„Klimaschutz ist teuer.
Kein Klimaschutz ist teurer.“

VON UNA NOWAK & MAX SCHACHERMAYER

„Sind Sie die charmantere Ulrike Lunacek?“ Bei nachhaltigen Äpfeln und Kaffee erzählt der gebürtige Steirer im grünen Bundesbüro von seiner Vision einer nachhaltigen, sozialen „Republik Europa“ und räumt Fehler der Bundesgrünen ein. Dabei behält Kogler, wie er auch selbst sagt, stets seinen Schmäh.

Herr Kogler, wie geht es Europa heute?

Eigentlich ist Europa immer noch ein grundsätzlich gesunder Körper, der sich ein wenig verkühlt hat. Einerseits an den Gliedmaßen, wo eine Amputation, der Brexit, den gesamten Körper zumindest beschäftigt. Andererseits macht man sich Sorgen, dass dieser Virus den gesamten europäischen Körper ansteckt. Ein paar Viren kommen noch von außen dazu: die Trumps und die Putins dieser Welt. Ihre Interessen sind nicht mit einem geeinten Europa in Einklang. Der Angriff „von innen“ ist jedoch mindestens so gefährlich. Da haben wir uns schon eine Infektion eingefangen. Ich rede von den Orbáns, den Salvinis und den Le Pens. Die spielen alle in derselben Liga. Wir müssen uns auf jeden Fall immunisieren. Es braucht eine Gegenbewegung, zu der die Grünen gehören wollen.

Wie soll Europa in 30 Jahren aussehen?

Wenn ich eine Wunschvorstellung deponieren darf, ist das einfach: Ein vertieftes Bündnis in relevanten Fragen. Das betrifft sowohl die Regierungen als auch die Bevölkerung. Mir schwebt die Vision der „Republik Europa“ vor, die föderal sein wird und ähnlich wie Deutschland und Österreich aus Bundesländern bestehen soll. Die „Republik“ zielt auf eine gemeinsame Bürger*innenschaft ab: Die Bürgerin in der Ostslowakei hat genau dieselben Rechte wie der Bürger in Galizien oder Westspanien. Möglicherweise wird es etwas anderes als die „Vereinigten Staaten von Europa“, weil da kann es passieren, dass die Staats- und Regierungschefs eine zu große Rolle spielen.

Denken Sie nicht, dass eine europäische „Republik“ die nationalen Parlamente schwächen würde?

Das ist eine Frage der Kompetenzverteilung. Die Bürger*innen als Souverän müssen gestärkt werden.

“Zwar haben alle den Umweltschutz groß auf dem Papier, nur in der Praxis schaut das Ganze sehr anders aus.”

Die Grünen waren vor dem österreichischen EU-Beitritt 1995 seine größten Kritiker. Sehen Sie Europa nach wie vor als reines Wirtschaftsprojekt?

Nein, schon lange nicht mehr. Es ging außerdem nie darum, sich gegen Europa oder europäische Werte zu stellen, sondern sich mit anderen Staaten, die vor dem Beitritt standen, für eine radikale Verbesserung der Union einzusetzen. Die Union ist heute aber mit Sicherheit zu viel Wirtschaftsgebilde. Zum Beispiel ist die Umweltunion zu schwach ausgeprägt, die Sozialunion existiert gar nicht. Die Mitgliedstaaten tricksen sich ständig durch das Einstimmigkeitsprinzip aus. Immer ist einer dabei, der alles aufhält, sei es jetzt Irland, die Slowakei oder Ungarn.

Klimaschutz ist das Kernthema der Grünen. Im Februar sagten Sie sogar, Sie seien die einzige Partei, die in Europa das Klima und die Umwelt schützen will. Mittlerweile haben die österreichischen Parteien den Klimawandel als Herausforderung anerkannt. Das Pariser Abkommen wurde in Windeseile und mit großer Mehrheit von den europäischen Parlamentsfraktionen ratifiziert. Wie kann sich eine Ökopartei hier heute noch abheben?

