Niederösterreich gibt es keine Tageszeitungen, aber dafür eine besonders starke Kronen Zeitung. Zusätzlich gibt es noch drei weitere nationale Zeitungen: Den Standard, Die Presse und den Kurier. So eine ungewöhnliche Medienlandschaft gibt es in Westeuropa sonst nicht.
Worin liegt die Anfälligkeit der österreichischen Seele für den Boulevard begründet? Oder hat sich das einfach historisch entwickelt?
Es gab in Österreich vor dem Zweiten Weltkrieg, und noch stärker vor dem Ersten, sehr gute und große Qualitätszeitungen. Die Neue Freie Presse war bis zum Ende der Monarchie eine der bedeutendsten Zeitungen Europas. Dann brach die Monarchie zusammen; Österreich verlor den Großteil seiner Bevölkerung. Während der Dollfuss-Diktatur und vor allem in der NS-Zeit wurden alle Zeitungen gleichgeschaltet. Alle jüdischen Journalisten wurden vertrieben oder umgebracht. Übriggeblieben ist ein Land, das zehn Jahre von den Alliierten besetzt wurde und zensurierte Zeitungen hatte, aus denen später die Parteizeitungen entstanden. Daneben hat Hans Dichand – handwerklich extrem geschickt – die Kleine Zeitung im Süden Österreichs groß gemacht, dann den Kurier als Chefredakteur geführt, dann die Überreste der Kronen Zeitung gekauft und eine unfassbar erfolgreiche Massen- und Volkszeitung daraus gemacht. Die war natürlich spannender zu lesen als die langweiligen Parteizeitungen: Morde, Verbrechen, Gerichtsreportagen.
Wer deutsche oder andere internationale Zeitungen liest, ist oftmals enttäuscht vom Niveau der heimischen Medienlandschaft. Sehen Sie das auch so?
Ja, mein Gott. Deutschland ist ein zehnmal so großes Land. Man müsste Österreich eher mit deutschen Bundesländern vergleichen, sonst wäre das unfair.
Nichtsdestotrotz sind unsere sogenannten Qualitätszeitungen im Vergleich zur Süddeutschen Zeitung oder der Zeit bessere Groschenhefte.
Die Süddeutsche Zeitung hat ungefähr 600 Redakteure. Der Standard etwa 100. Das Profil hat etwas über 20 Journalisten, der Spiegel 300. Da reden wir wirklich von einer anderen Spielklasse.
In Ihrem Vorwort zu einem Buch über die “Ibiza-Affäre” vergleichen Sie die Aussagen Straches mit jenen Donald Trumps. Sehen Sie einen internationalen Trend zu diesem Typus Politiker?
Dieser Trend zu populistischen Politikern ist ja ganz offensichtlich: Trump, Johnson, Le Pen, Salvini, Orban, Erdogan. Das hat vor allem mit zwei Dingen zu tun: mit dem Thema Migration und einem anti-elitären, anti-liberalen Trend, etwa die Diskussion um politische Korrektheit oder die Homo-Ehe. Manche Menschen kommen oder wollen mit diesen gesellschaftlichen Veränderungen nicht mit. Davon profitiert populistische Politik.
Die staatstragende Rolle des Journalismus in der Aufdeckung der “Ibiza-Affäre” und die sorgfältige Recherche der Süddeutschen Zeitung und des Spiegels wurden vielfach gelobt, nicht zuletzt von Bundespräsident Van der Bellen. Andererseits ist es der sogenannten vierten Gewalt während der 17-jährigen Obmannschaft Straches nicht gelungen, die Gefährlichkeit dieses Mannes und seiner Partei der Bevölkerung trotz zahlreicher “Einzelfälle” glaubwürdig zu vermitteln. Hat hier der traditionelle Journalismus versagt, wo erst ehemalige Sicherheitsbedienstete mit ungeklärten Motiven und einem heimlich gefilmten Video erfolgreich waren?
Ich teile Ihre These überhaupt nicht. Erstens ist es nicht mein Job, Menschen zu sagen, was sie wählen sollen. Sie sollen ihre Entscheidung nur möglichst gut informiert treffen. Und das beste FPÖ-Ergebnis bei Nationalratswahlen unter Parteichef Strache waren 26 Prozent im Jahr 2017. Unmittelbar nach dem Ibiza-Video waren es bei der EU-Wahl 17 Prozent. Offensichtlich findet ein sehr großer Teil der Wähler diese Partei nicht überzeugend. Ein bestimmter Prozentsatz wählt FPÖ, ziemlich egal, was passiert.
