„Stichhaltige Gerüchte“ über die türkis-blaue Bundesregierung

KOMMENTAR: REGIERUNGSARBEIT

VON LUKAS MAUTNER MARKHOF

“Die ich rief, die Geister, werd’ ich nun nicht los” schwirrt wohl in den Köpfen der ÖVP-Strategen. Der verheißungsvolle Beginn der türkis-blauen Regierung endete in einer der turbulentesten Regierungskrisen der Zweiten Republik. Wie konnte es soweit kommen? Eine Chronologie.

An einem kühlen Samstagnachmittag im Dezember 2017 versammelten sich dutzende Journalisten aus dem In- und Ausland am Kahlenberg in Wien. Anlass: Sebastian Kurz und Heinz-Christian Strache würden den erfolgreichen Abschluss der Koalitionsverhandlungen und den Beginn einer neuen politischen Ordnung in Österreich verkünden. Die Pressekonferenz verriet bereits, wie die kurze Regierungszeit der türkis-blauen Bundesregierung aussehen würde: harmonisch, rechtskonservativ, anti-Merkel, pro-Orban. Ein Journalist einer renommierten deutschen Zeitung fragte, ob der Kahlenberg als Veranstaltungsort symbolisch zu verstehen sei. 1683 schlug dort der katholische polnische König Jan Sobieski III die osmanischen Belagerer in die Flucht und befreite Wien von der muslimischen Bedrohung. Kurz beschwichtigte: Der Ort sei zufällig ausgewählt worden.

Wenige Tage später war es dann tatsächlich soweit. Die designierten Minister des türkis-blauen Experiments wurden in der Hofburg von Bundespräsident Alexander Van der Bellen angelobt. Es war sicherlich nicht seine Wunschregierung. Dennoch hatte der ehemalige Politiker der Grünen ein Lächeln im Gesicht, die Stimmung wirkte gelassen. Einen kurzen Schockmoment gab es allerdings für Heinz-Christian Strache: Der Bundespräsident hätte beinahe vergessen, den zukünftigen Vizekanzler anzugeloben. Vielleicht hatte ihn schon eine dunkle Vorahnung beschlichen.

So schnell die Koalition beschlossen wurde, so schnell kam auch der erste Zwischenfall. Bereits am 21. Dezember empörte sich der ORF-Stiftungsrat der Freiheitlichen, Norbert Steger, über das „unbotmäßige“ Verhalten des ORF-Journalisten Armin Wolf. Der ZiB2-Anchorman wurde nur zwei Monate später neuerlich getadelt, diesmal vom numehrig staatsmännischen Vizekanzler Strache, der mit einem unstaatsmännischen Angriff dem Anchorman Wolf Lügen vorwarf. Trotz angeblicher Satire revidierte der Vizekanzler seine Aussagen, nachdem Wolf mit einer Klage gedroht hatte. Als Entschädigung musste Strache auch noch 10.000 Euro an Armin Wolf zahlen, der das Geld an das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes spendete. 

Doch was die FPÖ kann, kann die Neue Volkspartei schon lange. Nur etwas eleganter. Oder soll man sagen: versteckter? Nicht selten griffen sein Pressesprecher oder sogar Sebastian Kurz höchstpersönlich zum Telefon, um Journalisten zu erklären, wie sie zu schreiben hätten. Kritische Medien waren der Regierung eben ein Dorn im Auge. Wie könne man auch die wunderbare Arbeit dieser Regierung kritisieren? Die türkis-blaue Regierung hatte vor, den ORF neu zu organisieren. Ein Vorschlag war, die GIS-Gebühren abzuschaffen und den ORF direkt über Steuergelder zu finanzieren. Kritiker warnten, dass der ORF so ein Instrument der Regierung würde.

Auch mit inhaltlicher Arbeit ließ die Regierung nicht auf sich warten. Der Weihnachtsurlaub wurde gestrichen. Stattdessen wurde an Klausurtagen im steirischen Seggau kennengelernt und gearbeitet. Immerhin musste jetzt der angekündigte Reformeifer auch umgesetzt werden. Das Prestigeprojekt „Aktion 20.000“ von Ex-Kanzler Christian Kern wurde mit sofortiger Wirkung aufgelöst, 50 Mio. Euro für Integration ersatzlos gestrichen und der Familienbonus eingeführt, dessen Entlastung für Vielverdiener und Familien von der linken Reichshälfte kritisiert wurde. Für die Landtagswahlen in Niederösterreich, Salzburg und Kärnten wurde die Regierungsarbeit möglichst eingestellt, um unerwünschte mediale Aufregung zu vermeiden. Nachdem es zu dem Zeitpunkt nämlich noch keine oppositionelle Aufregung gab, hatte die Regierung sonst nichts zu befürchten. 