In der Praxis natürlich. Außerdem sprechen sich nicht alle Parteien wirklich für den Klimaschutz aus. Die FPÖ ist maßgeblich für die Rückwärtsentwicklung unserer Umwelt- und Klimapolitik verantwortlich, während die ÖVP gewähren lässt. Ich weise also diese Fragestellung zurück: Zwar haben alle den Umweltschutz groß auf dem Papier, nur in der Praxis schaut das Ganze sehr anders aus. Auch die NEOS deklarieren sich nicht wirklich. Wir Grünen sind die, die dafür sorgen, dass die Welt wirklich besser wird. Und es mag sein, dass das Pariser Klimaschutzabkommen angenommen wurde. Aber: Da ging es um Ziele. An der Umsetzung hapert es in den einzelnen Parteien. Wir in Österreich sind europaweit im Ranking letzte im Klimaschutz. Dabei waren wir mal Vorreiter!

Ist Klimaschutz ein linkes Thema?

Nein. Ich bin ja selbst auch nicht ausgewiesener Linker. Aber das ist auch nicht so wichtig, finde ich. Wie Sie gesagt haben, haben inzwischen viele verschiedene Parteien Klimaschutz im Programm stehen. Das fördert das Bewusstsein, das will ich gar nicht abstreiten. Nur tunmuss man dann! Apropos: Lange Zeit war es so, dass die kommunistischen Staaten die größeren Umweltverschmutzer waren als die westlichen!

Warum sieht man dann die Wählerschaft der Grünen dennoch im linken Spektrum angesiedelt?

Ich sehe die Grünen nicht in erster Linie bei der linken Wählerschaft. Aber wenn man es politologisch lehrbuchmäßig einteilt, dann kann man erkennen, dass – anders als in der Bundesrepublik Deutschland (dort sind die Grünen mittiger) – die österreichischen Grünen durchaus links der Mitte zu finden sind. Nur ist das mehr eine Zuschreibung. Unsere WählerInnenschaften waren anfangs mindestens zur Hälfte bürgerlich.

Sie fordern eine europäische Sozialunion. Das kann in der Praxis sehr unterschiedlich ausfallen. Wie stellen Sie sich das konkretvor?

Die Sozialunion ist eine Grundsatzfrage. Wir brauchen mehr sozialpolitische Kompetenzen in der Union. Viele Sozialstandards stagnieren statt sich nach vorne zu entwickeln, weil die Staaten mehr gegeneinander arbeiten als miteinander. Wir müssen soziale Standards europaweit angleichen, zum Beispiel die Höhe der Mindestlöhne. Wie hoch diese bemessen sind, ist immer die Frage: Sind sie zu hoch, steigt die Arbeitslosigkeit – das wollen viele Linke nicht wahrhaben. Aber angesichts der unfassbar niedrigen Löhne, die heute am freien Markt teils ausbezahlt werden, bin ich natürlich auch für angemessene Mindestlöhne. Das bedeutet natürlich nicht, dass es in Rumänien und Frankreich die gleichen Mindestlöhne gäbe, sondern dass sie an die Wirtschaftsleistung angepasst werden müssen.

Eine gemeinsame Arbeitslosenversicherung hätte einen großen Vorteil: Sie passt mit den anderen Freiheiten der Union, wie dem freien Warenverkehr und der Dienstnehmerfreiheit, gut zusammen. Die Arbeitnehmer wären bei einer gemeinsamen Arbeitslosenversicherung viel mobiler. Selbstverständlich wäre der Arbeitslosenbeitrag in Rumänien wieder anders als in Frankreich: dazu braucht es gute Berechnungsformeln.

Schafft eine Sozialunion nicht den Anreiz für Mitgliedstaaten, keinen verantwortungsvollen Umgang mit Geldern zu pflegen?

Das könnte man sich überall fragen. Wenn man es in etwa so ausgestaltet wie ich gerade skizziert habe, dann nicht. Die Sozialwissenschaft ist weit genug, eine Sozialunion so zu konstruieren, sodass Vorteile für das Individuum bestehen, ohne dass auf der anderen Seite Ineffizienzen entstehen.

Stichwort Transferunion. Wir Österreicher sollen also die italienischen Arbeitslosen auffangen, wenn die Wirtschaftspolitik der italienischen Regierung scheitert?

Die Transferunion hätte einen ähnlichen ökonomischen Wirkungseffekt. Nur ist die Transferunion von der Sozialunion begrifflich zu trennen. Die Transferunion ist, so wie Sie ihn verwenden, ein Metabegriff. Üblicherweise würde man unter Transferunion das verstehen, was in Österreich Finanzausgleich heißt.