Fühlt man sich wohl als Journalist in Österreich?
Ich kann mich nicht beschweren.
Das Schreckensbild, das in Österreich gerne an die Wand gemalt wird, ist Viktor Orban. Was bedeutet es denn, auf eine “Medienlandschaft wie in Ungarn” zuzusteuern.
Das würde bedeuten, dass es quasi keine relevanten, regierungskritischen Medien mehr gäbe. Es gibt in Ungarn regierungskritische Medien; die sind aber unbedeutend. Alle relevanten Medien in Ungarn gehören entweder dem Staat oder Vertrauten Herrn Orbans. Dementsprechend sieht die Berichterstattung aus.
Sehen Sie diese Gefahr auch für Österreich?
Nein, in dieser Form noch nicht. Es gab aber Tendenzen in den letzten Jahren, die Medienfreiheit einzuschränken. Ein Mittel sind zum Beispiel öffentliche Inserate, die es aber unter vorherigen Regierungen schon gab. Man kann damit Zeitungen, die freundlich über die Regierung schreiben, belohnen – oder sie durch den Entzug von Inseraten finanziell bestrafen. Im Falter erschien beispielsweise während der letzten Legislaturperiode kein öffentliches Inserat. Man kann Zeitungen mit Exklusivgeschichten und Interviews versorgen und andere nicht. Man kann auch eine Debatte über die Abschaffung der ORF-Gebühren beginnen, die in der 60-jährigen Geschichte des ORF beispiellos war. Das würde den ORF in einen Staatsfunk verwandeln.
Haben Sie während der türkis-blauen Regierungszeit strukturelle Veränderungen hier im ORF bemerkt?
Strukturelle Veränderungen nicht. Es gab personelle Änderungen, die es aber nach jedem Regierungswechsel gab. Was neu ist: Der Vorsitzende des ORF-Stiftungsrates wurde der ehemalige Vorsitzende einer Regierungspartei, Norbert Steger von der FPÖ.
Braucht es Reformen bei der Zusammenarbeit zwischen Politik und ORF? Sehen Sie Potenzial, etwas besser zu machen?
Ich sehe wahnsinnig viel Potenzial, das besser zu machen! (lacht.) Natürlich bräuchte es dringend eine Reform.
Was würden Sie sich wünschen?
Ich würde mir wünschen, dass der Einfluss der Politik auf den ORF geringer würde. Absurderweise steht beispielsweise im ORF-Gesetz, das vor der Bestellung eines Direktors eines ORF-Landesstudios der jeweilige Landeshauptmann anzuhören ist. Niemand weiß, warum es diese Bestimmung gibt. Natürlich würde ich mir wünschen, dass es im Stiftungsrat keine parteipolitischen Fraktionen gäbe. Die laut ORF-Gesetz unabhängigen Stiftungsräte stimmen fast ausschließlich entlang ihrer Partei-“Freundeskreise”. Darüber könnte ich jetzt eine Stunde reden.
Paul Sethe hat einmal gesagt, Pressefreiheit sei die Freiheit 200 reicher Menschen, ihre Meinung zu verbreiten. Stimmt das?
Das hat früher natürlich gestimmt. Zu der Zeit, in der Paul Sethe das Mitte der 1960er Jahre geschrieben hat. Um ein Medium zu gründen, musste man damals der Staat sein oder sehr viel Geld haben. Heute ist es das Gegenteil: Jeder, der ein Smartphone oder einen Computer hat, kann ein potentielles Massenmedium gründen.
Wir erleben gerade eine journalistische Revolution. Zeitungen sind großem wirtschaftlichen Druck ausgesetzt, viele Medien stellen auf Digitalprodukte um, Bürger beziehen ihre Meinungen aus den sozialen Medien. Wie bewerten Sie diese Wende?
