Smalltalk
in Brüssel

Von XAVER HAACK

Ich sitze im EXKI, einer belgischen healthy-fast-casual Café-Kette, direkt gegenüber dem Parlament am Place de Luxembourg, der unter EU-Beamten schlicht „Place Lux“ genannt wird. Das Café ist unter EU-lern wie Touristen gleichermaßen beliebt. Der Kaffee ist bio, fair trade und bei Bedarf auch mit Soja- oder Mandelmilch zu haben. Wenn mittags die Zeit knapp wird, gibt es hier auch to-go Gemüselasagne oder Bulgursalat. Auf dem Fensterbrett liegt eine Sammlung Tageszeitungen in verschiedenen Sprachen auf: Politico, die Frankfurter Allgemeine Zeitung, der spanische El País, die französische Le Monde und der belgische De Standaard. Um acht Uhr morgens bildet sich vor der Kasse eine kleine Schlange Beamter, Croissant und Kaffee-to-go Becher in den Händen. Die weißen Hemdkragen und Krawatten lugen unter den Regenmänteln hervor. Rund um den Platz liegen ein Dutzend Restaurants und Bars, in denen Touristen, Parlamentarier und Lobbyisten gleichermaßen speisen. Die Preise sind entsprechend.

Wie nur allzu oft in Brüssel ist es kalt und windig. Es hat sieben Grad, die sich laut Google aber anfühlen wie drei. 100 Prozent Regenwahrscheinlichkeit. Das schlechte Wetter könnte gut die Lage repräsentieren, in der sich die EU nach Ansicht vieler gut zehn Wochen vor der Europawahl befindet. Laut Poll of Polls erlangen die diversen EU-skeptischen Parteien, vertreten durch ENF (Rassemblement National, Lega und FPÖ), EKP (PiS und Torys) und die EFDD (Ukip, AfD und 5 Sterne) zusammengenommen mehr als 20 % der Stimmen. Das sind nur wenige Prozent weniger als die Christdemokraten (EVP) und etwas mehr als die Sozialdemokraten (S&P). Man sagt, die EU sei elitär, abgehoben, intransparent, bürokratisch und vor allem ein Instrument von Machtpolitikern und Technokraten. Stimmt das? Seit einem halben Jahr studiere ich in Brüssel, habe mich mehr mit europäischer Politik befasst als mit deutscher und versucht, Einblicke in die EU-Welt zu gewinnen. Was ist dran an den Vorwürfen?

Wer sich auf Networking Events, an denen es in Brüssel zugegebenermaßen keinen Mangel gibt, mit Leuten unterhalten will, tut gut daran, ein paar Dutzend Vokabeln aus dem EU-Fachwörterbuch auswendig zu lernen, am besten gleich auf Englisch. Denn die EU-ler kürzen gerne ab. Das Parlament ist das EP, die Kommission die EC, der Europäische Rat heißt EUCO und der Rat der EU schlicht Council. Die Generaldirektionen der Kommission (DGs) tragen schneidige Namen wie AGRI, DEVCO und ECHO.

In Brüssel gibt es eine Vielzahl politischer, aber auch kultureller Veranstaltungen, auf denen manchmal ebenso viel Entscheidungspolitik betrieben wird wie auf offiziellen Treffen. Die Stadt hat kulturell viel zu bieten, mit verschiedensten, auch englischsprachigen Theatern, ständig neuen Ausstellungen und einer bunten Subkultur. Die kunstverliebte Brüsseler EU-Elite trifft sich beispielsweise im Palais des Beaux Arts (genannt Bozar) bei Konzerten und Galas. Hier macht man sich in informellem Rahmen mit den Repräsentanten der anderen Staaten vertraut und tastet die Positionen der Gegenseite ab. Dieser Prozess gehört zum Spiel in der diplomatischen Arena dazu und hat ebenso eine Funktion wie die offiziellen Treffen in Ausschüssen und Arbeitsgruppen, auf denen Formalien und die festgelegte Reihenfolge von Redebeiträgen ungezwungene Unterhaltungen erschweren.