“Es werden nicht alle bleiben können, die es zu uns geschafft haben. Das ist nun einmal so.”

Wenn wir jedoch eine gemeinsame Arbeitslosenversicherung in Europa hätten, würden wir als Österreicher im schlimmsten Fall für die Arbeitslosen in Italien haften. Insofern gäbe es Transfers.

Da stellt sich die Frage, wie das ausgestaltet wäre. Es gibt nicht nur ein funktionierendes Modell einer Arbeitslosenversicherung. Wenn man die Fonds in dem Zusammenhang betrachtet, zahlen alle Beteiligten in die Union auf Basis ihrer Wirtschaftsleistung ein. Dann gibt es die Rückverteilung durch die Fonds. Anschließend wird behauptet: „Die hier sind Nettozahler und die dort sind Nettoempfänger.“ Da entsteht natürlich eine Transferunion, das haben wir auch ähnlich in Österreich. Alle Bürgerinnen und Bürger in den Bundesländern zahlen Steuern. In Salzburg und Vorarlberg in Summe mehr, weil dort das Lohnniveau höher ist. Jetzt werden aber bestimmte staatliche Leistungen zwischen Burgenland und Vorarlberg nicht differenziert, zum Beispiel die Kinderbeihilfe. Diese ist im Burgenland jedoch mehr wert. Wir haben also zumindest eine kleine Transferunion in Österreich zwischen Vorarlberg und dem Burgenland.

Nun ist aber die Solidarität unter Österreichern größer als zwischen europäischen Ländern, nicht zuletzt, weil sie sich auch stärker voneinander unterscheiden. Haben wir genug europäischen Bezug und Identität, um so eine Sozialunion umzusetzen?

Ja. Aber in dem vorhin erwähnten Rahmen. Mindestlöhne und Arbeitslosenversicherung wie beschrieben. Ich wäre nur gegen eine Transferunion, die alle Schleusen öffnet. Was schon zutrifft, ist, dass Länder wie Griechenland effizienter werden sollten. Der Staat Griechenland war ja kaum mehr ein funktionierender Staat. Insofern ist es durchaus wichtig und gerecht, mit oder ohne Transferunion, wenn Mitgliedsländer angehalten werden, in einer bestimmten Art und Weise zu funktionieren. Griechenland hat auf dem Papier die höchsten Steuern für alles Mögliche, während das in der Praxis nicht zutrifft, weil die Steuerbehörden nicht funktionieren. Das gehört also alles auf den Kopf gestellt.

Sie sprechen auch von einem „Green New Deal“. Davon war bei der letzten Wahl noch nicht die Rede. Was stellen Sie sich konkret darunter vor?

Ein Investitionsprogramm, das die meisten Gelder in ganz andere Projekte als derzeit steckt. Ein großer Teil der Förderungen der Union fließt leider in Projekte, die mit der Altindustrie in Verbindung stehen, wo ja nach wie vor mit fossilen Brennstoffen gearbeitet wird. Gerade wenn es um dieses Thema geht, sollte man nur mehr in Zukunftstechnologien investieren. Es wurde groß gefeiert, dass die Kohle-Subventionen reduziert wurden, jedoch liegen die Förderungen in der Union für Kohleabbau immer noch bei über 10 Milliarden Euro pro Jahr. Das ist doch pervers! Die Grünen sind dafür, dass das ausläuft. Das heißt, wir benötigen für die Gebiete in Deutschland und Tschechien entsprechende Umstellungsprogramme. Den Kohleabbau wird es zwar weiterhin geben, aber unrentabel soll er werden!Eisenbahnprojekte halte ich zum Beispiel auch für hochwichtig, um speziell Inlandsflüge innerhalb Europas drastisch zu reduzieren. Aber das wird nicht privat gefördert werden, das wird in erster Linie eine öffentliche Investition sein müssen. Durch Subventionen können wir es schaffen, dass Zugfahren nicht doppelt so teuer wie Fliegen ist, sondern umgekehrt.

Wie vereinbaren Sie Klimaschutz, Wohlstandssicherung und Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt?

