„Brandt,
Palme,
Kreisky!“

VON JOHANNES ALMÁSI-SZABÓ, SIMON NEHRER UND BERTRAM RANFTL

Seit das Parlament hinter Baugerüsten verschwand, werten zwei dunkelgraue Klötze den sonst so schnöden Wiener Heldenplatz auf. In einem dieser schnittigen „Pavillons“ wartet Andreas Schieder ganz leger im Poloshirt auf uns. In seinem Eckbüro mit Blick auf den Hintern des Reiterstandbilds Erzherzog Karls erzählt Schieder von Steuerschlupflöchern, Karl Marx und der europäischen Sozialdemokratie.

Herr Schieder, wie geht es Europa heute?

Europa hat es momentan nicht leicht, weil große Ungewissheit in Sachen Brexit herrscht. Zusätzlich droht der Angriff der Rechtsnationalisten, die sich jüngst zu einer gemeinsamen Fraktion zusammengeschlossen haben.

Wie erklären Sie sich den Zulauf zum Nationalstaat?

Ich sehe weniger Zulauf zum Nationalstaat als zum Nationalismus. Wer glaubt denn ernsthaft, die großen Herausforderungen unserer Zeit könnten auf nationaler Ebene gelöst werden? Den Rechtsextremen gelingt es, eine vorhandene Wut auf die Schwächeren umzuleiten. Sie lenken damit zum Beispiel vom Sozialabbau ab. Ich sehe darin überhaupt keine Lösungsvorschläge. Im Gegenteil: Damit werden zusätzliche Probleme geschaffen. Weder das Gegeneinander der Nationalisten noch das Weiter so der Konservativen kann die Lösung sein.

Haben Sie 1995 für den EU-Beitritt Österreichs gestimmt?

Ja. Nicht nur habe ich für den EU-Beitritt gestimmt, sondern sogar eine Informationskampagne geleitet.

Zur Zeit herrscht Ungewissheit, ob die Union in drei Jahren überhaupt noch bestehen wird!

Hatten Sie keine Bedenken?

Wie bei jeder Abstimmung gibt es Punkte, die man kritischer sieht. In Summe war es eine eindeutige Entscheidung, da wir als kleines Land erst in einer europäischen Gemeinschaft die Möglichkeit erhalten, die Geschehnisse der Welt mitzugestalten. Bedenken hatte ich vor allem bezüglich der sozialen Absicherung und der Freihandelszone. À la longue haben sich diese Bedenken aber zerstreut. Österreich hat vom EU-Beitritt stark profitiert.

Wie soll die Europäische Union in 30 Jahren aussehen?

Zur Zeit herrscht Ungewissheit, ob die Union in drei Jahren überhaupt noch bestehen wird! Wir müssen den Weiterbestand sichern und gleichzeitig ein Reformprojekt entwickeln. Dieses Reformprojekt ist der Wohlfahrtsstaat Europa. Ein Europa, das nicht nur Binnenmarkt ist, sondern ein Ort der sozialen Annäherung der Mitgliedstaaten und des sozialen Zusammenhalts.

Vielen erscheint die EU intransparent, undemokratisch und weit entfernt. Wie erklären Sie sich diese Kritik?

Die Union und ihre Institutionen sind aus der Geschichte des Zusammenwachsens entstanden. Sie wurde ja nicht gegründet wie ein Staat, sondern sie hat sich schrittweise zum heutigen Bund 28 souveräner Staaten entwickelt. Die heutigen Institutionen sind denkbar ungeeignet für 28 Mitgliedstaaten. Wir müssen uns die Frage stellen, ob das Prinzip, dass jedes Land Sitz und Stimme in den Entscheidungsgremien haben muss, noch zeitgemäß ist. Die geografische Entfernung zu Brüssel schafft ein Gefühl der Weite. Das täuscht. Ein Vorarlberger würde Wien genauso als geografisch „weit entfernt“ bezeichnen.

Ist die EU ein Wirtschaftsprojekt?

Ja. Sie ist leider viel zu sehr Wirtschaftsprojekt und zu wenig Sozialprojekt. Unsere Aufgabe wird es sein, aus der EU auch ein Sozialprojekt zu machen.

Ich glaube, dass sozialpartnerschaftlich ausgehandelte Lohnpolitik sinnvoller ist, weil sie nicht nur der Frage „wer kriegt wieviel“ nachgeht, sondern auch volkswirtschaftliches Wachstumsinteresse im Auge behält.