Die „Aktion 20.000“ sah vor, mittels Steuergeldern Arbeitnehmer über 50 Jahren wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Kritiker sahen zu hohe Kosten für Arbeitsplätze, die es gar nicht gebe oder brauche.

Wieso? Die Arbeit der türkis-blauen Regierung ließ die Opposition mehr oder weniger in eine Schockstarre geraten, die 15 Monate anhalten würde und selbst Politikwissenschaftler Prof. Peter Filzmaier nicht recht erklären konnte. Die Regierung machte eben rechtskonservative Politik, wie es eine rechtskonservative Regierung zu tun pflegt und auch angekündigt hatte. Der Widerstand kam größtenteils von den Medien, ansonsten wurde das Feld Kurz, Strache und ihrem Gefolge überlassen. Das türkis-blaue Experiment wurde im harmonischen Einklang und mit perfektem Marketing vorangetrieben, zur Freude eines großen Teils der Bevölkerung. Die Umfragen stimmten, beide gewannen bei den Landtagswahlen dazu, und man zollte sich gegenseitig Respekt. Das funktionierte auch dank der zur Perfektion gedrillten „Message Control“, die die inszenierte Harmonie glaubhaft übermittelte. Und das Volk? – empfand den „neuen Stil“ erfrischend.

Die „Message Control“ schränkte die Kommunikation zwischen Medien und Politik ein, um nur kontrollierte Informationen an die Öffentlichkeit zu lassen.

Eine “Konzentration” an “Einzelfällen”

Doch diese glänzend weiße Weste der Regierung wurde immer wieder angepatzt. Die Flecken waren aber weder rot, noch grün. Vielmehr kamen sie aus den eigenen Reihen. Seien es Nazi-Liederbücher, hellsehende FPÖ-Funktionäre oder der Wunsch, Migranten „konzentriert“ an einem Ort unterzubringen. 

1. Der Spitzenkandidat der niederösterreichischen FPÖ, Udo Landbauer, musste wegen nationalsozialistischen Liedertexten im Liederbuch seiner Burschenschaft zurücktreten. Mittlerweile wurde das Verfahren gegen die Urheber des Liederbuchs eingestellt und Landbauer sah sich entlastet.
2. FPÖ-Funktionär Christian Höbart hielt drei asylsuchende Jugendliche präventiv fest und übergab sie der Polizei, weil er vermutete, dass sie etwas aus einem Supermarkt stehlen würden.
3. Im Jänner 2018 forderte Ex-Innenminister Herbert Kickl, Migranten „konzentriert unterzubringen“. Er verteidigte seine Wortwahl mit Verweis auf den alltäglichen Gebrauch des Wortes.

Journalisten forschten bis in die dunkelsten Ecken der Freiheitlichen Partei nach braunen Flecken und Skandalen. Um ihnen die Arbeit zu erleichtern, lieferte auch die erste Reihe der FPÖ Skandale: So beteiligte sich Klubobmann Johann Gudenus an der “Soros-Verschwörungstheorie”, indem er versicherte, dass es “stichhaltige Gerüchte” über einen angeblichen Plan von George Soros gebe, Flüchtlinge nach Europa zu bringen. Trotz aller Bemühungen der Parteispitze, jegliche „Einzelfälle” in der Partei zu verhindern, geriet die Regierung national und international immer wieder in die Schlagzeilen. 

George Soros ist ein politisch engagierter Investor, der mit seinem Quantum Fund 1992 gegen einen überbewerteten britischen Pfund spekulierte und durch seinen Erfolg weltweit bekannt wurde. Verschiedene rechtspopulistische Politiker in Europa (Viktor Orban, Aleksandar Vucic, Matteo Salvini u.a.) beschuldigten Soros, gezielt Flüchtlingsströme nach Europa zu lenken und für die Flüchtlingskrise 2015 verantwortlich zu sein. Experten kritisieren dabei die Verwendung antisemitischer Stereotypen.

Brenzlig wurde es nach der „BVT-Razzia“. In einer Nacht- und Nebelaktion wurde in dem im FPÖ-Innenministerium ansässigen Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) eine “unverhältnismäßige” Razzia durchgeführt, die weitreichende Folgen hatte. Im Parlament arbeitet seither ein Untersuchungsausschuss an der Aufarbeitung der Geschehnisse. Auf internationaler Ebene isolierten Partnergeheimdienste das BVT.