Ich halte das für die größte Veränderung der Medienlandschaft, seit der Buchdruck erfunden wurde. Weil jeder ein Massenmedium gründen kann, ertrinken wir in einer Flut an – wahren oder falschen – Informationen. Wir müssen erst einen Weg finden, wie wir damit umgehen. In den 1980er-Jahren schrieb ein amerikanischer Informationstheoretiker, in einer durchschnittlichen Werktagsausgabe der New York Times stehe mehr Information als ein Mensch des 17. Jahrhunderts in seinem ganzen Leben begegnet ist. Das war vor fast 40 Jahren – und noch vor dem Internet. Heute hat der professionelle Journalismus ein gigantisches ökonomisches Problem. Journalisten haben das Problem, Publikum zu finden. Das Publikum wiederum hat das Problem, seriösen Journalismus zu finden.
Was ist der Weg nach vorne aus diesem Dilemma?
Wenn ich den wüsste, würde ich nicht mehr drei Abende die Woche im Fernsehstudio verbringen, sondern in einem lauschigen Garten…
… oder in der Toskana …
oder in der Toskana, weil ich von den Millionenprofiten meiner Medienberatungsagentur leben würde. Diesen Weg weiß – leider – noch keiner. Das Problem ist: Journalismus ist teuer, weil man ihn nur begrenzt automatisieren kann. Es gibt hohe Personalkosten: Qualifizierte Journalisten sind nicht billig. Gleichzeitig brechen aber die Einnahmen weg, weil mehr und mehr Werbeausgaben vom gedruckten in den digitalen Bereich wandern, dort aber nicht zu den Websites von professionellen Medien, sondern zum größten Teil zu Google oder Facebook. Neben diesem eklatanten Einnahmenproblem haben Medien auch Schwierigkeiten, mit seriösem Journalismus junges Publikum zu erreichen.
Sehen Sie eine verringerte Aufmerksamkeitsspanne bei jungen Menschen, die es ihnen erlauben würde, komplizierte und fundierte Texte zu lesen?
Es gibt hunderte Zitate von Platon bis in die Neuzeit, die darüber klagen, wie die Jugend verblöde. Im 18. Jahrhundert gab es die große Sorge, mit der Jugend sei wegen ihrer Lesesucht nichts mehr anzufangen. Das ist Folklore.
Viele unserer jungen Leser beziehen ihre Informationen fast ausschließlich aus den sozialen Medien. Wieso sollten sie GIS-Gebühren zahlen?
Die momentane Gesetzeslage sieht vor, dass eine gerätebezogene Abgabe zu entrichten ist, aus denen der Öffentliche Rundfunk (ORF) finanziert wird. Diese macht, je nach Bundesland, etwa 20–25 Euro monatlich aus. Von den dadurch lukrierten Einnahmen wandern ein Drittel zurück an Bund und Länder. Die anderen zwei Drittel, circa 630 Millionen Euro, stehen dem ORF als Budget zur Verfügung.
Weil sie zum Beispiel auf Facebook über die Seite der Zeit im Bild seriöse Informationen bekommen. Weil sie ihre Informationen hoffentlich nicht nur auf den Seiten von Politikern, Parteien oder Verschwörungstheoretikern beziehen wollen. Wir erreichen via Facebook jeden Tag 850.000 Leute mit einem Durchschnittsalter von 33 Jahren; seit Kurzem gibt es die ZiB auch auf Instagram. Die Redakteure, die diese Seiten gestalten, muss jemand bezahlen. Besonders unsere anspruchsvollen Sendungen, wie Ö1 im Radio oder die ZiB2 im Fernsehen, ließen sich am Markt nicht finanzieren. Also wird das öffentlich finanziert, so wie wir alle gemeinsam über öffentliche Subventionen das Burgtheater oder die Staatsoper finanzieren. Weil wir glauben, dass es für unsere Gesellschaft wichtig ist. Das Burgtheater könnte von seinen Ticket-Einnahmen alleine nicht leben, obwohl es eines der besten Theaters der Welt ist. Das ist umso wichtiger, weil Österreich ein so kleines Land ist. Es wäre in Deutschland eventuell noch denkbar, einen seriösen Fernsehsender privatwirtschaftlich zu finanzieren. Österreich ist dafür zu klein. Es hat einen Grund, warum private Fernsehsender so wenig Information spielen.
Wieso sollen GIS-Gebühren nicht über den Steuertopf finanziert werden?
Weil der ORF dann jedes Jahr zur Regierung gehen müsste, um um Geld zu betteln; zu jener Regierung, über die wir jeden Tag kritisch berichten sollen. Da könnte dann schnell ein Finanzminister auf die Idee kommen, wenn der Wolf ein bisschen weniger blöde Fragen stelle, ließen sich vielleicht mehr Mittel bereitstellen. Deshalb wird der ORF direkt von der Bevölkerung finanziert und nicht von Politikern aus dem Steuertopf.