Sie stellen der Wirtschaft das Soziale gegenüber, als wären die beiden Gegensätze. Mehr Wirtschaft heißt also weniger Soziales? Gingen die beiden nicht gemeinsam auf eine Kuhhaut?

Die EU hat schon vor Längerem die soziale Säule, den social pillar, beschlossen. Nur umgesetzt wurde er nie. Auf dieser europäischen Kuhhaut finden wir vor allem den gut funktionierenden, gemeinsamen Binnenmarkt. Nur fehlen diesem Binnenmarkt soziale Mindeststandards, das Prinzip „gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“. Das zweite Problem sind Steuerschlupflöcher für Großkonzerne und ein unfairer Steuerwettbewerb. Ungarn erhebt beispielsweise eine Körperschaftsteuer von neun Prozent während der europäische Durchschnitt zwischen 20 und 25 Prozent liegt. Das führt zu ungerechten Verzerrungen.

Was Sie als Steuerdumping beschrieben haben, nennen andere Steuerwettbewerb und heißen ihn gut. Wie erklären Sie sich diese unterschiedliche Wahrnehmung?

Da müssen Sie mir beantworten, was daran positiv sein soll. Wie kann sich denn Ungarn diese Einbuße an Steueraufkommen durch eine niedrigere Körperschaftsteuer leisten? Ungarn bekommt drei Milliarden Euro jährlich von der Europäischen Union geschenkt. Wir finanzieren also auch noch deren niedrigere Steuerpolitik mit unserem Geld. Das ist für mich alles andere als fair.

Wollen Sie einen einheitlichen europäischen Körperschaftsteuersatz?

Ja.

In einigen europäischen Ländern, darunter Österreich, werden Löhne kollektivvertraglich von den Sozialpartnern ausgehandelt. Wird durch einen gesetzlichen Mindestlohn und andere soziale Standards nicht gleichzeitig ein Eckpfeiler der Sozialpolitik, die Sozialpartnerschaft, infrage gestellt?

Ich glaube, dass sozialpartnerschaftlich ausgehandelte Lohnpolitik sinnvoller ist, weil sie nicht nur der Frage „wer kriegt wieviel“ nachgeht, sondern auch volkswirtschaftliches Wachstumsinteresse im Auge behält. Nachdem aber einige Länder diese Strukturen geschwächt haben und in anderen Ländern Sozialpartnerschaften nie eingeführt worden sind, ist dort ein gesetzlicher Mindestlohn sinnvoller. Unser Konzept wäre es, einen europäischen Sozialpartnergipfel einzuberufen, detaillierte Informationen über die Situation in allen EU-Ländern einzuholen und dann mit einzelnen Ländern eine Diskussion zu beginnen.

Es geht nicht um Sozialleistungen, wie eine europäische Arbeitslosenversicherung, sondern um die Definition sozialer Sicherheitsniveaus.

Sollen in Zukunft auch Sozialleistungen im Rahmen der EU erbracht werden?

Nein. Es geht nicht um Sozialleistungen, wie eine europäische Arbeitslosenversicherung, sondern um die Definition sozialer Sicherheitsniveaus. Jedes Land hat eigene Systeme der sozialen Sicherheit: teilweise staatlich, manchmal über Gewerkschaften oder über Sozialversicherungen. Diese Systeme zu harmonisieren ist schwierig und auch nicht notwendig. Unser Ansatz ist, dass die EU den gesetzlichen Rahmen für Sozialstandards, nicht die Sozialleistung an sich, bereitstellt. Es braucht also keine europäische Arbeitslosen- oder Pensionsversicherung, sondern ein EU-weites Regelwerk, das beispielsweise Mindestbezüge und Anspruchsdauer im Falle der Arbeitslosigkeit regelt.

Soll die EU direkt Steuern erheben?

Im Moment lukriert die EU ihr Budget hauptsächlich durch Beitragszahlungen der Mitglieder. Zusätzliche Posten wie Zölle oder Mehrwertsteueraufkommen sind eher gering. Einige Steuern würden sich daher besonders eignen, um auf EU-Ebene eingeführt zu werden. Beispielsweise eine Finanztransaktions- oder CO2-Steuer.

Einige dieser Initiativen, zum Beispiel die erwähnte Schließung von Steuerschlupflöchern, scheiterten am Widerstand einzelner Länder im EU-Rat. Sind Sie für ein Ende der Einstimmigkeit in diesen Fragen?