Sowohl zivilgesellschaftliche Diskussionsforen als auch Lobby-Veranstaltungen werden regelmäßig von den diversen Interessenvertretungen organisiert, die sich zuhauf um die EU-politischen Drehscheiben, die beiden Bahnhöfe Schuman und Luxembourg, scharen. Hier, im Europa-Viertel, das sich in den letzten Jahrzehnten großflächig über weite Teile der Innenstadt ausgebreitet hat, liegen die zentralen Entscheidungsorgane der Europäischen Union. Die inoffizielle Amtssprache ist Englisch. Das Epizentrum bildet die Station Schuman mit dem Rat der EU („Ministerrat“), dem External Action Service und vor allem der Kommission mit ihren 33 Generaldirektionen, die mit Ministerien vergleichbar sind und allesamt jeweils einen eigenen Glasbau besitzen. Rundherum türmen sich die Nichtregierungsorganisationen, Denkfabriken und Wirtschaftsverbände geradezu.

Ich bin zu einer geschlossenen Veranstaltung eingeladen. Das Königliche Institut für Internationale Beziehungen – das Egmont-Institut – ist dem belgischen Außenministerium angegliedert, arbeitet aber weitgehend unabhängig. Es liegt im Komplex des gleichnamigen königlichen Palasts, des Palais d’Egmont. Hier finden auch gerne Empfänge des Außenministeriums oder Konferenzen statt, dazu später mehr. Das Egmont lädt im kleinen Kreis zur Vorstellung des neuen Buches der Historikerin Beatrice Heuser ein, das ‚Brexit in History‘ betitelt ist. Geladen sind etwa ein Dutzend Gäste: Diplomaten, Beamte aus dem Außenministerium und Professoren. Während des Get-togethers werden Bruschetta und Antipasti gereicht. Für die Präsentation geht es in einen kleinen Konferenzraum. Heuser geht auf die verschiedenen Integrationsprojekte in der europäischen Geschichte ein und schildert die strategischen Konsequenzen des Austritts Großbritanniens aus der EU. Dies ist kein Lobby-Event, es geht ausschließlich um den akademischen Austausch. „Ein Gutes hat der Brexit, und Sie als echte Diplomaten müssen sicherlich den Reiz darin erkennen“, eröffnet sie der Runde, „all die Außenpolitiker in London, die sich immer schon selbst verwirklichen wollten, haben jetzt, da alle Verträge neu ausgehandelt werden, einmalig die Gelegenheit, wahrhaftig zu gestalten.“ Nach der Präsentation wird ausgiebig diskutiert.

Auch im Parlament finden regelmäßig politische und kulturelle Veranstaltungen statt, die oft auch für die Öffentlichkeit zugänglich sind. Ich besuche eine Podiumsdiskussion anlässlich der ukrainischen Präsidentschaftswahlen. Zwei Kandidaten sind dafür eigens nach Brüssel gereist. Eingeladen hat der EU-Ukraine Business Council, eine kleine Nichtregierungs- und Lobby-Organisation, die für Investitionen in der Ukraine wirbt und sich für Freihandel mit der EU einsetzt. Moderiert von einem Journalisten vom Wall Street Journal debattieren die beiden Präsidentschaftskandidaten mit einem Mitglied des Europäischen Parlaments (MdEP), einem Wirtschaftsvertreter und einem Abgesandten eines Think Tanks.

Think Tanks, zu Deutsch „Denkfabriken“, sind Vereinigungen, die zu Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur forschen und mit ihren Ergebnissen öffentlich in Erscheinung treten. Die Bezeichnung ist nicht geschützt.