Klimaschutz ist teuer. Kein Klimaschutz ist teurer, so viel steht fest. Das ist nur eine Frage der Länge des Berechnungszeitraums und eine Generationengerechtigkeitsfrage. Wie kann das sein, dass wir wirtschaften, wie wir wirtschaften, ohne die nächste Generation auf dem Radar zu haben? Deshalb schlägt diese ganze Ökonomie fehl, die immer nur die nächste Investitionsperiode sieht. Aus dem Grund finde ich „Fridays for Future“ auch so wahnsinnig wichtig, weil hier ein neues Bewusstsein geschaffen wird. Niemals war ein Satz der Grünen aus der Gründungszeit so zutreffend wie heute: „Wir haben die Erde von unseren Kindern nur geborgt“. Die Situation ist dramatisch! Also sind Wohlstand, Klimaschutz und Wettbewerbsfähigkeit für mich sehr wohl vereinbar. Nebst den Verteilungsgerechtigkeitsfragen, die damit auftauchen. Denn die Auswirkungen dieser Katastrophe treffen ja andere als die Verursacher.

“Österreich ist bei den Zahlungen für die aktuellen Syrien-Hilfsprogramme immer noch am letzten Platz in Europa. Es ist eine Schande! Pro Kopf gibt Deutschland das Zehnfache aus.”

Auch Klimawandel und Migration sind eng miteinander verbundene Themen. Derzeit wird das Thema Migration unter Ihren acht Forderungen nicht einmal erwähnt.

Da es bei dem Thema oft um Fragen der Menschenwürde und Menschenrechte geht, sind wir Grünen natürlich mit gehisster Fahne dabei. Uns wurde die Zuschreibung verpasst, wir würden alle von Elend bedrohten Menschen dieser Welt nach Österreich importieren wollen, persifliert ausgedrückt. Das ist natürlich völliger Humbug. Wenn die FPÖ jahrelang so etwas behauptet, die Kronees dann druckt und sich Spitzengrüne nicht genug erklären, bleibt so etwas halt hängen. Wir wollen unseren sprachlichen Auftritt verändern und das Thema klar durchdeklinieren. Schutz und Kontrolle der Außengrenzen muss geschehen. Das wäre meiner Meinung nach nur gar nicht so wichtig, hätten die Regierungen Europas richtig und vor allem rechtzeitig Maßnahmen gesetzt. Auch ich habe die Tatsache, dass 2015 Menschen ohne Registrierung Europas Schengenraum betreten haben, nicht für gut befunden. Natürlich wollten dann einzelne Nationalstaaten eigene Wege gehen, auch wenn die Umsetzung nicht richtig war. Das berühmte „Fluchtursachen bekämpfen“ wäre so wichtig! Alle sprechen davon, nur niemand tut etwas! Österreich ist bei den Zahlungen für die aktuellen Syrien-Hilfsprogramme immer noch am letzten Platz in Europa. Es ist eine Schande! Pro Kopf gibt Deutschland das Zehnfache aus. Zusätzlich brauchen wir einheitliche Asylverfahren und eine einheitliche Verteilung.

In Ihrem letzten Wahlprogramm 2014 haben Sie sich für mehr legale Einreisemöglichkeiten eingesetzt.

Ja, die brauchen wir für jene, die überhaupt keine Existenzchance haben. Auch um zu verhindern, dass sie sich den Schleppern anvertrauen! Das werden aber nur bestimme sein können, das ist klar. Es werden nicht alle bleiben können, die es zu uns geschafft haben. Das ist nun einmal so.

“Sarah Wiener war schon in ihrer Jugend politisch, war bei den größten StudentInnen-Protesten der Burggartenbewegungdabei. Da war ich noch ein unpolitischer Trottel! So schaut’s aus.”

Sie verweisen gerne auf die personelle Stärke Ihrer Liste. Mit Sarah Wiener als Listenzweite, eine bekannte TV-Köchin und Biobäuerin, wurden die EU-Parlamentarierin Monika Vana und der EU-Abgeordnete Thomas Waitz nach hinten gereiht. Stellen die Grünen Prominenz über Kompetenz?  

Da sind mehrere Fragen verpackt. Der Thomas Waitz ist einer unserer Besten. Nur war er das letzte Mal auch auf Platz vier. Letztes Mal hatten wir drei Mandate. Schauen wir, wie viele es diesmal werden! Sonst ist er bei Landtags- und Nationalratswahlen dabei. Wie auch Monika Vana: engagiert und kompetent, keine Frage. Allerdings haben wir dieses Mal jemanden gesucht, der nicht nur ökologisch kompetent ist, sondern auch breitere Schichten anspricht. Eigentlich haben das die meisten als ziemlichen Coup empfunden, dass die Sarah Wiener gewonnen werden konnte. Ich würde diese Frage so strikt zurückweisen. Wir haben Berufspolitiker und auch Quereinsteiger – aber so quer ist sie gar nicht! Sarah Wiener war schon in ihrer Jugend politisch, war bei den größten StudentInnen-Protesten der Burggartenbewegung dabei. Da war ich noch ein unpolitischer Trottel! So schaut’s aus. Sie hat sich, fast ein bisschen amerikanisch, alleine hochgearbeitet und konnte auf diese Weise sehr interessante, ökologische Projekte und Stiftungen gründen. Ich kenne kaum jemanden, der die Werte Tierschutz und nachhaltige Landwirtschaft so stark verkörpert wie Sarah Wiener.

Für wen machen Sie Politik?

Am besten für alle Menschen! Für die bestehenden und auch die kommenden Generationen. Ob das alle Menschen annehmen, ist natürlich die Frage. Für das reichste Prozent sind wir wahrscheinlich weniger da, so würden die das sehen. Also alles in allem eher Politik für die vielen als für die wenigen.

Man kann in Österreich als Linker die Sozialdemokraten und den erfahrenen Europapolitiker und ehemaligen Grünen Johannes Voggenhuber wählen. Wozu braucht es die Grünen noch?

Wegen unserem Programm, wie vorher beschrieben. Wir wollen Ökologie, Menschlichkeit, Gerechtigkeit und eine vernünftige Wirtschaftspolitik unter einen Hut bringen. Diese Mischung, behaupte ich, bekommst du nur mit Grün. Außerdem sind wir Teil einer nicht aufzuhaltenden großen, europäischenBewegung, die genau diese Ideale vertritt. Die „Ökologische Republik Europa“, die „Soziale Republik Europa“ und speziell die „Friedensrepublik Europa“ sind unsere Ziele. Ich hoffe, dass sich doch viele dafür erwärmen können!

Die Grünen sind mit einem Wahlergebnis von 3.8 % 2017 erstmals nicht zurück in den Nationalrat eingezogen. Wie erklären Sie sich dieses Scheitern?

Da waren einige Eigenfehler. Unter anderem auch, dass wir eine Themenverschiebung zugelassen haben. Das Migrationsthema wurde so groß, dass bestimmte Parteien davon profitiert haben. Hätte damals schon „Fridays for Future“ stattgefunden, würde es jetzt anders ausschauen. Man sieht jetzt, wie wichtig das Thema Klimaschutz in den meisten Bevölkerungsschichten ist. Dennoch ist klar, dass hier Fehler, wie der Umgang mit den Jungen Grünen, passiert sind.Die Grünen haben sich aber längst wieder konstituiert. Wir hatten auch wieder einen Mitgliederzuwachs. Unsere Kongresse sind größer als jemals zuvor!

Ihr Mitstreiter Johannes Voggenhuber meinte nach der Nationalratswahl, das Scheitern ließe sich dadurch erklären, dass „Versprechen, Prinzipien und Ideale der Gründerzeit in zynischer Überheblichkeit über Bord geworfen“ wurden. Teilen Sie diese Ansicht?

Nein, teile ich nicht. Da reichen die anderen, dummen Eigenfehler. Wie auch die Nacht-und-Nebel-Aktion Eva Glawischnigs, für die der Laden nicht ausreichend vorbereitet und sortiert war.

Das historische Scheitern der Grünen ist also einzig und alleine auf die persönliche Inkompetenz von Frau Glawischnig und Frau Lunacek zurückzuführen?

Nein, überhaupt nicht. „Historisches Scheitern“ – für was trainieren Sie da? Ein freches Interview. Nein, ist eh gut. Die Nachfrage ist berechtigt. Der Ausfall mit den Jungen Grünen war im Februar und März 2016. Aber schon im Dezemberwar Van der Bellen Präsident. Da hätten wir eigentlich als Erfolg stärker feiern und auf der Schiene weiterarbeiten müssen. Außerdem haben uns sehr viele Kommunikationsleute verlassen.

Sie erwähnten die deutschen Grünen, die gerade ihre Blütezeit auf Kosten der SPD erleben. In Österreich verlieren die Grünen. Wo liegt der Unterschied?

Ganz einfach: der Unterschied sind die SPD und die SPÖ. Das Image der großen Koalition in Deutschland ist einfach derart am Boden. Die Grünen machen es aber dennoch mit Abstand am besten. Die Liberalen gewinnen ja trotzdem nichts dazu. Aber wäre Trittin in Deutschland zwei Monate vor der Wahl gegangen, hätten es die deutschen Grünen ziemlich sicher auch nicht geschafft.

Die Ergebnisse der Grünen bei den Europawahlen haben historisch jene der Nationalratswahlen widergespiegelt. Wie wollen Sie einen Kollaps der Grünen bei der Europawahl verhindern?

Wir werden genau auf diese Mischung, Umwelt und Klimaschutz, Gerechtigkeitsfragen und Konzernkontrolle, Verteidigung der Demokratie und der Fortentwicklung, pochen. Das Umweltthema gibt wahnsinnig viel her, speziell Plastik wird groß diskutiert. Ich kandidiere ja nicht nur, weil ich Kollapse verhindern möchte, sondern für etwas eintreten will!

Den Grünen wird vorgeworfen, wichtige Wertekonflikte nicht anzusprechen, zum Beispiel Islam und Feminismus, Einwanderung und Rechtsstaat, Terrorschutz und Überwachungswahn, Klima und Lifestyle. Wieso gehen Sie diesen Konflikten aus dem Weg?

Nein, das glaube ich nicht. Ich kann aber schon nachvollziehen, dass 2017 dieser Eindruck entstanden ist. Das hat mehrere Gründe, möglicherweise auch, weil bei den vielen Themen von uns keine Zentralisierung stattgefunden hat, kein integrierter Auftritt. Um den Standpunkt zu Islam und Feminismus klarzustellen: Es ist völlig klar, dass die Standards, die bei uns gelten, voranzustellen sind. Das war auch immer so!

Auch der Zurechtweisungsdiskurs ist häufiger Kritikpunkt, Stichwort Gendern. Ist die Kritik am erhobenen Zeigefinger und der Identitätspolitik berechtigt?

Da geht es aber auch mehr um Zuschreibung als um irgendetwas anderes. Unsere Verantwortung ist es aber, wie wir mit solchen Zuschreibungen umgehen! Sicherlich haben aber einige von uns da und dort diesen Eindruck bestätigt, wenn es um Themen wie das Gendern geht. Ich sage nach wie vor: Sprache formt sicher das Denken, unsere Werte und unsere Entwicklung. Da geht es aber nicht darum, Leuten mit erhobenem Zeigefinger nachzurennen und ihnen das Gefühl zu geben, sie wären hinten nach. Nur weil wir glauben, dass wir die genaueren und besseren Überzeugungen haben, heißt das noch lange nicht, dass wir die besseren Menschen sind! Dasist wesentlich und das muss man auch vermitteln.

Als Spitzenkandidat der steirischen Grünen sagten Sie einst der Presse, Sie seien die „klassische und brauchbare Nummer zwei und nicht geeignet für die allererste Reihe“. Verfügen Sie über das notwendige Charisma, das die Grünen für ein come-backbrauchen?

Na ja, jedenfalls denken es die anderen. Das muss reichen. Es stimmt: Meine Entwicklung war nie darauf ausgelegt, dass ich Nummer eins werde. Aber mein Plan war nicht, dass die Grünen aus dem Nationalrat fliegen. Mein Plan war auch nicht, Bundessprecher zu werden. Es kam aber so.

Sind Sie die charmantere Ulrike Lunacek?

Das glaube ich nicht. Ich bin ich manchmal schroffer als meine Vorgängerinnen, aber oft ist es mit einem Schmäh verbunden. Ich glaube, damit fahren wir ganz gut. Ich schätze die Ulrike nach wie vor sehr. Wir arbeiten eng zusammen. Die ist eine Nummer in Europa!

Welcher nicht-österreichische Politiker hat Sie in den letzten Jahren am meisten beeindruckt?

Einerseits schon Frau Merkel im Jahr 2015. Andererseits Robert Habeck in Deutschland. Ansonsten die Bürgermeisterin von Barcelona, Ada Colau. In Madrid ist jetzt auch eine Frau Bürgermeisterin geworden. Sie alle stammen aus sozialen Bewegungen nach der Wirtschaftskrise.