Ja. Ich bin überhaupt für Mehrheitsentscheidungen im Steuerrecht. Zuerst sollen Maßnahmen zur Betrugsbekämpfung mehrstimmig entschieden, in einem zweiten Schritt auch Steuergesetze mehrstimmig verabschiedet werden können.

Soll sich Österreich auf nationaler Ebene um die Lösung solcher Probleme bemühen, wenn innerhalb der EU keine Lösung gefunden werden kann?

Im Grunde ja. Alleingänge Österreichs muss man sich aber im Einzelfall ansehen. Eine Finanztransaktionssteuer auf nationaler Ebene brächte wenig. Auch wenn wir zum Beispiel Kerosin besteuerten, wird höchstens der Flughafen in Bratislava ausgebaut und die Probleme bleiben dieselben. Deshalb braucht es europäische Lösungen.

Fahren Sie einmal in Deutschland mit dem Zug. Der ist nie pünktlich! Dieser Budget-Fetischismus führt dazu, dass zu wenig investiert wird.

Der Euro hat neben einigen Vorteilen auch eine Reihe von Risiken mit sich gebracht. Die Leistungsbilanzdefizite der südlichen EU-Länder akkumulieren sich, die TARGET2-Salden erklimmen ungeahnte Höhen. Baut sich da ein großes Gewitter vor uns auf?

Der Euro ist gut. Österreich und Europa haben von seiner Einführung profitiert. Es war auch im Zuge der Finanzkrise richtig, den Euro beizubehalten, alle Länder weiterhin im Euro zu halten. Es gibt im Euroraum zwei Probleme. Erstens sind die Maastricht-Kriterien zu streng und lassen kaum Spielraum für Investitionen, vor allem nicht auf europäischer Ebene. Zweitens findet die Währungspolitik auf EU-Ebene statt, die Wirtschafts- und Steuerpolitik auf nationaler Ebene. Das führt zu diesen Disparitäten zwischen Nord- und Südländern. Hier brauchen wir die soziale Harmonisierung, also mehr Sozialstandards vor allem für Griechenland, Spanien oder Portugal, um die Stabilität des Euros zu sichern.

Liegt das Problem nicht weniger in der Sozialpolitik, sondern mehr an der geringen Wettbewerbsfähigkeit der Südländer bei derselben teuren Währung?

Wäre Deutschland ohne die D-Mark besser dran gewesen, wäre Bayern nicht in eine Währungsunion mit unproduktiveren Bundesländern eingetreten? Nein, das sind verschwörungstheoretische, finanzalchemistische Behauptungen, wie beispielsweise jene der AfD oder Hans-Werner Sinns, die mit der Realität nichts zu tun haben. Das Hauptproblem ist nicht die Wettbewerbsfähigkeit, sondern wie ich diese Disparitäten wieder auflöse. Ich brauche einen sozialen Rahmen, der hier angleicht. Ich bin auch der Meinung, dass Deutschland mit seiner Budgetüberschuss-Exportpolitik am falschen Weg ist, während gleichzeitig deutsche Städte verkommen. Fahren Sie einmal in Deutschland mit dem Zug. Der ist nie pünktlich! Dieser Budget-Fetischismus führt dazu, dass zu wenig investiert wird. Es braucht einen europäischen Finanzausgleich, einen gemeinsamen sozialen Rahmen und eine Wirtschaftspolitik, die diesen Rahmen gestaltet. Ich halte auch Euro-Bonds für durchaus diskussionswürdig.

Sie sprechen sich in Ihrer Kampagne auffallend oft gegen die Privatisierung von Wasser aus. Wer hat das denn gefordert?

In der Europäischen Union wird gerade die Wasserrichtlinie verhandelt, in der es um Schutz von Wasser im öffentlichen Eigentum und um Qualitätskriterien geht. Blöderweise hat die österreichische Ministerin dieser Richtlinie nicht zugestimmt. Das verstehe ich nicht. Wollen wir dieses System wirklich öffnen? Der erste Schritt wäre eine Ausschreibung, auf den eine Privatisierung folgen könnte. Da heißt es dann, die SPÖ mache den Menschen nur Angst. Das stimmt nicht. In Frankreich, wo man die Wasserversorgung privatisiert hat, hat das zu höheren Preisen und schlechterer Versorgung und Qualität geführt.

Der Kapitalismus ist hinreichend durch die mehrbändige Arbeit Karl Marx’ „Das Kapital“ definiert.

Sie halten hier die EU, nicht den Nationalstaat, für die richtige Instanz, um die Wasserversorgung zu regulieren?

Ja.

Sie kritisieren oft Kapitalismus und Neoliberalismus. Wie definieren Sie die beiden Begriffe?

Der Kapitalismus ist hinreichend durch die mehrbändige Arbeit Karl Marx’ „Das Kapital“ definiert.

Wir hörten gerne Ihre Definition.

Kapitalismus ist eine Wirtschaft, die auf Wettbewerb aufbaut. Der Begriff „Kapitalismus“ trägt schon in sich, dass das Kapital, die Investition, und somit der Profit, eine große Rolle spielt. Ich kritisiere weniger die Marktwirtschaft als den Neoliberalismus, der behauptet, jeder einzelne sei besser gestellt, wenn überall die Gesetze des Marktes regierten. Das ist falsch im Gesundheitsbereich, im Wohnungsbereich, beim Wasser, bei der Bildung.

Hätten Sie für die EU-Urheberrechtsform gestimmt?

Nein. Ich verstehe zwar die Anliegen der Kunstschaffenden, die eine Stärkung des Urheberrechts wollen. Aber Upload-Filter lösen das Problem nicht, sondern schaffen zusätzlich ein neues, nämlich eine Art Zensur über die Hintertür.

Wie hätten Sie das Problem gelöst?

Das weiß ich nicht. Upload-Filter können jedenfalls nicht die Lösung sein.

Sind sie für eine EU-Armee?

Nein. Was Europa dringend braucht, ist eine gemeinsame Außenpolitik. Das ist der Anfangspunkt dieser Diskussion. Wir brauchen keine gemeinsame Armee, wenn wir nicht einmal wissen, wie wir unsere Interessen nach außen hin gemeinsam vertreten. Ich glaube, dass die europäische Verteidigungsfrage derzeit relativ gut gelöst ist.

In Frankreich gibt es noch Probleme. Aber auch da stellt sich heraus, dass der Herr Macron keine brauchbare Alternative für sozialdemokratische Politik darstellt.

Wie geht es der europäischen Sozialdemokratie?

Es ist ihr schon einmal besser gegangen. Sie ist im Zuge der Finanzkrise unter Druck geraten. Meiner Meinung nach zu Unrecht, weil die sozialdemokratische Antwort auf die Krise besser war als die Konservative. Bestes Beispiel dafür ist Portugal: Dort geht es nicht nur dem Land, sondern auch der Sozialdemokratie gut. Auch in Italien und Deutschland fasst sie gerade wieder Fuß, in Österreich ist die SPÖ stabil. In Frankreich gibt es noch Probleme. Aber auch da stellt sich heraus, dass der Herr Macron keine brauchbare Alternative für sozialdemokratische Politik darstellt. Ich bin optimistisch.

Wenn wir auf den Ring hinaussehen, prangt dort die sozialdemokratische Dreifaltigkeit: Reumann, Adler und Hanusch. Gibt es auch so etwas wie ein dogmatisches Fundament oder Vorbilder einer europäischen Sozialdemokratie?

Brandt, Palme, Kreisky! Aber ja, es gibt noch zu wenig gemeinsame europäische Sozialdemokratie. Das ist in den letzten Jahren verabsäumt worden. Wir haben auf europäischer Ebene Mitglieder, die, einmal an der Regierung beteiligt, in Richtungen abschweifen, die uns gar nicht gefallen.

Ihre Kampagne scheint im Vergleich zu jenen der SPÖ in den Jahren zuvor ein wenig polemischer geworden zu sein. Wieso eigentlich?

Die Situation hat sich in den letzten Jahren weiter zugespitzt. Die Konzerne haben gegenüber Staaten und Demokratie, und damit gegenüber den Menschen, an Macht gewonnen. Wir wollen den Mensch wieder in den Mittelpunkt stellen und scheuen uns nicht, das zugespitzt zu formulieren.

Mir scheint das ein europaweites Phänomen zu sein. Als wäre diese verschärfte Zuspitzung eine Antwort auf die Kritik an der Sozialdemokratie um die Jahrtausendwende, die sich der Marktwirtschaft zu sehr angebiedert habe. Man denke an Clinton, Blair, Schröder, Vranitzky…

Vranitzky garantiert nicht! Schröder: ja. Clinton und Blair: aus unserer Sicht schon, im Kontext vielleicht weniger. Wie wünschten wir uns nun einen Blair statt Theresa May in 10 Downing Street! Wir brauchen einen Kurswechsel, müssen die soziale Frage in der Europäischen Union wieder stärker betonen. Das haben wir versucht, in unserem Programm in Worte zu gießen.