Die Diskussion wird in einem der Ausschusssäle gehalten, die gebaut sind wie eine Miniaturversion des Plenarsaals. Die Abgeordnetensitze in halbmondförmigen Reihen sind mit je einem Mikrofon und Kopfhörern für die Übersetzung ausgestattet. Auf jedem Tisch stehen ein Glas und eine Flasche Mineralwasser. Rund um den Saal befindet sich ein gutes Dutzend abgedunkelter Übersetzerboxen, von denen jedoch nur zwei belegt sind. Die Veranstaltung wird simultan ins Englische und Ukrainische übersetzt.

Vor Beginn der Diskussion singt ein fünfköpfiges A-cappella-Ensemble, gekleidet in traditioneller Tracht, zwei Stücke ukrainischer Volksmusik und die Nationalhymne. Die Journalisten im Raum knipsen Fotos von den Präsidentschaftskandidaten, die stolz in den Text einstimmen. Das Podium diskutiert über das Wirtschaftspotenzial der Ukraine, dessen Beitrittschancen zur EU und das sogenannte Deep Comprehensive Free Trade Agreement (DCFTA) der EU mit der Ukraine, Georgien und Moldawien. Es sind ein paar MdEPs unter den Zuschauern, die den Kandidaten zum Ende etliche Fragen stellen.

Nach der Diskussion gibt es in der Lobby Getränke und Fingerfood. Das Parlament ist bekannt dafür, weniger spendabel aufzutischen als die Delegationen und die Botschaften. Es gibt Chips und Erdnüsse, dazu Sekt und Orangensaft. Überraschenderweise wird auch ein Tablett Shots mit ukrainischem Honig-Pfeffer-Schnaps gereicht, das allerdings zu zwei Dritteln unberührt bleibt. Die Besucher, die größtenteils für das Parlament, Nichtregierungsorganisationen und Botschaften arbeiten, zerfallen in Grüppchengespräche um einige Stehtische. Zum Ende das Abends sind die Gäste um manche kulturelle Anekdote über die Ukraine und – natürlich – ein paar Visitenkarten reicher.

Um mehr über die externe Einflussnahme auf die europäischen Institutionen zu erfahren, bin ich mit Professor Mattelaer, Direktor am Institut für Europastudien (IES) der Freien Universität Brüssel verabredet. Wie viel Einfluss hat die akademische Welt auf die EU? „Quite a bit“, meint er. Das Europäische Parlament und die Parlamentsausschüsse beauftragen regelmäßig Studien, wenn es über Gesetzesentwürfe der Kommission entscheiden soll. Diese werden in Form mehrjähriger Framework Contracts ausgeschrieben, für die sich Universitäten und zivilgesellschaftliche Organisationen bewerben können. Auch das IES hat bereits mehrmals Forschungsarbeiten im Auftrag des Parlaments durchgeführt. Besonders in Nischenbereichen, in denen Spezialwissen gefragt ist, können externe Expertengruppen so auf die Arbeit der Parlamentarier einwirken. Nach Auskunft von Prof. Mattelaer sollte ihr Einfluss andererseits nicht überbewertet werden: „Das Parlament beauftragt eine Menge Gutachten; manchmal wird unsere Arbeit berücksichtigt, und manchmal eben nicht.“

Auf einer Veranstaltung der den deutschen Grünen nahestehenden Heinrich-Böll-Stiftung, wird eine solche wissenschaftliche Arbeit vorgestellt. Eine Forschergruppe hat ein Policy Paper über die Zusammenarbeit zwischen europäischen Städten und Gemeinden in Sachen Migration erarbeitet. In  den Räumlichkeiten der Landesvertretung Baden-Württembergs sind Experten und Vertreter verschiedener Flüchtlingsorganisationen eingeladen, um über die Thematik zu diskutieren. Es werden Kooperationsprojekte zum Flüchtlingsaustausch und Trainingsworkshops vorgestellt, mit denen lokale Beamte in der Integration Geflüchteter geschult werden sollen. Dabei werden Erfahrungen, Ratschläge und konstruktive Kritik ausgetauscht. Die Diversität der anwesenden Verbände zeigt die Lebhaftigkeit der Zivilgesellschaft in Brüssel, die gut vernetzt ist und durchaus kein Blatt vor den Mund nimmt.