Viele konsumieren ORF-Inhalte nicht mehr nur vor einem ein Fernsehgerät, sondern auch auf orf.at oder in der TV-Thek. Können Sie sich eine Reform der gerätegebundenen Gebühr vorstellen?
Eine allgemeine ORF-Abgabe wäre natürlich viel sinnvoller. Das würde natürlich auch die Gebühr verbilligen, weil es mehr Menschen gäbe, die zahlen würden.
Ist Unterhaltung Aufgabe des öffentlich-rechtlichen Rundfunks?
Laut ORF-Gesetz auf jeden Fall. Der ORF hat einen Unterhaltungs-, Bildungs- und Informationsauftrag. Auch die Mutter aller Öffentlich-Rechtlichen, die BBC, hat das berühmte Motto: to inform, educate and entertain.
Anders gefragt: Sollte Unterhaltung Aufgabe des ORF sein?
Unterhalten kann privates Fernsehen tatsächlich sehr gut. Ich finde es dennoch sinnvoll, dass auch der ORF das macht. Weil wir hoffentlich halbwegs anständige Unterhaltung machen, die auch nicht ständig von Werbung unterbrochen wird. Die wichtigste Funktion der Unterhaltung ist aber, die Quoten bei den Nachrichtensendungen zu erhöhen. Die enormen Reichweiten der ZiB-Sendungen liegen auch in der Unterhaltung davor und danach begründet. Ein Gegenbeispiel: Ö1 hat ein sensationelles Programm und ist wahrscheinlich das beste Medienprodukt Österreichs. Das Mittagsjournal hat aber etwa nur 150.000 Hörer. Und zwar 150.000 sehr gut informierte und gebildete Hörer. Die ZiB1 hat über eine Million Zuseher, weil wir durch das Unterhaltungsprogramm am Vorabend sehr viele Leute vor den Fernseher bringen.
Dennoch sind manche unzufrieden, dass den ganzen Nachmittag amerikanische Serien gespielt werden.
Das verstehe ich sehr gut. Deswegen macht auf ORF1 seit Kurzem ein sehr engagiertes junges Team eigene, sehr kreative Info-Sendungen: vom Magazin um 18 Uhr über die ZiB20, einer eigenen Doku-Schiene, sehr originellen Wahlsendungen bis hin zu einem neuen Diskussions-Format. Aber natürlich eher zum Abend hin, wenn sehr viele Menschen fernsehen.
Verstehen Sie auch den Vorwurf der Volksverblödung?
Nein, es wird ja niemand gezwungen, einzuschalten. Wenn man nur Mist ansieht und daran verblödet, ist man schon selber schuld. Dass nicht jedes unserer Programme die höchsten intellektuellen Ansprüche erfüllt, stimmt ganz sicher. Aber: Wir verlangen von allen Menschen in Österreich, die einen Fernseher besitzen, dass sie GIS-Gebühr bezahlen. Es gibt aber auch viele Menschen, die keine Nachrichtensendungen sehen wollen, keine Dokumentationen und keine Kultur. Sie müssen dennoch GIS-Gebühren bezahlen. Auch sie haben den Anspruch darauf, ein Programm zu bekommen, das sie gerne sehen. Ich bin auch kein eifriger Zuseher der „Starnacht am Wörthersee“. Aber es gibt hunderttausende Menschen, die sie gerne sehen und auch 25 Euro im Monat bezahlen. Wir verlangen von allen Geld, wir machen für alle Programm.
Was halten Sie von der Veröffentlichung von Umfragen? Umfragen als inhaltsloses Element beeinflussen dennoch Wahlen, weil vielleicht so mancher Bürger taktisch wählt.
Selbst wenn der ORF nicht darüber berichten würde, wären Umfragen jedem zugänglich. Ich glaube nicht, dass man in einem Land, in dem Pressefreiheit herrscht, die Veröffentlichung von Umfragen verbieten könnte.
Wie groß ist der Einfluss des ORF auf ein Wahlergebnis?
Keine Ahnung.
Wie neutral muss ein ZiB2-Moderator sein?
Völlig neutral.
Werden Sie diesem Anspruch immer gerecht, den Sie hier an sich selbst stellen?
Ja. Das ist das Wichtigste in meinem Job. Ich behandle alle Parteien gleich. Wenn Menschen das Gefühl haben, ich wäre zur FPÖ strenger, hat das damit zu tun, dass die FPÖ gelegentlich Dinge macht, die andere nicht machen. Würde eine andere Partei Rattengedichte verfassen, würde ich das genauso kritisch sehen. Ich möchte berichten, was ist. Carl Bernstein, der Watergate-Aufdecker, sagte: “Journalism is the best obtainable version of the truth.” Selbst wenn ich eine These oder eine Meinung habe, recherchiere ich ergebnisoffen. Stellen Sie sich vor, ein politischer Streit bräche darüber aus, wie lange dieser Tisch vor uns ist. Eine Partei sagte, der Tisch wäre einen Meter lang. Eine andere, er wäre zwei Meter lang. Die Aufgabe eines seriösen Journalisten ist es, über diese Aussagen wahrheitsgemäß zu berichten. Aber damit endet Journalismus nicht. Sondern unser Job ist es auch, ein Maßband zu nehmen und den Tisch nachzumessen und unseren Zusehern zu sagen: In Wahrheit ist er 1,40. Und jetzt beschäftigen wir uns noch mit der Frage, warum die eine Partei zwei Meter sagt und die andere ein Meter. Welche Interessen stecken dahinter?
Eine sehr anschauliche Allegorie. Nur handelt es sich bei jenen Dingen, über die Sie berichten, nicht um klar definierte und materielle wie diesen Tisch, sondern um ideelle, die aus verschiedenen Perspektiven anders aussehen und nicht so einfach mit einem Maßband nachgemessen werden können.
Es gibt das berühmte Zitat: “You are entitled to your own opinion, but not to your own facts.” Es gibt – jedenfalls im Alltag – schon so etwas wie eine objektive Wirklichkeit. Wir können uns natürlich jetzt in eine konstruktivistische Debatte stürzen. Möglicherweise bilde ich mir diesen Tisch auch nur ein. Oder die Tür. Oder Sie beide!
Das wäre schade.
Aber das führt uns ja nicht weiter. Wir müssen uns über gewisse Dinge einig sein, damit wir darüber berichten und diskutieren können.
Gibt es diese gemeinsame objektive Wirklichkeit noch genauso wie vor 20 Jahren?
Die gibt es genauso. Aber natürlich gibt es immer mehr politische Akteure, die Fakten ignorieren oder lügen und versuchen, für ihre Anhänger eigene Wirklichkeiten zu schaffen.
Hätten Sie Angst, von Armin Wolf interviewt zu werden?
Nein. Mein Job ist es, mit Entscheidungsträgern kritische Interviews über ihre Arbeit zu führen. Politiker machen die Gesetze, nach denen wir alle leben müssen. Meine Aufgabe ist es, sie mit Kritik und Widerspruch zu konfrontieren, damit sie ihre Positionen argumentieren können. Das ist eine sehr faire Form des Journalismus. Sie können mich jederzeit über meine Arbeit interviewen.
Manche sehen Ihren Interview-Stil kritisch: Der Informationsgehalt Ihrer Interviews sei oftmals gering. Das Interview verkomme zum Schlagabtausch zwischen Moderator und Politiker. Was sagen Sie zu der Kritik, die spektakuläre Komponente stehe zu oft im Vordergrund?
Mir ist es schon auch ein Anliegen, die Zuseher nicht zu langweilen. Es geht aber nicht um das Spektakel, sondern darum, relevante Informationen über Gast und Thema zu vermitteln. Ich kann meine Gäste nicht dazu zwingen, meine Fragen zu beantworten. Aber selbst wenn jemand viele oder gar keine Fragen beantwortet, kann das für die Zuseher informativ sein. Ich spreche mit professionellen Politikern, die viele Medientrainings hinter sich haben und ja nicht mit der Absicht herkommen, meine Fragen zu beantworten. Ihre Absicht ist es, vor 600.000 Menschen ihre Botschaften anzubringen. Meine Fragen stören ja nur bei dieser Wahlrede. Aber ich muss schon auf Antworten bestehen, sonst müsste ich ja meine Fragen gleich gar nicht stellen. Ich muss deshalb in einem Interview sehr viele Entscheidungen in ganz kurzer Zeit treffen. Wenn keine Antwort kommt: wann unterbreche ich … oder unterbreche ich überhaupt? Ältere Zuseher hassen das Unterbrechen, jüngeren gefällt es. Ich weiß oft nach zehn Sekunden, dass das keine Antwort auf meine Frage wird. Die Zuseher haben sich aber nicht den ganzen Tag vorbereitet und wissen nicht schon, was jetzt kommt. Also lasse ich den Gast 30 Sekunden reden obwohl ich bereits seit 20 Sekunden weiß, dass es sinnlos ist. Wenn der Gast aber etwas Interessantes sagt, während er eigentlich an meiner Frage vorbei antwortet – was mache ich dann? Lasse ich mich für die Zuseher auf dieses Thema ziehen? Oder bleibe ich bei meiner Frage, die ich mir ja gut überlegt habe. Es sind da live alle paar Sekunden Entscheidungen zu treffen, von denen in jedem Interview ein gewisser Anteil falsch sein wird. Ich würde ja jedes Interview noch einmal machen, wenn ich könnte. Außer eines.
Welches denn?
Jenes mit Erwin Pröll über seine Privatstiftung. Da wüsste ich nicht, was ich besser hätte machen können.
Weil es ein so unglaublich gelungenes Interview war oder weil nichts geholfen hätte?
Weil es, glaube ich, ein sehr authentisches Bild von Herrn Pröll gezeigt hat, das man noch nicht oft im Fernsehen gesehen hat.
Welchen Sinn hat es eigentlich, Fragen mehrmals zu wiederholen, auf die Sie wieder und wieder keine Antwort bekommen?
Das berühmteste Fernsehinterview aller Zeiten hat BBC-Moderator Jeremy Paxman vor langer Zeit mit dem damaligen britischen Innenminister geführt. Er hat in dem Gespräch ein und dieselbe Frage zwölf Mal wiederholt. Dieses Interview hat Paxmans Ruf als härtesten Interviewer im englischsprachigen Fernsehen begründet.
Obwohl er viele Jahre später erzählt hat, dass er die Frage vor allem deshalb so oft wiederholt hat, weil ihm der Regisseur ins Ohr gesagt hatte, der nächste Beitrag sei noch nicht fertig und Paxman nicht wusste, was er sonst fragen sollte. Mit anderen Worten: Manchmal macht es Sinn, manchmal nicht, dieselbe Frage zu wiederholen. Zwölf Mal würde in Österreich wahrscheinlich nicht funktionieren. Das fänden praktisch alle Zuseher nervig. Im letzten Präsidentschaftswahlkampf hat zum Beispiel Richard Lugner in der ZiB 2 erzählt, er könnte als Bundespräsident das Parlament auflösen. Ich habe ihm erklärt, dass das nur auf Vorschlag der Bundesregierung geht, was Herr Lugner nicht wahrhaben wollte. Darauf ergab sich eine völlig sinnlose Diskussion zwischen Lugner und mir über die Bundesverfassung, die sich aber auf Sendung nicht auflösen ließ. Letztlich eine sinnlose Häkelei, die ich so nicht mehr machen würde. Andererseits kann ich die Zuseher ja schwer mit dem Unsinn unkommentiert alleine lassen.
Manche Politiker sind sehr gut darin, Fragen auszuweichen. Wer ist denn Ihr Ausweichkaiser?
Am schwierigsten zu interviewen war Wolfgang Schüssel. Weil er schnell und eloquent so antworten konnte, dass ein unaufmerksamer Zuseher das Gefühl hatte, Schüssel habe die Frage beantwortet. Obwohl er in Wahrheit drei Millimeter an der Frage vorbei gezielt hat und genau das gesagt hat, was er den Zusehern vermitteln wollte. Sehr schwierig zu interviewen ist auch Sebastian Kurz, weil er das Talent hat, Fragen in gut erzählten Geschichten zu beantworten, die dem durchschnittlich älteren Publikum gefallen. Er schafft es, sehr kontroversielle Ideen in einer verbindlichen, freundlichen Rhetorik zu verpacken. Auch Norbert Hofer ist nicht leicht zu interviewen. Grundsätzlich ist es aber am schwierigsten, harte Interviews mit Politikern zu führen, die sehr hohe Sympathiewerte haben. Viele Zuseher nehmen einem jede halbkritische Frage an ihr Idol sofort übel, egal ob sie berechtigt ist oder nicht.