Wer wollen wir gewesen sein?
VON VICTORIA HONSEL
Deutschland spielte im europäischen Integrationsprozess immer eine politische Schlüsselrolle, nicht nur aufgrund seines wirtschaftlichen Einflusses, der geografischen Lage oder Größe, sondern vor allem auch wegen seiner besonderen Vergangenheit. Möchte man die heutige Rolle Deutschlands in der EU verstehen, so muss man deshalb einen Blick in diese gemeinsame Vergangenheit werfen.
Im Kontext der EU bezeichnet der Integrationsprozess die immer enger werdende politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit in Europa, die in den 1950er Jahren begann. Wirtschaftlich schaffte diese Integration einheitliche Märkte über die nationalen Grenzen hinaus und verschob politische Entscheidungskompetenzen auf die supranationale, europäische Ebene.
Der europäische Einigungsprozess – für das friedliche Miteinander, gegen das kriegerische Gegeneinander
„Was war der wirkliche Grund, weswegen wir Europa am Morgen nach dem Zweiten Weltkrieg gründen wollten? Wir glaubten, ein neues Europa gründen zu müssen, um in diesem neuen Rahmen Frankreich und Deutschland miteinander zu versöhnen. Wie wir sehen, wurde zumindest in diesem wichtigen Punkt, auf dem der Frieden Europas beruht und den wir zur europäischen Idee oder zu einem unserer Beweggründe gemacht haben, eines der Ziele unseres Kampfes für ein geeintes Europa erreicht.”
Der luxemburgische Politiker Joseph Bech 1968 in Straßburg.
Dieser „wirkliche Grund“, den Joseph Bech im Rückblick anspricht, kann nur nachvollzogen werden, wenn man den Blick auf die Motive hinter der Entstehung des europäischen Gemeinschaftsprojekts lenkt. Gemein hatten die Nationen Europas vor allem die seit dem 19. Jahrhundert bestehende Angst vor Deutschland als vorherrschende wirtschaftliche und militärische Macht im Zentrum des Kontinents. Nach dem ersten Weltkrieg hatten die europäischen Staaten versucht, mit den harten Auflagen des Versailler Vertrages 1919 eine erneute Dominanz Deutschlands im europäischen Machtverhältnis zu verhindern. Dennoch hatte Deutschland die militärische Niederlage – zumindest wirtschaftlich – nach wenigen Jahren überwunden. Deshalb sahen viele europäische Staaten, allen voran Frankreich, das geschlagene Deutschland auch nach Ende des Zweiten Weltkrieges als größte Sicherheitsbedrohung. Im zerstörten Europa war es nach Ende des Zweiten Weltkrieges nur verständlich, dass die europäischen Staatenlenker gemeinschaftlich die allgegenwärtige Unsicherheit überwinden wollten, um langfristigen Frieden zu garantieren. Im gemeinsamen Streben nach Sicherheit und Stabilität galt es daher besonders, die mögliche Entwicklung einer Vorherrschaft Deutschlands oder eines anderen einzelnen Staates zu verhindern.
Neben der Befürchtung einer möglichen neuen deutschen Bedrohung waren die europäischen Staaten in den 1940er und 1950er Jahren auch im Hinblick auf den Konflikt zwischen den Großmächten der USA und der Sowjetunion um ihre Sicherheit besorgt. Europa befürchtete, im Ringen der beiden aus dem Krieg hervorgegangenen Großmächte um eine politische und vor allem ideologische Vormachtstellung zerrieben zu werden. Zugleich fürchteten die Westmächte, dass eine zu starke Ausgrenzung und Isolierung Deutschlands das Land in der Mitte des Kontinents enger an die Sowjetunion binden könnte. Im Gegensatz zum Ende des Ersten Weltkriegs entschieden die europäischen Staatenlenker daher nun, dass eine politische Ausgrenzung Deutschlands und die Auferlegung horrender Reparationszahlungen einem langfristigen Frieden eher hinderlich sein würden. Um einen weiteren vernichtenden Krieg zu vermeiden, musste man deshalb insbesondere Deutschland so in das europäische Machtgefüge einbinden, dass es sich nicht erneut zu einer Bedrohung für seine Nachbarn entwickeln konnte und zugleich langfristig an den Westen gebunden bliebe.
Der Begriff Großmächte beschreibt die beiden größten politischen Sieger des Zweiten Weltkrieges: Auf der einen Seite die USA, auf der anderen die Sowjetunion. Die ideologische Kontroverse der beiden Blöcke – liberale westliche Demokratie gegen den sozialistischen Kommunismus – im Kalten Krieg prägte das weltweite Machtverhältnis für Jahrzehnte.
Als Antwort auf diese komplexe Problematik gilt die Erklärung des französischen Außenministers Robert Schuman: Am 9. Mai 1950 schlug er die Gründung einer europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS, auch Montanunion genannt) vor. Die Produktion von Kohle, damals zentraler Energieträger, und Stahl, repräsentativ für die gesamte Schwerindustrie, galten als Grundlage sowohl für den Wiederaufbau der kriegszerstörten Länder als auch für eventuelle zukünftige Wiederaufrüstung. Bereits nach dem Ersten Weltkrieg war es für Frankreich von zentraler Bedeutung gewesen, Kontrolle über das Ruhrgebiet zu erlangen, um die deutsche (Rüstungs-)Industrie zu regulieren. Um europäische Sicherheit zu erlangen, wollte man deshalb mit der Montanunion zunächst diese beiden elementaren Industriezweige in Deutschland und Frankreich vereinigen und kontrollieren, wobei alle interessierten europäischen Staaten ausdrücklich zur Teilnahme eingeladen und ermutigt wurden. Die gemeinsame Union sollte langfristig innere Stabilität und Frieden in Europa garantieren und die vereinigten Mitgliedstaaten zugleich nach außen militärisch absichern.