Zur Abwechslung besuche ich einmal kein europäisches, sondern ein bilaterales Event – die deutsch-belgische Konferenz. Erneut im Palais d’Egmont treffen sich Vertreter aus Politik und Wirtschaft, um über Energie, Mobilität und Digitalisierung zu reden. Die Konferenz findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Keine Journalisten sind geladen, lediglich ein paar Fotografen. Es sind namhafte Vertreter einiger großer deutscher und belgischer Unternehmen und Verbände anwesend: Audi, BASF, die Deutsche Bahn, die Deutsche Energie Agentur. Einige Gesichter sind einem aus den Medien bekannt. Über den Tag verteilt finden drei Debatten statt. Im Konferenzsaal sitzen über 30 Menschen an einem langen,  ellipsenförmigen Tisch. Jeder ist ausgestattet mit Getränk, Mikrofon, Kopfhörern sowie Kugelschreiber und Notizblock – eigens bedruckt mit dem Logo der Konferenz. Die Unternehmensvertreter haben Powerpoint-Präsentationen mitgebracht und berichten ausschweifend von ihren Digitalisierungsstrategien und Infrastrukturprojekten. Als Höhepunkt der Veranstaltung halten gegen Mittag die beiden Außenminister Didier Reynders und Heiko Maas je eine Rede vor den Versammelten. Danach lädt die deutsche Botschaft im Spiegelsaal zum Mittagsbuffet. Es wird gesmalltalkt und genetworkt. Auch nachdem die Außenminister die Veranstaltung verlassen haben, sind immer noch etliche Entscheidungsträger der belgischen und deutschen Politik und Wirtschaft versammelt. Während Kellner beim Buffet mit dem Sekt nicht sparen, betonen die Teilnehmenden un­ab­läs­sig die Wichtigkeit solcher Treffen von Politik und Wirtschaft.

Die Protestwellen gegen das Establishment, die seit einigen Jahren durch Europa rollen, sind auch an Brüssel nicht spurlos vorüber gegangen. Sowohl die Gelbwesten in Frankreich als auch die Fridays for Future-Demonstrationen waren und sind hier weiterhin ein großes Thema. Seit Monaten trägt die Statue des belgischen Industriemagnaten John Cockerill auf dem Place Lux eine gelbe Warnweste um den Hals gebunden und ein Pappschild über der Schulter, dessen Aufschrift längst vom Regen verwaschen ist. Noch vor einigen Wochen verteilten Gelbwesten in der Station Schuman Flyer und machten Selfies vor dem Kommissionsgebäude und dem übergroßen „Europe is the Future“-Graffiti.

In Europa regen sich neue Kräfte. Sowohl für als auch gegen die EU. Genau wie in der Zivilgesellschaft besteht in der Brüsseler Politikelite Uneinigkeit über den Kurs der Union und ihre zahlreichen Imperfections – ein neuerdings viel genutztes Wort unter EU-lern. Eines ist Brüssel nämlich sicherlich nicht: der Hort einer meinungshomogenen Technokratenklasse. Es ist der Schauplatz einer durchaus kontroversen Debattenkultur und der Schmelztiegel der Interessen von 28 Europäischen Nationen.

In Erinnerung bleibt mir ein Satz des deutschen Außenministers, Heiko Maas, den er in letzter Zeit bei jeder zweiten Rede zum Besten gibt, in dem er den belgischen Außenminister und Gründervater der EU Paul-Henri Spaak zitiert: „In Europa gibt es nur zwei Arten von Ländern: kleine Länder, und Länder, die noch nicht gemerkt haben, dass sie klein sind.“ Und er fügt noch hinzu: „Und das von einem deutschen Außenminister.“