In einer Razzia im BVT soll belastendes Material gegen FPÖ-nahe Persönlichkeiten beschlagnahmt worden sein.

Die Regierung nutzte die Europäische Ratspräsidentschaft, um ihr absolutes Lieblingsthema auch allen anderen in Europa näherzubringen: die Migration. Da mittlerweile allen bekannt war, dass die Balkanroute bereits geschlossen wurde, widmete sich Sebastian Kurz nun der Mittelmeerroute.

Alle sechs Monate hat ein Mitglied der EU den Vorsitz im Rat der Europäischen Union, organisiert die Tagungen des Rates und vertritt ihn gegenüber internationalen Organisationen.

Um gleich zu Beginn ein Zeichen der Weltoffenheit zu setzen, wurde zunächst der UNO-Migrationspakt nicht unterschrieben. Inhaltlich konnte während der Ratspräsidentschaft letztendlich wenig erreicht werden: Zwar hat das Forum Afrika-Europa die funktionierende Gesprächsbasis bezüglich Wirtschaft und Migration ausgebaut. Dennoch musste man sich eingestehen, dass Aufnahmezentren in Nordafrika nur mit großen finanziellen Investitionen und viel Überzeugungsarbeit durchzusetzen wären und deshalb in näherer Zukunft nicht möglich würden. 

Der UNO-Migrationspakt ist ein Abkommen, dass internationale Normen zur Migration festlegt. Die österreichische Regierung unterzeichnete ihn aufgrund angeblicher Unklarheiten bei bestimmten Begriffen nicht, obwohl Österreich ihn selbst ausverhandelt hatte.

Außerdem musste die Aufstockung der Frontex auf 2027 verschoben werden  – immerhin. Insgesamt waren sich die EU-28 einig, dass zumindest der Versuch einer Themensetzung vorhanden gewesen war. Auch die EU-Kommissare lobten die Organisation der Ratspräsidentschaft. Dass es einen neuen EU-Vertrag brauche, fiel Sebastian Kurz allerdings erst kurz nach der Ratspräsidentschaft und kurz vor den Europawahlen ein. 

EU-Grenzschutzorganisation, deren Mandat vorsieht, die EU-Außengrenzen zu schützen.

“Postenschacherei” und “soziale Kälte”

Während die Opposition weiterhin ohne Erfolg nach ihrer eigentlichen Rolle suchte, setzte die türkis-blaue Regierung ihre Arbeit (oder Scheinarbeit; je nachdem, wen man fragt) fort. Nächster Schauplatz: Migration und Integration. Ersteres fand während der Regierungsperiode nur bedingt statt. Zweiteres wurde teilweise (absichtlich) vernachlässigt. Es wurde weniger Geld für die Entwicklungshilfe ausgegeben, der Stundenlohn für gemeinnützige Arbeit von Asylwerbern wurde auf 1,50 Euro pro Stunde reduziert, das Kopftuch in Volksschulen wurde verboten, die Indexierung der Familienbeihilfe für EU-Ausländer wurde beschlossen, Deutschförderklassen wurden eingeführt und Lehrlinge mit ungewissem Bleiberecht wurden trotz Fachkräftemangel abgeschoben.

Die Regierung will die Familienbeihilfe von EU-Ausländern an das jeweilige Preisniveau in den Herkunftsländern anpassen. Das verstößt möglicherweise gegen das Gleichstellungsprinzip der EU und wird vermutlich vom EuGH behandelt werden.

Der gesellschaftlich konservative Teil des türkis-blauen Experiments wurde medienwirksam erfüllt. Zugleich hinkte der wirtschaftsliberale Teil etwas hinterher. Leistung sollte sich wieder lohnen und Eigenverantwortung sollte die staatliche Bevormundung ablösen. Doch vieles wurde nicht umgesetzt, nicht zuletzt wegen des unerwarteten Endes der Koalition und den verfrühten Neuwahlen. 

Im neuen Budget sollten sich Ausgaben und Einnahmen zum ersten Mal seit langer Zeit wieder näher kommen, ab 2021 war ein struktureller Überschuss prognostiziert. Gleichzeitig sanken die Staatsschulden langsam. Während die linke Reichshälfte die türkis-blaue Besessenheit mit der schwarzen Null anprangerte, war das Budget den NEOS noch nicht eng genug. Die Regierung profitiere sowieso nur von der guten Konjunktur und den sprudelnden Steuereinkünften. Zur Freude der Gastronomen und Hoteliers wurde die Übernachtungssteuer von 13 auf 10 Prozent gesenkt, das Rauchverbot aufgehoben („Frau Gesundheitsministerin, was ist mit Ihnen?“) und die Arbeitszeit flexibilisiert.