„Wenn es uns gelingt, eine Organisation zu schaffen, die den Franzosen gestattet, alles das zu sehen, was auf dem Gebiete der Fabrikation von Stahl und der Förderung von Kohle in Deutschland vor sich geht und, wenn umgekehrt, die Deutschen sehen, was in Frankreich vor sich geht, dann ist diese gegenseitige Kontrolle das beste Mittel, um eine Politik zu treiben, die sich auf Vertrauen gründet.”
Bundeskanzler Konrad Adenauer am 2. Juli 1966 in Metz.
In der Folge gründeten sechs Länder – Deutschland, Frankreich, Italien, Belgien, die Niederlande und Luxemburg – am 18. April 1951 die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Im Kern setzte diese Union auf die Abgabe von wirtschaftlicher Souveränität der einzelnen Staaten, um politische Zusammenarbeit zu erreichen. So schränkte die Hohe Behörde der Montanunion die Mitgliedsländer ein, ihre nationalen Industrien zu schützen, um so einen fairen europäischen Wettbewerb zu schaffen und eine gemeinsame Handelspolitik nach außen zu vertreten.
Die Hohe Behörde war das 1952 eingerichtete Hauptexekutivorgan der damaligen Montanunion. Es ging 1967 im Vorläufer der heutigen Europäischen Kommission auf.
Teil ihrer Befugnisse war außerdem, die Lohnpolitik der Arbeiter zu regulieren und die grenzüberschreitende Mobilität von Facharbeiten zu fördern. Beide Aspekte finden sich auch heute noch in den Befugnissen der EU als Nachfolgeorganisation. Doch was versprach sich Deutschland damals davon, Teile seiner Souveränität abzugeben, um Mitglied dieses ambitionierten Projekts zu werden? Aus der deutschen Perspektive bedeutete die Montanunion vorrangig die Möglichkeit, sich mit dem Westen auszusöhnen und die Wiederaufnahme in die europäische und westliche „Völkerfamilie“ zu erreichen. Auch erlaubte die überstaatliche Kontrolle der Industrien es Deutschland, den systematischen Wiederaufbau zu beginnen, gefördert durch finanzielle Hilfsleistungen des Westens. Der damalige deutsche Kanzler Konrad Adenauer (CDU) verstand die Beteiligung an einem europäischen Integrationsprojekt insbesondere als notwendiges Zeichen an den Westen und an die Vereinten Nationen, dass Deutschland seine Zukunft klar in der Westbindung und als selbständiger Teil eines friedvollen Europas sieht. Aus diesen Gründen trieb Deutschland im Tandem mit dem ehemaligen Erzfeind Frankreich die europäische Einigung und Integration auch in den Jahrzehnten des Kalten Krieges weiter voran.
Deutschlands neue Rolle nach dem Fall der Mauer und die monetäre Integration der EU
„Die entschlossene Fortführung des europäischen Einigungswerks ist die Schicksalsfrage für Deutschland und Europa im 21. Jahrhundert. Wir Deutschen haben das Geschenk der friedlichen Wiedervereinigung unseres Landes erhalten, weil unsere Partner sicher sein konnten, daß unser Land fest in Europa eingebettet ist. Wir würden vor der Geschichte versagen, wenn wir uns nach der deutschen Einheit zufrieden zurücklehnten. Wir müssen gemeinsam mit unseren Freunden und Partnern die Einigung Europas unumkehrbar machen. Wenn wir jetzt beim Bau des Hauses Europa nicht vorankommen, gefährden wir auf Dauer all das, was wir in den letzten Jahrzehnten aufgebaut haben.“
Helmut Kohl am 13. Juni 1996 in Bonn
In den 1980er- und 1990er-Jahren machten die europäischen Staatenlenker deutlich, dass die EU mehr sein sollte als eine Wirtschaftsgemeinschaft. In verschiedenen Verträgen wurde dieser Wandel hin zu einer politischen Union festgeschrieben und die ursprüngliche Montanunion entwickelte sich zur EU, wie wir sie heute kennen. Doch mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und der Wiedervereinigung Deutschlands begann auch eine Phase der Unsicherheit in Europa.
Der britische Politiker Winston Churchill hatte den Ausdruck Eiserner Vorhang schon 1946 geprägt. Er bezeichnete die Grenze zwischen den zwei Blöcken im Kalten Krieg – einerseits die kommunistischen Staaten Osteuropas und der Sowjetunion und andererseits die westlichen Demokratien assoziiert mit der USA.
Insbesondere Deutschlands neue Rolle war dabei nicht nur für seine Nachbarn schwer einzuschätzen, sondern auch für Deutschland selbst unklar. In den Jahren direkt nach der Wiedervereinigung war die Bundesrepublik in erster Linie mit sich selbst beschäftigt, denn die wirtschaftliche – aber auch kulturelle und politische – Integration der neuen Länder im Osten erwies sich als deutlich schwieriger als erhofft und geplant. Aus den wirtschaftlichen Problemen dieser Zeit entwickelten sich deshalb schnell auch soziale, sodass Deutschland zum Ende der 1990er Jahre als Problemfall in Europa galt. Aufgrund seiner wirtschaftlichen Probleme wurde Deutschland deshalb trotz der Wiedervereinigung in den 1990ern kaum als zukünftig stärkste Wirtschaftskraft Europas gehandelt, sondern erhielt vielmehr eine rücksichtsvolle Sonderbehandlung. So wurde zum Beispiel eine erhöhte Staatsverschuldung[ in jenen für Deutschland wirtschaftlich kritischen Jahren in Europa allgemein akzeptiert. Eine Erhöhung ebendieser war nahezu unumgänglich für die Gestaltung der deutschen Wiedervereinigung, da diese historische Herausforderung kaum allein durch Steuererhöhungen finanziert werden konnte. Auch aufgrund seiner hohen Staatsverschuldung war es jedoch zu dieser Zeit unvorstellbar, dass Deutschland in naher Zukunft als Musterbeispiel und Lehrmeister in Fragen der Fiskalpolitik oder Haushaltssanierung auftreten würde.
Die Problematik überhöhter Staatsverschuldung und Haushaltspolitik wurde in diesen Jahren viel diskutiert, da die wirtschaftliche Integration des gemeinsamen europäischen Markts aktiv vorangetrieben wurde. Viele Politiker sahen eine weitere wirtschaftliche Integration als notwendigen Schritt, um die politische Einigung zu fördern und die europäische Integration unumkehrbar zu machen.
Unter dem Begriff der Staatsverschuldung versteht man alle vom Staat aufgenommenen Kredite. Im föderal organisierten Deutschland sind das die Schulden des Bundes, der Länder, der Kommunen sowie der Sozialversicherungen. Diese werden zumeist aufgenommen, um ein wachsendes Haushaltsdefizit zu finanzieren. Allgemein als gerechtfertigt gilt eine Staatsverschuldung nur, wenn sie direkt der Finanzierung wichtiger Zukunftsaufgaben eines Staates dient.
Im Jahre 1992 wurden daher im Vertrag von Maastricht endgültig die drei Entwicklungsphasen auf dem Weg zur Europäischen Währungsunion festgelegt. Um Zustimmung für die Wiedervereinigung des Landes zu erhalten, sah sich Deutschland unter politischem Druck gezwungen, der Einführung des Euros zuzustimmen. Jedoch ging man in den Verhandlungen auch auf Deutschland zu: Auf Drängen der deutschen Unterhändler legte man in den Maastrichter Verträgen gezielte Bedingungen fest, die potentielle Mitgliedsländer erfüllen müssen, um dem Europäischen Wirtschafts- und Währungsraum beizutreten. Der sogenannte Stabilitäts- und Wachstumspakt sah außerdem konkrete Sanktionen und Geldstrafen für Mitgliedsstaaten vor, die die maximalen Werte ihrer Neu- und Gesamtverschuldung überschreiten würden. Deutschland legte Wert auf diese Bedingungen, um die Befürchtungen im eigenen Land zu besänftigen, dass die nationale Wirtschaft unter dem negativen Einfluss der lockeren Haushaltspolitik der europäischen Südstaaten und möglichen neuen Mitgliedstaaten leiden könnte. Denn auch wenn der damalige Kanzler Helmut Kohl (CDU) große Bereitschaft zeigte, den Weg zu einem vereinigten Europa weiter zu gehen, so war die deutsche Öffentlichkeit nicht unbedingt überzeugt von der Vorstellung, die stabile D-Mark gegen eine unsichere neue europäische Währung einzutauschen. Die D-Mark galt nicht nur als erfolgreiches Zeichen des deutschen Wirtschaftswunders, sondern war aufgrund ihres starken Kurses auch ein mächtiger Faktor in europäischen Verhandlungen, da viele kleinere europäische Währungen wirtschaftlich von ihr und damit von Deutschland abhingen (so auch der österreichische Schilling). Speziell um den deutschen Sorgen entgegen zu kommen, wurden deshalb die Bedingungen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes in die Verträge von Maastricht aufgenommen.
Das 20. Jahrhundert endete, trotz einiger positiver Signale, mit politischer Unsicherheit, insbesondere in Bezug auf die Frage, welchen Kurs die EU zukünftig einschlagen würde. Neben Deutschland bekannten sich auch die meisten anderen Mitgliedsstaaten ausdrücklich zur weiteren europäischen Integration – jedoch blieb die Richtung unklar: Sollte im neuen Jahrtausend breitere oder eher tiefere Integration stattfinden? Welche europäischen Länder würden in Zukunft das europäische Projekt aktiv mitgestalten und vorantreiben? Und wie würde ein vereintes Deutschland seine eigene, zukünftige Rolle in der EU definieren?
Integrationstheorien unterscheiden zwischen breiter und tiefer Integration. Dabei bedeutet breitere Integration (im Kontext der EU) die Ausweitung des Projekts auf mehr Länder – also die Aufnahme neuer Mitgliedstaaten in die EU. Tiefere Integration hingegen bedeutet, die Zusammenarbeit in gezielten thematischen Gebieten auszubauen und zu vertiefen, zum Beispiel in der Fiskalpolitik oder in der Außen- und Sicherheitspolitik.
Die EU in der Krise – Eine neue deutsche Führungsrolle?
“Europas Seele ist die Toleranz.”
Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer Rede vor dem Europäischen Parlament am 17. Januar 2007
Die ersten Jahre nach Einführung des Euros 2002 vermittelten einen überwiegend positiven Eindruck: Die Europäische Währungsunion präsentierte sich als Erfolgsprojekt zu Beginn des neuen Jahrtausends. Nicht nur die deutsche Wirtschaft erholte sich von den Strapazen der Wiedervereinigung, sondern überall in Europa entwickelte sich die Wirtschaft positiv. Die vielversprechende wirtschaftliche Entwicklung wirkte sich auch auf die Politik aus: In Deutschland reformierte Kanzler Gerhard Schröder (SPD) in der Agenda 2010 das deutsche Sozialsystem, um den zukünftigen demografischen Herausforderungen auf dem Arbeitsmarkt gerecht zu werden. Dabei war der Begriff Agenda 2010 an die damalige Europapolitik angelehnt. Denn zu Beginn des Jahrtausends hatten die europäischen Staatenlenker in der Lissabon-Strategie angekündigt, die EU zum „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt“ zu entwickeln. In dieser Zeit der Aufbruchsstimmung wurde die europäische Integration in verschiedenste Richtungen weiter vorangetrieben. So sah die EU im Jahre 2004 der größten Erweiterung ihrer Geschichte entgegen, mit dem Beitritt von zehn neuen Mitgliedstaaten aus Osteuropa. Die Osterweiterung war schon zu Zeiten des Kalten Krieges geplant und insbesondere von Deutschland und anderen mitteleuropäischen Staaten unterstützt worden, da sie so ihre jeweilige geographische Entfernung zu den östlichen Außengrenzen der EU ausbauten. Auch sah Deutschland die Annäherung und anschließende Erweiterung der EU in den Osten als notwendiges Projekt an – aufgrund seiner eigenen geteilten Vergangenheit. Neben der breiten Integration wurde zudem in verschiedenen Verhandlungsrunden und Verträgen die politische Dimension der europäischen Integration verstärkt. In diesen ersten Jahren des neuen Jahrtausends schien die EU daher von Fortschritt getrieben und dem Erreichen gemeinsamer Ziele verschrieben.
„Niemand sollte glauben, dass ein weiteres halbes Jahrhundert Frieden und Wohlstand in Europa selbstverständlich ist. Es ist es nicht. Deshalb sage ich: Scheitert der Euro, dann scheitert Europa. Das darf nicht passieren.”
Angela Merkel am 26. Oktober 2011
Erst der Einbruch der europäischen Wirtschaft im Zuge der Weltwirtschaftskrise im Jahre 2008 beendete diese positive Entwicklung. Die darauffolgende Eurokrise, aber insbesondere auch die Migrationskrise wenige Jahre später, brachten die klaren Trennlinien zum Vorschein, die die europäische Gemeinschaft spalteten. Infolgedessen wurde die Zukunft des europäischen Integrationsprojektes offen infrage gestellt. Die Krisenjahre machten nicht nur sichtbar, dass Europa politisch, wirtschaftlich und kulturell äußerst verschiedenartig war und ist – sie offenbarten auch zahlreiche systematische Probleme: So wurde die wachsende Staatsverschuldung vieler Mitgliedsländer über Jahre nicht aktiv behandelt und die reale Belastbarkeit von Verträgen wie dem Dublin-Abkommen überschätzt.
Die Dublin Abkommen (I, II und III) regeln, welcher Staat für die Prüfung eines Asylantrags verantwortlich ist. Demzufolge ist dasjenige Land zuständig, das ein Migrant bei Ankunft in der EU als erstes betritt.
In dieser krisenerschütterten politischen Realität Europas veränderten sich auch etablierte Machtverhältnisse in der EU. In der akuten Zeit des Krisenmanagements fand sich Deutschland in einer neuen Rolle wieder: Nach Jahren wirtschaftlicher Probleme und politischer Unsicherheit hatte es sich zum ökonomischen Schwergewicht Europas entwickelt, dessen Stimme die Entwicklung der EU lenkte. Auf der Höhe der Eurokrise forderten zahlreiche europäische Politiker unterschiedlicher Länder Deutschland direkt auf, die politische Führung auf der Suche nach einer Lösung für die Krise zu übernehmen. Jedoch gab es auch schon während dieser Zeit Kritiker der neuen Führungsrolle Deutschlands, und deutsche Politiker wurden für viele Entscheidungen – wie zum Beispiel die harte Austeritätspolitik gegenüber Griechenland – deutlich kritisiert. Aber dennoch: Ohne die Zustimmung Berlins und den zahlreichen persönlichen Treffen zwischen Kanzlerin Angela Merkel und dem französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy wurde in den akuten Jahren der Euro-Krise kaum eine europäische Entscheidung getroffen. Beide Staatschefs waren sich einig und kommunizierten geschlossen nach außen, dass, sollte der Euro scheitern, dies ein Scheitern der gesamten EU bedeuten würde.
Austeritätspolitik bezeichnet eine strenge staatliche Haushaltspolitik, die einen ausgeglichenen Staatshaushalt und eine Verringerung der Staatsschulden anstrebt. Es ist wirtschaftlich und politisch umstritten, ob ein harter Sparkurs und die Disziplinierung der Staatsausgaben immer die richtige Lösung für finanzielle Krisen darstellt. Mehr dazu in der Artikelserie zur Eurokrise.
Die EU und Deutschland – das Verhältnis heute und in der Zukunft
„Wir haben oft Grund, nicht zufrieden mit Europa zu sein. Aber wenn wir uns mal umschauen, in welchen Regionen kein Frieden ist, dann sehen wir den Wert von Europa: dass Europa ein Friedensprojekt ist. Wer Europa stärkt, stärkt auch Deutschland.”
Angela Merkel am 7. September 2017
Der Blick auf die europäische Geschichte verdeutlicht, dass die Schlüsselrolle Deutschlands nicht nur auf dessen geografischer Lage, Bevölkerungszahl oder wirtschaftlichen Stärke basiert – sondern insbesondere auch auf der speziellen Vergangenheit und dem politischen Einfluss des Landes. Heute sind sich weite Teile der deutschen Gesellschaft und Politik der besonderen Rolle Deutschlands in der EU bewusst. Kaum ein anderes Land hat sich so deutlich der europäischen Einigungsidee verschrieben. Deutschland ist deshalb zum Zentrum des politischen Europas geworden, nicht aber zu seinem Diktator. Über viele Jahre hinweg bestand seine Rolle weitestgehend darin, als treibende Kraft die europäische Integration zu fördern – erst mit den Krisen des neuen Jahrtausends begann Deutschland, weitere Integration tendenziell zu bremsen. Es scheint sich ein zunehmender Unwillen in Deutschland entwickelt zu haben, weiterhin eine Führungsrolle im europäischen Integrationsprozess wahrzunehmen. In den Krisenjahren haben viele Deutsche die europäische Solidarität vermisst, zum Beispiel im Umgang mit den Migrationsströmen. Auch sahen manche die Kritik an Deutschlands Politik während der Eurokrise als Zeichen für den Unwillen der europäischen Nachbarn, Deutschland eine Führungsrolle in Europa zuzugestehen.
Aber nicht nur auf nationaler, deutscher Ebene herrscht Unklarheit über die zukünftige Ausrichtung der EU, auch auf europäische Ebene herrscht wie schon oft in der Geschichte Uneinigkeit. Während in manchen Staaten Rechtspopulisten das Ende der europäischen Integration fordern, sehen andere politische Akteure weitere Integration als die einzige Lösung für die Solidaritätskrise der letzten Jahre. Insbesondere in Themen wie dem Umgang mit Migrationsströmen oder der Frage nach zukünftiger finanzieller Integration und einer gemeinsamen Fiskalpolitik findet sich ein Kaleidoskop verschiedenster Meinungen in Europa. Diese wachsende kritische Meinungsvielfalt wird dabei oft der zunehmenden Zersplitterung der nationalen Parteienlandschaft zugeschrieben. Um ein gefürchtetes politisches Vakuum in der Mitte Europas zu verhindern und weiterhin die Zukunft Europas zu gestalten, werden deshalb gerade jetzt von Deutschland und Frankreich kreative Initiativen und konzeptionelle Vorstöße erwartet – wie zum Beispiel jüngst die Initiative des deutsch-französischen Parlamentsabkommens.
Am 25. März 2019 tagte zum ersten Mal die deutsch-französische Versammlung, ein Gremium aus Abgeordneten der nationalen Parlamente beider Länder. Sie wurde nicht mit dem Ziel ins Leben gerufen, die Souveränität Deutschlands und Frankreichs weiter einzuschränken, sondern um engere Kooperation zu ermöglichen und neue Denkanstöße sowohl zur binationalen als auch europäischen Zusammenarbeit zu liefern.
Doch auch das deutsch-französische Tandem, das über viele Jahre die europäische Integration vorangetrieben hat, ist momentan nicht von deutlicher Einigkeit über die Zukunft des europäischen Integrationsprozesses geprägt. So spricht sich Frankreich unter der Regierung Emmanuel Macrons klar für eine Vertiefung der europäischen Integration aus, während in Deutschland zumeist nur auf die Notwendigkeit verwiesen wird, bereits erreichte Integrationserfolge weiter zu verbessern. Dennoch werden sich Deutschland und Frankreich gemeinsam entscheiden müssen, ob sich diese Diversität und Uneinigkeit überwinden lässt, und sie im Tandem wieder ihrer wichtigen Rolle für die EU gerecht werden können. Es muss dabei jedoch allen in Europa bewusst sein, dass einzelne Länder alleine nicht genug Treiber und Motor für zukünftige Integration sein können. Vielmehr werden sie dabei immer auch auf die Ideen und Unterstützung der anderen Mitgliedstaaten angewiesen sein, um die kurz- und langfristigen Aufgaben, die auf die EU zu kommen, kreativ und erfolgreich zu bewältigen.
„Deutschland hat heute eine Verantwortung wie nie zuvor in den vergangenen 50 Jahren. Das ist Chance und Last zugleich. Deutschland hat zum ersten Mal seit Jahrhunderten die Chance, eine produktive Rolle in Europa zu spielen und Europa entscheidend voran zu bringen. Das kann heute nur Deutschland. Aber Deutschland allein kann es nicht.”
Der frühere deutsche Finanzminister Theo Waigel in einem Interview mit “Die Welt” am 25. Dezember 2011
Deutschlands Freud’,
Europas Leid
KOMMENTAR
VON DAVID WILHELMS
Wenn von der EU die Rede ist, wird häufig die längste Friedenssicherung auf dem europäischen Kontinent betont. 70 Jahre ohne Krieg, und das im zuvor so blutrünstigen Europa. Für diese Errungenschaft haben wir, die Bürger der EU (und ja: auch Du!) im Jahre 2012 den Friedensnobelpreis verliehen bekommen. Trifft diese Beschreibung – die EU als Friedensprojekt – aber auch wirklich den Zahn der Zeit?
Wir erinnern uns: Antriebsmotor der europäischen Integration war nicht nur die Aussöhnung der „Erbfeinde“ Deutschland und Frankreich, sondern ebenso das strategische Kalkül der USA, den europäischen Kontinent nach Ende des Zweiten Weltkrieges nicht dem Kommunismus zu überlassen. Ohne den Marshallplan wäre ein europäisches, insbesondere ein deutsches Wirtschaftswunder wohl nicht möglich gewesen.
Der Marshallplan sollte der Wirtschaft in Europa nach Ende des Zweiten Weltkrieges wieder auf die Beine helfen. Wichtige Voraussetzung war die Verwirklichung einer wettbewerbsorientierten Marktwirtschaft. Zwischen 1948 und 1952 wurden ca. 12 Milliarden Dollar bereitgestellt, wovon alleine 1,5 Milliarden Dollar nach Westdeutschland flossen, was damals viel mehr wert war, als es heute ist.
Was wäre aus der EU geworden, wären der Marshallplan und der damit verbundene Wohlstand der Nachkriegsjahre nicht gewesen? Vielleicht wäre der Zusammenschluss der europäischen Völker nie so eng geworden, denn die europäische Integration war damals doch vielmehr durch die ökonomische Notwendigkeit der Vereinheitlichung als durch das Ansinnen politischer Einheit getrieben. Auch war Europa einer der Hauptschauplätze des Ost-West-Konfliktes, der zu Unrecht als „Kalter“ Krieg tituliert wird, da in seinen Stellvertreterkriegen viele Millionen Menschen gestorben sind.
In den Stellvertreterkriegen mischten sich die USA und die Sowjetunion in Bürgerkriegen von Drittstaaten ein, um den geopolitischen Einfluss der Gegenpartei einzudämmen.
Die Auffassung, die EU sei einzig und alleine ein Friedensprojekt, ist somit eine stark vereinfachte Abbildung der Realität. Wer das behauptet, vergisst die vorrangig wirtschaftlichen Motive der europäischen Einigung und die vielen Kriege, die außerhalb des europäischen Kontinents, aber unter seinem Einfluss stattgefunden haben. Aber dass Eurozentrismus in einer immer stärker globalisierten Welt schädlich ist, wurde spätestens in der Flüchtlingskrise 2015 deutlich. Wenn Frieden nicht global gedacht wird, kommen der Krieg und seine Folgen eben zu uns.
Unter Eurozentrismus versteht man eine Weltanschauung nach europäischen Vorstellungen. Also eine Ideologie, die sich auf von Europäern entwickelte Werte und Normen gründet.
Der ewige Musterschüler
Bleiben wir zunächst beim allgegenwärtigen Thema der Migration, das wie kaum ein zweites den öffentlichen Diskurs in Deutschland und Europa spaltet. 2015 wurden auf Geheiß der Kanzlerin die Grenzen nicht geschlossen, sodass etwa eine Million Flüchtlinge ins Land kommen konnte. Moralische Deutungshoheit wurde nach langer Zeit wieder zur deutschen Tugend – so zumindest das deutsche Selbstverständnis, während andere Länder für ihre fehlende Solidarität gerügt wurden.
Genauso könnte man Deutschland aber in der Rolle des europäischen Störenfrieds sehen. Denn während es mit dem Dublin-Abkommen eigentlich eine Regelung für die Koordination von Geflüchteten auf europäischer Ebene gibt, hat Deutschland 2015 die Flüchtlingspolitik im Alleingang bestimmt. Praktisch über Nacht wurde das Dublin-Abkommen außer Kraft gesetzt und dabei hat es Deutschland nicht für nötig gehalten, das mit den anderen Staaten abzustimmen oder ihnen auch nur mitzuteilen.
Das Ziel des Dublin-Abkommens ist die abschließende Klärung der Zuständigkeiten europäischer Staaten. Demnach ist derjenige Staat zuständig, in dem ein Flüchtling erstmals registriert wurde. Damit soll verhindert werden, dass Flüchtlinge in mehreren Staaten Asyl suchen oder zwischen den Staaten hin- und hergeschoben werden.
Selbstverständlich kann man das Verhalten der Kanzlerin aus humanitärer Sicht loben. Doch sollte man nicht den Fehler begehen, die Konsequenzen ihrer Entscheidung aus dem Blick zu verlieren. Seit 2015 hat sich die Situation insgesamt nicht verbessert. Noch immer ertrinken Menschen im Mittelmeer, noch immer werden Menschen notfalls mit Gewalt an der Einreise nach Europa gehindert. Der scheinheilige Flüchtlingsdeal mit dem türkischen Despoten Erdogan oder der fadenscheinige Versuch, mit der Regierung Libyens die Migration zu koordinieren, werfen kein gutes Licht auf Deutschland und die EU. Es erscheint außerdem aus Sicht der Fairness äußerst fraglich, warum ein Flüchtling von 2015 eine bessere Chance auf Asyl in Deutschland haben sollte als ein Flüchtling aus 2019.
Was es braucht, ist eine rechtliche Neugestaltung des Dublin-Abkommens und einer gemeinsamen europäischen Migrationspolitik. Die Folge des Dublin-Abkommens ist eine überdurchschnittliche Belastung der Mittelmeerstaaten, in denen die Geflüchteten häufig zuerst ankommen. Besonders prominent fordert Italien seit geraumer Zeit einen Verteilungsschlüssel, um die Flüchtlinge gerechter auf die europäischen Staaten zu verteilen. Dabei war es gerade Deutschland, das einer Quotenregelung über das vergangene Jahrzehnt im Wege stand. Gleichzeitig ist es aber doch gerade Deutschland, das eine historische Verantwortung hat, Verfolgten Schutz zu gewähren. Mit der gegenwärtigen Ausgestaltung des Dublin-Abkommens kann es dieser Verantwortung jedoch nicht gerecht werden: Deutschland ist ein europäischer Binnenstaat; die Zahl der Asylsuchenden, die in Europa zuerst deutschen Grund und Boden betreten, tendiert damit gegen null.
Durch den deutschen Alleingang ist die dringend notwendige Neugestaltung des Dublin-Abkommens und eine gemeinsamen Migrationspolitik in weite Ferne gerückt. Deutschland hat sich auf europäischer Ebene isoliert und dem Populismus einen großen Auftrieb beschert. Besonders der Brexit kann als mittelbare Folge angesehen werden, wobei es Merkel verpasste, sich mit ähnlicher Leidenschaft für den Verbleib Großbritanniens einzusetzen wie noch beim drohendem Austritt Griechenlands 2015. Natürlich kann Deutschland nicht alleine für den britischen Willen zur splendid isolation („wunderbaren Isolation”) zur Rechenschaft gezogen werden. Doch es erstaunt, wie achselzuckend die politische Führung in Deutschland den Brexit hingenommen hat. Immerhin verfügt Großbritannien über einen ähnlichen wirtschaftlichen Stellenwert wie die 20 kleinsten EU-Staaten zusammengerechnet.
Europa ist deutsch geworden
Neben dem Frieden wird die EU häufig als Werteunion gerühmt. Wie aber ist es um die so häufig bemühten Werte Gleichheit, Freiheit und Solidarität tatsächlich bestellt?
Beginnen wir mit der Freiheit, die in den vier Grundfreiheiten der EU zum Ausdruck kommt: Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital können ungehindert über alle Grenzen hinweg verkehren. Natürlich ist das ein historischer Fortschritt, doch handelt es sich offensichtlich um die kapitalistische Freiheit wirtschaftlicher Austauschbeziehungen. Vielleicht sollte man sich in Erinnerung rufen, dass die EU in ihrem eigenen Selbstverständnis auf der Aufklärung fußt – jener Bewegung, die um 1800 ihren Ausgang nahm und unseren Wertekanon begründete. In diesem Verständnis steht Gleichheit a priori vor Freiheit, da der Mensch zunächst gleich sein muss, ehe er frei sein kann. Auch an diesem Punkt sollten wir Deutschlands Einflussnahme selbstkritisch hinterfragen: Sind wir tatsächlich der auf Ausgleich und die europäischen Werte bedachte Schlichter, der im Zuge der Finanzkrise Griechenland und anderen finanzpolitischen „Frevlern“ großherzig unter die Arme gegriffen hat?
Betrachten wir die Hintergründe, der immer noch nachwirkenden Eurokrise und die zweifelhafte Rolle, die Deutschland im Zuge dessen gespielt hat.
So steht die Schaffung der Währungsunion, des Euro, in unmittelbarem Zusammenhang mit der Wiedervereinigung. 1989 flammte überall in Europa die begründete Sorge auf, Deutschland könnte als wiedervereinigtes Land zu alter Stärke zurückfinden, ein Wolf im europäischen Schafpelz sozusagen. So sollte „die deutsche Atombombe“, die deutsche Wirtschaft, mit einer gemeinsamen Währung gebändigt werden. Eine nicht ganz unbedenkliche Idee in Anbetracht der Tatsache, dass Europa ein äußerst heterogener Wirtschaftsraum war und immer noch ist. Verstärkt wurde die Problematik der unterschiedlichen Ausgangsbedingungen durch die festgeschriebenen Konvergenzkriterien, die Deutschland gegen den Willen fast aller anderen Nationen durchgesetzt hat.
Die Konvergenzkriterien, zumeist Maastricht-Kriterien genannt, verfolgen das übergeordnete Ziel, die Haushaltsdisziplin der Mitgliedstaaten zu sichern. Dazu gehört, dass die Gesamtverschuldung eines Staates maximal 60 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts (BIP) ausmachen darf. Der maximalen Neuverschuldung pro Jahr ist eine Grenze von 3 Prozent des BIP gesetzt.
Diese Konvergenzkriterien sind vor allem im Sinne der exportorientierten Nationen wie Deutschland, die von stabilen Wechselkursen und einer geringen Inflationsrate profitieren. Wirtschaftlich schwächere Volkswirtschaften verfügen hingegen nicht mehr über den Spielraum, sich durch Auf- oder Abwertung der eigenen Währung an makroökonomische Gegebenheiten anzupassen. Erschwerend kommt hinzu, dass es versäumt wurde, europäische Institutionen zu schaffen, die die Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten wirksam überwachen und aneinander anpassen. Am problematischsten ist allerdings die einseitig ökonomisch vollzogene Integration, während die daraus hervorgehenden politischen und sozialen Fragen keine europäische Antwort finden.
Die Folgen sind heute offensichtlich: Europa ist gespalten – Euro-Staaten treffen Entscheidungen für die gesamte Union, Gläubigerstaaten entscheiden über die Zukunft von Schuldnerstaaten. Aus der wirtschaftlichen ist eine politische Krise geworden. Und was dabei gerne unausgesprochen bleibt: Europa ist deutsch geworden. Als wirtschaftlicher Primus, der in den letzten dreißig Jahren zehnmal Exportweltmeister geworden ist, trägt man eine besondere „Verantwortung“. „Verantwortung“, weil die Wörter „Macht“ oder gar „Dominanz“ im Zusammenhang mit Deutschland einen faden historischen Beigeschmack haben. Nenne man es, wie man wolle, nicht das griechische Parlament stimmte 2012 über die eigene Zukunft in der Währungsunion ab, sondern das deutsche. Weniger Brüssel als Berlin machten die betroffenen Staaten für eine Austeritätspolitik verantwortlich, die dem Sozialstaat der Schuldnerländer Daumenschrauben anlegte. Grassierende Jugendarbeitslosigkeit ist die eine Konsequenz, wiederauferstandener Nationalismus die andere. Als Plakate vom damaligen deutschen Finanzminister Wolfgang Schäuble mit Hitlerbart durch Athen getragen wurden und sich der Focus mit einer Aphrodite, die der Welt den Mittelfinger zeigte, rächte, musste man sich fragen: Wie konnte es so weit kommen?
Der neue deutsche Narzissmus
Wenden wir uns also Deutschland zu, dem unfreiwilligen neuen Herrscher. Entscheidenden Anteil an der Abneigung der anderen Europäer hat wohl das neue deutsche Selbstverständnis. Von Ökonomie über Ökologie bis hin zur Migration: Hierzulande hat man einen neu entflammten Nationalstolz entwickelt, der nicht zuletzt darin besteht, besser als die europäischen Nachbarn zu sein. Was uns an Lebensfreude fehlt, haben wir den anderen an Wetteifer voraus. Aber sind wir tatsächlich der europäische Klassenprimus?
Beginnen wir mit der Vorstellung von Deutschland als wirtschaftlicher Lokomotive Europas. Diesen Status haben wir nämlich unseren europäischen Nachbarn zu verdanken: Zwei Drittel der deutschen Exporte gehen in den Rest der EU. Unser Wohlstand entsteht also primär in den Ländern, denen wir den erhobenen Zeigefinger entgegenstrecken. Dabei wird übersehen, dass Überschuss und Defizit insgesamt ein Nullsummenspiel bilden, denn Export und Import halten sich logischerweise insgesamt die Waage. Unser Gewinn ist der Verlust unserer europäischen Nachbarn. Auch war Deutschland in den 90er-Jahren und zu Beginn des neuen Jahrtausends selbst europäisches Sorgenkind mit zu hohen Staatsschulden und einer hohen Arbeitslosenquote. Durch die Agenda 2010 erfolgte ein Abbau des Sozialstaates, beispielsweise durch die Kürzung des Arbeitslosengeldes, den Aufbau des Niedriglohnsektors oder der Erhöhung des Rentenalters. Dass man im Zuge dessen die selbst geschaffenen Konvergenzkriterien mit als erstes missachtete, wird im gegenwärtigen Diskurs gerne einmal vergessen.
Die Agenda 2010 war eine umstrittene Reform des deutschen Arbeitsmarktes und der Sozialsysteme. Deutschland galt wirtschaftlich zuvor als „der kranke Mann Europas”.
Wer denkt, dass dieser offene Regelbruch eine einmalige Nichtigkeit darstellt, wird bei näherer Betrachtung eines Besseren belehrt. So war Deutschland 2016 Spitzenreiter beim Bruch europäischer Regeln und musste sich in insgesamt 91 Fällen gegenüber der Europäischen Kommission rechtfertigen. Die meisten Verfahren erfolgten dabei in Umweltfragen, bei denen Deutschland nicht nur in der Umsetzung hinterherhinkt, sondern häufig schon im Entstehungsprozess sabotiert: Als es 2013 darum ging, den CO2-Ausstoß von Autos zu beschränken, war es ausgerechnet die Klimakanzlerin, die dem geplanten Gesetz eine Abfuhr erteilte. Das eigene Selbstverständnis ist auch an diesem Punkt moralisch recht flexibel.
Und dann wäre da noch der Begriff der Gleichheit, der in der Praxis vor allem sozialpolitische Maßnahmen meint. So sind es die europäischen Bürger, die unter der europäischen Wirtschaftspolitik am meisten zu leiden haben. Sei es in Südeuropa, wo man aufgrund der europäischen Austeritätspolitik existenzielle Einschnitte hinnehmen muss, oder aber im deutschen Niedriglohnsektor, wo man trotz Anstellung nicht über die Runden kommt. Dabei gäbe es Möglichkeiten des sozialen Ausgleichs, beispielsweise durch eine europäische Arbeitslosenversicherung oder einen europäischen Mindestlohn. Nur bedürfte es dafür einer erweiterten politischen Vereinigung, welche sich in der Gegenwart nicht abzeichnet. Dies muss erstaunen, denn die Ausgangsbedingungen sind nicht die Schlechtesten: Noch nie zuvor war ein stärkerer Befürworter als Emmanuel Macron französischer Präsident. Das qualvolle Ausscheiden des Vereinigten Königreichs, das die EU schon immer mit dem europäischen Binnenmarkt gleichsetzte, zeigt, dass weniger Europa wohl auch keine Option zu sein scheint.
Auf dem Weg zu einem europäischen Deutschland
Das entscheidende Zünglein an der Waage ist Deutschland, welches aber mehr daran interessiert scheint, den Status Quo aufrechtzuerhalten. Es fehlt hierzulande an positiven Vorschlägen zur Weiterentwicklung Europas, um die gegenwärtigen Krisen zu überwinden. Europa ist kein Fahrplan zu einem vorgegebenen Ziel. Dem Land der Dichter und Denker mangelt es in diesem Punkt schlichtweg an Ideen, wohin die Reise gehen könnte. Stattdessen ist man wieder stolz auf das Hier und Jetzt.
Das neue deutsche Selbstbewusstsein ist dabei ein nationales: Deutschland das Bild, Europa der Rahmen. Doch Deutschland hat der Europäischen Union mehr als jedes andere Land zu verdanken. Nur durch die fortlaufende Integration konnte die Wiedervereinigung gelingen, nur durch den gemeinsamen Binnenmarkt unser gegenwärtiger Wohlstand erreicht werden. Die EU war und ist die Antwort auf die deutsche Frage. