Im Herzen der Union,
die Union im Herzen

VON JULIA DÜR

Eine Reise nach Italien ist ohne Passkontrolle möglich, ein Austauschsemester an einer europäischen Universität für Studenten kein Problem und für eine Reise nach Griechenland muss nicht einmal die Währung gewechselt werden. Diese Bequemlichkeiten sind nur möglich, weil Österreich Teil der EU ist. Es war ein langer Weg.

Die drei Gründungsparteien der Zweiten Republik (ÖVP, SPÖ und KPÖ) unterzeichneten  im April 1945 die Unabhängigkeitserklärung Österreichs. Sie erklärte den Anschluss an das Deutsche Reich von 1938 für nichtig und war die Basis für die Konstituierung der Provisorischen Staatsregierung.

Österreich orientierte sich nach dem Zweiten Weltkrieg politisch am Westen. Die Teilnahme am Marshallplan der Vereinigten Staaten und der Beitritt zur OEEC (Organization for European Economic Cooperation) 1948 zeigten neben vielen weiteren Beispielen Österreichs Bestrebungen zu westlich orientierter Politik – wegweisende Schritte für die Integration in die EU. Die Amerikaner waren nicht nur von rein humanitären Absichten getrieben, sondern erhofften sich auch das Fundament einer zukünftigen Handelsbeziehung zu legen und dem zunehmenden Einfluss der Sowjetunion auf Europa entgegenzuwirken.

Der Marshallplan, auch European Recovery Program genannt, war eine amerikanische Offensive zum Wiederaufbau Europas, der mit Krediten wie auch Rohstoffen und Waren dem verwüsteten Europa nach dem Zweiten Weltkrieg zugute kam.

Die Sowjetunion war damals eine der vier Besatzungsmächte Österreichs und wollte ihren Einfluss ausbauen. Auch die westlichen Besatzungsmächte übten Druck auf die Provisorische Regierung, insbesondere auf SPÖ und ÖVP, aus. Deren Kurs wurde bei den ersten freien, bundesweiten Wahlen im November 1945 gestärkt: Die SPÖ und ÖVP waren mit gemeinsam 95 Prozent der Stimmen die großen Gewinner. Die KPÖ musste sich mit lediglich fünf Prozent geschlagen geben, die Sowjetunion in Folge Einbußen ihres Einflusses erfahren.

Österreich wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zwischen 1945 und 1955 von den vier Besatzungsmächten – USA, Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich – besetzt.

Die Verhandlungen über das Ende der Besatzungszeit begannen bereits 1947. Es sollten jedoch weitere acht Jahre bis zur Unterzeichnung des Staatsvertrages vergehen. Die kommunistische Sowjetunion und die westlichen Besatzungsmächte befürchteten das strategisch gut positionierte Österreich an die jeweils andere Macht zu verlieren. Um diesen West-Ost-Konflikt zu lösen, verfolgte der damalige österreichische Bundeskanzler Julius Raab die Idee, einen neutralen Staat nach dem Vorbild der Schweiz zu bilden. Entscheidend war auch der Machtwechsel in der Sowjetunion. Nach dem Tod Stalins im Jahr 1953 übernahm Nikita Chruschtschow die Führung. Chruschtschow bemühte sich um eine Öffnung gegenüber dem Westen und brachte den Ball für die Unabhängigkeit Österreichs ins Rollen. 1955 kam es schließlich zu einer Übereinkunft – mit der Voraussetzung, dass sich Österreich nach Unterzeichnung des Staatsvertrags als neutrales Land deklariere.

Drei Monate später verließen die Besatzungsmächte österreichischen Boden. Das Parlament verankerte, wie vereinbart, die immerwährende Neutralität Österreichs in der Verfassung. Der Beitritt zu einem militärischen Bündnis oder die Errichtung militärischer Stützpunkte fremder Staaten auf österreichischem Boden sind fortan mit der Neutralität nicht mehr vereinbar.

Von der Neutralität zum EU-Beitritt

Die ersten österreichischen Beitrittsabsichten zur Europäischen Gemeinschaft wurden in den 60er Jahren von der ÖVP und Interessenvertretungen der Wirtschaft bekundet. Sie scheiterten aber an internen Meinungsverschiedenheiten und externen politischen Hindernissen.  Während sich die ÖVP in ihrer Regierungsperiode um Beitrittsverhandlungen bemühte, weigerte sich der Mitgliedstaat Italien, nicht zuletzt wegen der Bombenanschläge der Südtirol-Aktivisten, Österreich den Weg in die Gemeinschaft zu ebnen. Auch innerhalb der Großen Koalition gab es Differenzen: Die SPÖ lehnte den Beitritt zu dem Wirtschaftsbund ab.

Mitte der 1950er Jahre bis 1967 operierte in Südtirol eine terroristische Organisation, die mit zunächst politischen Mitteln und später auch Anschlägen um die Autonomie Südtirols kämpfte.

Die Meinung der Sozialdemokraten änderte sich erst Ende der 80er Jahre unter Franz Vranitzky. Mittlerweile gab es aber weitere innenpolitische Widerstände in Form der Grünen und der FPÖ. Für die Grünen war neben der Neutralität und sozialen Bedenken, ähnlich wie bei der SPÖ zuvor, auch die fehlende direkte Demokratie ein Grund, die EU bis zur Volksabstimmung abzulehnen – nach dem lautstarken Ja der Bevölkerung wollten sie aber der Volksentscheidung nicht im Wege stehen. Die Stimmen der Grünen waren notwendig, um die nötige Verfassungsmehrheit für die Beschlüsse zusammenzubekommen. Für die FPÖ stand einem Beitrittsansuchen anfänglich zwar nichts entgegen, sie änderte ihre Meinung jedoch nach zwei Jahren. Bis heute bleibt sie ihrer EU-skeptischen Linie treu.

Erst mit dem Zerbröckeln der Sowjetunion und dem Fall des Eisernen Vorhangs beschloss Österreich, die Vollmitgliedschaft in der EG anzustreben. Der Nationalrat nahm in Folge wieder Gespräche auf und leitete schließlich, 1993, die Beitrittsverhandlungen in die Wege. Im Juni 1994 folgte dann die Volksabstimmung über den EU-Beitritt. Rund zwei Drittel der österreichischen  Bevölkerung stimmten für den Eintritt in die EU. Österreich trat damit am 1. Jänner 1995 gemeinsam mit Schweden und Finnland der EU bei.

Österreich als Teil der Union

Nicht jeder war von der Idee, Teil der Union zu sein, angetan. Viele fürchteten etwa um die Existenz der Bauern oder um Lohnverluste.

Österreich muss, wie jeder Mitgliedstaat, seinen Beitrag zum EU-Budget leisten. Insgesamt fließt ein Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung der 28 EU-Mitgliedsländer in das EU-Budget ein. Von diesem Budget erhalten die Mitglieder aber durchschnittlich rund 92 Prozent als direkte Förderungen zurück. Im Jahr 2015 zahlte Österreich beispielsweise 2,52 Milliarden Euro in das EU-Budget ein und erhielt dafür im Gegenzug 1,79 Milliarden Euro über Förderprogramme und andere Zahlungen zurück.

Ein Ziel der EU ist es, wirtschaftlich schwächere Staaten bei der Aufholjagd zu unterstützen. Daher erhalten diese tendenziell mehr Geld als sie einzahlen („Nettoempfänger“). Da Österreich wirtschaftlich sehr gut aufgestellt ist, trägt es mehr zum EU-Budget bei als es direkt zurückbekommt („Nettozahler“). Österreich erhält vorwiegend EU-Subventionen in der Landwirtschaft, gefolgt von Förderungen im Bereich Forschung und Entwicklung. Das Burgenland profitiert am meisten von den EU-Subventionen, da es beim EU-Beitritt als besonders förderungswürdig eingestuft wurde. Daher floss seit dem Beitritt rund eine Milliarde Euro in Aus- und Weiterbildungskurse, Förderungen für Landwirte und Infrastrukturprojekte. Ein weiteres Vorzeigeprojekt ist das neue Innovations- und Forschungsrahmenprogramm Horizon, das Wissenschaftler und Forschungsprojekte in ganz Europa unterstützt. Durch die europäische Unterstützung ärmerer Mitgliedstaaten profitieren österreichische Unternehmen, die durch die erhöhte Kaufkraft ihre Absatzmärkte vergrößern können. Wenn also zum Beispiel Infrastrukturprojekte in Polen oder der Slowakei von der EU gefördert werden, beteiligen sich auch gerne österreichische Unternehmen.

Österreich profitiert besonders durch den freien Binnenmarkt.  Österreichische Exporte haben sich seit 1995 etwa verdreifacht, nicht zuletzt wegen der entfallenden Zollkontrollen und Wartezeiten. Die österreichische Wirtschaft erspart sich rund 1,7 Milliarden Euro jährlich durch den freien Handel in der EU. Dem gegenüber stehen 0,85 Milliarden Euro (Stand 2016), die Österreich als Nettobeitrag an die EU zahlt. Das, was Österreich in die EU einzahlt, bekommt es also alleine durch wirtschaftliche Vorteile wieder doppelt heraus. Andere positive Auswirkungen des EU-Beitritts, wie steigende Investitionen ausländischer Unternehmen, die zwischen 1995 und 2012 im jährlichen Durchschnitt auf mehr als das Fünffache angestiegen sind, sind dabei noch gar nicht berücksichtigt. Natürlich ist das nur die eine Seite der Medaille. Es gibt auch österreichische Unternehmen, die von einer Abschottung des österreichischen Marktes profitieren würden. Ein Beispiel sind Transportunternehmen, die nur auf dem österreichischen Markt aktiv sind. Für Unternehmen dieser Art hat sich der Wettbewerbsdruck verstärkt.

Im Herzen der Union

Kein Ereignis der Zweiten Republik hat Österreich so tiefgreifend geprägt wie der Beitritt zur Europäischen Union vierzig Jahre nach der Unterzeichnung des Staatsvertrages und der Erklärung der immerwährenden Neutralität. Die neu gewonnene Freiheit konnten die Österreicher insbesondere ab 1998 spüren. In jenem Jahr traten die Schengener Abkommen in Österreich in Kraft. Der freie Personenverkehr war damit auch für die Österreicher zur Realität geworden. Kontrollen und Staus an den Grenzen fielen weg, die EU stand von nun an nach innen offen. Ein weiteres Schlüsselerlebnis war die Osterweiterung im Jahre 2004. Quasi über Nacht rückte Österreich in das Herzen der EU. Denn östlich der früheren Außengrenze hieß die EU zehn neue Mitgliedstaaten willkommen.

Unter der Osterweiterung versteht man den EU-Beitritt der zehn Staaten Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Zypern.

Durch die EU-Mitgliedschaft und die kontinuierliche Erweiterung der EU ist Österreich ins Herzen Europas gerückt. Aber auch die EU ist ins Herzen der Österreicher gerückt. So empfanden zwei Drittel der Österreicher im Jahre 2018, dass sich durch die EU das gegenseitige Verständnis und die Zusammenarbeit zwischen den EU-Mitgliedstaaten positiv entwickele.

Bekenntnisse eines österreichischen Europäers

Von Axel Rosenegger

Österreich ist drei Jahre vor meiner Geburt in die EU eingetreten. Ich bin als EU-Bürger geboren und aufgewachsen. Den Schilling hab ich auch nicht mehr wirklich erlebt. Den habe ich höchstens als Kleinkind einmal zerrissen. So blöd es auch klingt, ich kann mir ein Leben vor dem EU-Beitritt nicht vorstellen.

Wenn man in einem wohlhabenden EU-Mitgliedstaat auf die Welt kommt, ist man auf jeden Fall auf die Butterseite der Welt gefallen. Ich kann mich noch gut an die Geschichten erinnern, die mir mein Vater von seinen Urlauben und Abenteuern erzählt hat. Eine seiner Lieblingsdestinationen war das damalige Jugoslawien. In seiner Jugend fuhr er mit seinem alten Opel die Autobahn entlang, die bis zur österreichischen Grenze gut ausgebaut war. Nach einer kurzen oder längeren Warteschlange wurden die Reisepässe ausgepackt und die Gebühr bezahlt: Grenzkontrolle! Misstrauische Beamte drückten den Stempel in den Pass, der ihm einen zeitlich begrenzten Aufenthalt in Jugoslawien ermöglichte. Kurz vor dem Zerfall war die föderale Republik bereits von Unstimmigkeiten geplagt. Noch heute erzählt er mir von den krassen Unterschieden, wenn wir auf der EU-subventionierten kroatischen Autobahn in Richtung Meer fahren. Noch keinem Land hat der EU-Beitritt geschadet. Nicht Kroatien, und auch ganz sicher nicht Österreich.

Als der damalige Bundeskanzler Franz Vranitzky in Korfu 1994 den Beitrittsvertrag unterschrieb, konnte er die positiven Auswirkungen auf Österreich vielleicht schon erahnen. Das Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit hatte uns mit einer kleinen, aber verhältnismäßig starken Wirtschafts- und Kaufkraft gesegnet, endete aber mit den Ölkrisen in den 70er Jahren. Durch den Beitritt zur Union erhofften wir uns einen einfach zugänglichen Absatzmarkt für österreichische Exportprodukte, mehr Tourismus aus dem europäischen Raum, eine höhere Wettbewerbsfähigkeit und Attraktivität für ausländische Unternehmen. Diese Hoffnungen sind allesamt in Erfüllung gegangen.

Supranationalität, ich glaube fest daran, ist die Zukunft und einzig logische Konsequenz unserer globalen Vernetzung. Das Experiment Europäische Union ist ein weltweit und historisch einmaliger Vorreiter, den nur noch die letzten Über­bleib­sel rostigen Gedankenguts aus vergangenen Zeiten aufhalten können. Österreicher, die um die staatliche Souveränität bangen, hängen in einer Zeit fest, in der Konflikte mit Kriegen gelöst wurden und Handel und gesunder und fairer Wettbewerb verpönt war. Wer nach hunderten Jahren des nationalistischen Bruderkrieges noch immer nicht einsieht, dass die Zukunft nur in versöhnlicher Zusammenarbeit und gegenseitigem Respekt liegen kann, den könnte nicht einmal der auferstandene Jean Monnet mehr überzeugen.

Nicht umsonst werden die EU-Wahlen 2019 als richtungsweisend in der Geschichte der Union eingestuft. Wird sich das Anti-EU Stimmungsbild, das von rechtsnationalen Parteien geschürt wird, auch in Wahlergebnissen niederschlagen? Oder tätigt die EU mit diesen Wahlen einen weiteren großen Schritt in Richtung Zusammenarbeit, Verständnis und Zukunft? Selbst wenn die EU aus diesen Wahlen mit neuer Stärke hervorgeht, ist ihr Bestehen langfristig nur gesichert, wenn es den von nationalistischem Gedankengut geplagten Mitgliedstaaten wie Österreich gelingt, sich auch mit dem größten supranationalen Projekt der Menschheitsgeschichte zu identifizieren: der Europäischen Union.