Von der SPÖ, Liste JETZT und den Grünen „12-Stunden-Tag“ getauft. Die Regierung wollte mit diesem Gesetz die Arbeitszeiten flexibler gestalten.

Die wichtigste Wählergruppe der Türkisen wurde natürlich nicht vergessen: Die Pensionisten bekamen eine Pensionserhöhung (über die übliche Anpassung an die Inflation hinaus). Laut Rechnungshof dringend erforderliche Maßnahmen wie die Anhebung des Pensionsantrittsalters oder dessen Anpassung zwischen Männern und Frauen wurden ignoriert.  Sparen wollte man bei den Gesetzen (also wurden 2000 gestrichen) und auch bei den Sozialversicherungen. Letztere von 21 auf fünf zu reduzieren klingt vernünftig. Doch statt Kosten zu sparen wurden bisher nur Kosten erzeugt. Kritiker bemängeln, die Aktion mündete in einem Entmachtungsmanöver gegenüber den Roten, um blaue und türkise Parteifunktionäre mit Posten zu versehen. Heikel wurde der Streit der Regierung mit der AUVA (Allgemeine Unfallversicherungsanstalt). Sozialministerin Beate Hartinger-Klein forderte sie auf, eine halbe Millionen in der Verwaltung einzusparen (was de facto nicht möglich gewesen sei, wie Kritiker anmerken) und drohte bei Versagen mit ihrer Auflösung. Zu diesem Schritt kam es nach reichlich Kritik aus Politik und Medien letztendlich nicht.

Es hagelte Kritik von allen Seiten. Die SPÖ beklagte die “soziale Kälte” der Regierung und forderte alle möglichen Ideen, die sie in ihrer vorhergegangen zehnjährigen Kanzlerschaft anscheinend vergessen hatte, umzusetzen. NEOS kritisierten die Reformen von Türkis-blau als unzureichend. Die “Wirtschaftspartei” ÖVP entpuppe sich als bürokratische “Wirtschaftskammerpartei” und forderte eher Stillstand als den versprochenen “Aufbruch”. Die Liste Pilz … Moment! Verzeihung, die Liste JETZT diskutierte inzwischen über viel wichtigere Angelegenheiten, beispielsweise wer sein Nationalratsmandat an Peter Pilz abgeben würde. Viele Themen, wie die Abschaffung der kalten Progression oder die „größte Steuerreform der Zweiten Republik“, wurden wohl aus wahltaktischen Gründen in die zweite Hälfte der Regierungszeit verlegt. Nur blöd, dass die Wahl dann doch früher kam. 

Mit 140 km/h in Richtung Ibiza

Eines darf bei einer rechtskonservativen Regierung auf keinen Fall fehlen: „Law and Order“. So setzte der „beste Innenminister aller Zeiten“ (BIMAZ), Herbert Kickl, seine Agenda durch, was ihn zum Feindbild Nummer eins der linken Reichshälfte Österreichs machte. Das kaiserliche Kavallerieregiment erlebte seine Wiedergeburt in Form der berittenen Polizei, für die der BIMAZ viel Spott erntete. Die präventive Sicherungshaft nach Vorbild Christian Höbart (siehe oben) wurde ernsthaft diskutiert, das „Erstaufnahmezentrum“ Traiskirchen wurde in „Ausreisezentrum“ umbenannt. Symbolpolitik zeigt offensichtlich auch Wirkung. Zu guter Letzt legte Kickl noch sein Verständnis des Rechtsstaats dar, als er behauptete, das Recht habe der Politik zu folgen und nicht umgekehrt. Immanuel Kant wäre mit der Aussage wohl nicht einverstanden gewesen. 

„Das Recht muss nie der Politik, wohl aber die Politik jederzeit dem Rechte angepasst werden. Alle Politik muss ihr Knie vor dem Rechte beugen.” Immanuel Kant hatte eine andere Interpretation vom Verhältnis von Recht und Politik als Herbert Kickl.

Auch in Umweltthemen wollte sich die Regierung profilieren. Angekündigt wurden Maßnahmen von einer „E-Mobilitätsoffensive“ bis hin zu einem flächendeckenden Ausbau von Photovoltaikanlagen auf Dächern. Ein genauerer Blick verrät hingegen, dass es für beide Maßnahmen weder einen Finanzierungs- noch einen Fahrplan gab. Fahren kann man jetzt dafür bis zu 140 km/h auf der Westautobahn; zwischen Melk und Oed und dem Knoten Haid und Sattledt. Die Regierung wollte schlussendlich noch Wirtschaftswachstum als Staatsziel in der Verfassung verankern. Unter großen Protesten wurde dieses Vorhaben dann doch vorerst aufs Eis gelegt, auch weil NEOS aufgrund von Umweltbedenken und Sorgen um NGOs nicht zustimmen wollten. Ohne die Grünen im Parlament war Umwelt ohnehin nur Nebensache, zumindest bis zum Europawahlkampf, als sich die klimabewusste grüne Truppe wieder ins Rampenlicht traute.

Als die Europawahl näher kam, wurde die Regierung auf einmal viel liberaler. Mit Othmar Karas als Spitzenkandidat der Volkspartei war nicht jedem klar, was für eine Politik man eigentlich bei der ÖVP bekomme: die weltoffene und pro-europäische des christlich-sozialen Urgesteins Karas oder doch eher die rechtskonservative türkise Achse Kurz-Edtstadler. Bei den Freiheitlichen verwandelte sich Spitzenkandidat Harald Vilimsky von einem bissigen Kettenhund in einen wedelnden Labrador, um das wichtigste europäische Thema der Freiheitlichen, den Tierschutz, glaubwürdiger zu thematisieren. Der Wahlkampf wurde aber gegen Ende zur Nebensache. Wegen einer „b’soffenen G’schicht“ auf Ibiza

“Das einzige Land, das aus Erfahrung dümmer wird”                        

Die letzten Tage des türkis-blauen Experiments waren eher dynamisch. Vizekanzler Heinz-Christian Strache trat zurück und legte alle seine Ämter nieder, um einer Fortführung der Koalition nicht im Wege zu stehen. Laut den Freiheitlichen hatte Bundeskanzler Sebastian Kurz aber andere Pläne: Er habe versucht, das Innenressort zurück an die ÖVP zu holen (oder zumindest weg vom BIMAZ). Dieser Schachzug endete allerdings im Schachmatt. Zack, zack, zack wurden gleich zwei Misstrauensanträge eingereicht, um Neuwahlen zu erzwingen: einer gegen Sebastian Kurz und einer gegen die gesamte Regierung. Ereignisreich wie die Woche war, ließ das Bundeskanzleramt noch schnell Festplatten unter falschem Namen und ohne zu bezahlen schreddern. „Ein ganz normaler Vorgang“, wie die Volkspartei versicherte. 

Die türkis-blaue Regierung war eine Koalition der Tauschgeschäfte, so die Analyse von Professor Filzmaier: Rauchverbot für CETA, Rasen für Arbeitszeitflexibilisierung. Ob die Ibiza-Party das Ende des türkis-blauen Experiments bedeutet oder der Wahlkampf mehr zur kurzen Verschnaufpause verkommt, wird sich zeigen. Österreich ist bekanntlich „das einzige Land, das aus Erfahrung dümmer wird“. Das hat Karl Kraus zwar nie gesagt, aber die linke Reichshälfte hofft wohl, dass er falsch lag.

CETA (Comprehensive Economic Trade Agreement) ist ein bestehendes Handelsabkommen der EU mit Kanada. Es war aufgrund diverser Themen wie Schiedsgerichte, „Lock-in-Klauseln“ oder Umweltthemen umstritten.

Die Reform, die nicht kommen will

KOMMENTAR: TÜRKIS-BLAUE STEUERREFORM

VON JOHANNES DÓCZY & BERTRAM RANFTL

Unser Steuerrecht ist so komplex, dass nicht nur „Normalsterbliche“ , sondern sogar schon Steuerberater eine Vereinfachung fordern. Auch für die Finanzverwaltung ist es schwer administrierbar. Aufgrund hunderter Novellierungen in den letzten Jahren blieb dabei auch die Planungssicherheit auf der Strecke. Kurzum: Das schreit nach einer Reform.

Am 30. April 2019 war es soweit: Bundeskanzler Kurz und Vizekanzler Strache präsentierten ihre türkis-blaue Steuerreform und betrauten Finanzminister Hartwig Löger und Staatssekretär Hubert Fuchs mit der Umsetzung. Durch die jähe Auflösung der Regierung nach Veröffentlichung des Ibiza-Videos wurde die Arbeit bis auf Weiteres unterbrochen. Einiges wurde aber bereits umgesetzt oder wartet gerade im Nationalrat auf Abstimmung.

Die türkis-blaue Steuerreform verfolgte zwei Ziele: Vereinfachung und Entlastung. Veranschaulichen lässt sich das gut an folgendem Beispiel: Man nehme ein Gesetz aus dem Jahr 1988, novelliere es über 160 mal, setze eine Heerschar an Ausnahmeregelungen und Sonderbestimmungen fest, orientiere sich an über 300 Beitragsgruppen in der Sozialversicherung und 860 Kollektivverträgen, dazu nehme man noch Erkenntnisse und Urteile der Gerichte aller Instanzen und voilà: unser derzeitiges Einkommensteuergesetz.

Keiner kennt sich mehr aus, schon gar nicht die Arbeitnehmer. Die finanzielle Belastung bleibt aber trotzdem historisch hoch. Anstatt schrittweise zu entrümpeln, hat Türkis-blau sich richtigerweise gleich vorgenommen, das ganze Gesetz neu zu kodifizieren. Aktualisierte Tarifstufen sollen Entlastung schaffen. Eine neue Art der Gewinnermittlung und die Streichung diverser Ausnahmeregelungen und sonstiger Bezüge sollen das Gesetz vereinfachen. Dem Arbeitnehmer bleibt mehr Netto vom Brutto und dem Arbeitgeber wird die Lohnverrechnung erleichtert.

In Österreich entrichtet man Steuern nach sogenannten Tarifstufen. Die türkis-blaue Regierung sah eine Änderung der Tarifstufen vor: Von einem Jahreseinkommen von 11.000 Euro bis 18.000 Euro sollten 20 Prozent statt bisher 25 Prozent an den Staat fließen. Von 18.000 Euro bis 31.000 Euro sollten es 30 statt 35 Prozent und von 31.000 Euro bis 60.000 Euro sollten es 40 statt 42 Prozent sein. Die restlichen (und teilweise erst 2016 eingeführten) Steuersätze für Besserverdienende sollten erhalten bleiben (48 Prozent bis 90.000 Euro, 50 Prozent bis 1 Mio. Euro und darüber hinaus 55 Prozent).

Auch das Körperschaftsteuergesetz ist man angegangen: Man wollte die Körperschaftsteuer (KöSt) senken (was politisch nicht ganz unumstritten ist), entbürokratisieren, Abschreibungsperioden verkürzen.

Die Körperschaftsteuer ist eine Steuer auf das Einkommen von Unternehmen. Argumentiert wird die Senkung dieser Steuer mit einer Attraktivierung des Wirtschaftsstandortes und einem Anreiz für Investitionen. Kritiker monieren, der Steuerwettbewerb mit anderen Ländern führe in eine Abwärtsspirale nach unten, der am Ende nicht zu mehr Investitionen und Arbeitsplätzen, sondern zu weniger Staatseinnahmen führt.

Auch die Rechtsformneutralität sollte forciert und Betriebsübergaben erleichtert werden.

Damit ist gemeint, dass die Höhe der Besteuerung für alle Unternehmensrechtsformen gleich ist.

Österreich hat seine Körperschaftsteuer bereits Mitte der 2000er Jahre als Reaktion auf niedrige KöSt-Sätze in Nachbarländern von 34 auf 25 Prozent gesenkt. Das Resultat war trotz eines niedrigeren Steuersatzes ein höheres Steueraufkommen. Ob eine weitere Senkung diesen Trend fortsetzen würde, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen. Manche Ökonomen sind der Meinung, dass es eher eine höhere Inflation und niedrigere Abschreibungsperioden bräuchte, um Unternehmen zu Investitionen anzuregen. Zweiteres sieht die Steuerreform aber auch vor, was begrüßenswert wäre.

Auch in der Administration wollte man entrümpeln: Momentan sind einzelne Abgaben auf zahlreiche Behörden verteilt (Lohnsteuer: Finanzämter, Sozialversicherungsbeiträge: Gebietskrankenkassen, Kommunalabgaben: Gemeinden). Dem wollte man mit einer einheitlichen Dienstgeberabgabe begegnen. Das würde den ganzen Prozess sowohl für Unternehmen als auch die Administration leichter und billiger machen.

Finanzielle Entlastungen hat man teilweise bereits umgesetzt: Darunter den Familienbonus (Steuergutschrift von 1500 Euro pro Jahr und Kind) und die Senkung der Umsatzsteuer auf Übernachtungen von 13 auf 10 Prozent. Über weitere Vorschläge wird momentan gerade im Budgetausschuss im Nationalrat geredet, beispielsweise eine höhere Rückerstattung der Sozialversicherungsbeiträge (Negativsteuer) und eine Erhöhung des Verkehrsabsetzbetrags. Zusätzlich soll niedrigen Einkommen ein Sozialversicherungsbonus von 300 Euro gewährt werden. Diesen Teil der Reform begrüßt auch die SPÖ. Pensionisten sollen eine höhere Negativsteuer sowie einen höheren Absetzbetrag bekommen.

Weiters sollen Unternehmen mit einem weltweiten Umsatz von über 750 Millionen Euro eine 5-prozentige Steuer auf Online-Werbeumsätze abführen. Das wird wahrscheinlich auch von den NEOS mitgetragen. 

Einiges ist die türkis-blaue Regierung in Hinblick auf ihre Wahlversprechen und Ankündigungen schuldig geblieben: Beispielsweise die Abschaffung der kalten Progression oder eine Ökologisierung des Steuersystems. Summa summarum ist aber das Gros der Vorschläge nicht nur wünschenswert, sondern längst überfällig. Wieviel davon umgesetzt wird, wird sich in den nächsten Tagen und Wochen im Nationalrat zeigen. Oder spätestens nach der nächsten Regierungsbildung.

Weil die Steuerstufen und -freibeträge nicht an die Preissteigerung (Inflation) angepasst werden, rutscht man durch Lohnerhöhungen im Laufe der Zeit automatisch in höhere Steuerstufen und muss mehr Steuern zahlen, obwohl man tatsächlich (also: inflationsbereinigt) gleich viel wie zuvor verdient. Diese Mehrbelastung an Steuern nennt man kalte Progression. Es sei natürlich politisch wesentlich interessanter, Klientelpolitik zu betreiben und beispielsweise Familien zu entlasten, als einfach nur die kalte Progression abzuschaffen.

Luft nach oben in der Opposition

KOMMENTAR: OPPOSITIONSARBEIT

VON JOHANNES DÓCZY

Eine Umfrage im Kurier, die NEOS mit 26 Prozent auf dem ersten Platz knapp vor der SPÖ sieht. Die Liste JETZT erhält nur 7 Prozent. 43 Prozent geben sogar keine Stimme ab, während ÖVP und FPÖ in der Befragung gänzlich fehlen.

Dabei kann es sich doch nicht um eine Umfrage für eine Nationalratswahl handeln?

Nein. Es geht darum, welche Partei im Auge der österreichischen Bevölkerung die beste Oppositionsarbeit geleistet hat. Dass NEOS den Spitzenplatz erreichte, ist für eine solch kleine Partei beeindruckend. Dass die SPÖ hingegen verhältnismäßig schlecht abschneidet, ist schockierend. Die Sozialdemokraten waren wohl der Bevölkerung nach vor allem mit sich selbst und ihrer ungewohnten Position in der Opposition beschäftigt.

SPÖ: „So etwas wie das letzte Jahr habe ich noch nie erlebt.“

In Anbetracht schlechter Umfragewerte kündigte der damalige SPÖ-Parteivorsitzende und Bundeskanzler Christian Kern den Gang in die Opposition an, sollten die Sozialdemokraten den zweiten Platz erreichen. So geschah es auch: ÖVP und FPÖ triumphierten bei der Wahl und bildeten eine Koalition, während die SPÖ ihren Anteil von 26,9 Prozent halten konnte und tatsächlich in Opposition ging. Umfragen zeigten, dass 100 Tage nach der Regierungsbildung gerade einmal ein Fünftel der Österreicher der Meinung war, die SPÖ hätte sich in ihrer neuen Rolle als Oppositionspartei gut eingefunden. Die Arbeitszeitflexibilisierung konnte sie in der öffentlichen Wahrnehmung geschickt auf “12-Stunden-Tag” umtaufen. Sich langfristig zu profilieren gelang ihr aber dennoch nicht. 

Der Rücktritt Christian Kerns im Oktober 2018 war ein weiterer Rückschlag für die Sozialdemokraten. Zwei Wochen vor der Ankündigung gab Kern noch an, zwar als SPÖ-Chef zurücktreten zu wollen, aber die SPÖ als Spitzenkandidat in die EU-Wahlen zu führen. Kern hatte sogar die Absicht, Spitzenkandidat der europäischen Sozialdemokraten zu werden. Daraus wurde nichts. Seiner Nachfolgerin Pamela Rendi-Wagner gelang es kaum, die SPÖ als Oppositionspartei zu stärken und wurde teilweise auch von Parteifreunden kritisiert. Oder in den Worten Jörg Leichtfrieds im Interview mit uns: „So etwas wie das letzte Jahr habe ich noch nie erlebt.“

Dann kam die Ibiza-Affäre. Doch auch diesen Skandal wusste die SPÖ nicht zu nutzen. Zu lange wartete sie ab, zu lange zögerte sie. Schlussendlich wagte sie die Flucht nach vorne mit einem Rundumschlag. Statt des bereits eingebrachten Misstrauensantrags gegen den Bundeskanzler brachte sie einen eigenen gegen die gesamte Regierung ein. Sebastian Kurz habe kein Gespräch und keine Mehrheiten gesucht, die Regierung müsse also gehen, hieß es aus der SPÖ-Parteizentrale. 

NEOS: Unauffällig konstruktiv 

Wesentlich unaufgeregter ging es bei den NEOS zu. Die größte Hürde war wohl der Rücktritt des langjährigen Parteichefs und Gründers, Matthias Strolz, im Juni 2018. Die Übernahme Beate Meinl-Reisingers verlief aber trotz Mutterfreuden nahtlos und fehlerfrei. 

Besonders profilieren konnten sich die NEOS mit ihrer Kritik am doch nicht umgesetzten Rauchverbot in der Gastronomie (“Frau Gesundheitsministerin, was ist mit Ihnen?”), der akribischen Arbeit Stephanie Krispers im BVT-Untersuchungsausschuss und Irmgard Griss’ souveränen Reden zu Rechtsstaat und Demokratie. In Wirtschafts- und Sozialfragen stimmen die NEOS hin und wieder doch gemeinsam mit ÖVP und FPÖ, auch wenn sie im Detail zumeist Kritik übten (z.B. bei der Arbeitszeitflexibilisierung). Ebenso unterstützte die Partei die Ratifizierung des Freihandelsabkommens CETA. 

Als einzige Partei stimmten die NEOS nicht dafür, der Regierung das Vertrauen zu entsagen. Man wolle staatspolitische Verantwortung über Parteipolitik stellen und Sebastian Kurz nicht aus der Verantwortung lassen, sondern weiterhin mit parlamentarischen Anfragen Druck machen können. Das überzeugte den politischen Gegner nicht: Er sah die NEOS in Gedanken schon bei einer Regierungsbeteiligung mit den Türkisen. Nichtsdestotrotz bewerteten die NEOS die türkis-blaue Regierung alles andere als positiv und kritisierten den Stil der Regierung pausenlos. 

Pilz war gestern, JETZT ist heute

Gegründet vom ehemaligen Grünen Peter Pilz trat die Liste JETZT erstmals bei der Nationalratswahl 2017 an und erreichte 4,41 Prozent der Stimmen. Sie lag also – im Gegensatz zu den Grünen – knapp über der 4-Prozent-Hürde.

Wie die SPÖ hatte auch die Liste JETZT Probleme in den eigenen Reihen. So verzichtete der namensgebende Parteigründer Peter Pilz noch bevor die neue Regierung gebildet worden war auf sein Nationalratsmandat, weil Vorwürfe sexueller Belästigung publik wurden. Infolge benannte sich die Liste Pilz in Liste JETZT um. Nur wenige Monate später, im Jänner 2018, wurde bekannt, dass Pilz in den Nationalrat zurückkehren werde, was zu scharfer Kritik von Regierungs- und Oppositionsparteien, aber auch personellen Problemen in den eigenen Reihen führte.

Als Oppositionspartei zeigte sich die Liste JETZT als vehementer Kritiker der türkis-blauen Regierung. Man stimmte gegen den Großteil der Vorhaben von ÖVP und FPÖ und unterstützte den Misstrauensantrag gegen Sebastian Kurz. Bei der EU-Wahl hatte die Liste JETZT allerdings keinen Erfolg – man erlangte gerade einmal etwas mehr als ein Prozent der Stimmen. Auch Umfragen für die kommende Nationalratswahl deuten eher auf ein Comeback der Grünen und das Ausscheiden der Liste JETZT aus dem Nationalrat.

Die letzten zwei Jahre taugen nicht als Musterbeispiel gelungener Oppositionsarbeit. Wer auch immer in der kommenden Legislaturperiode Opposition, wer auch immer Regierung sein wird – Luft nach oben gibt es allemal.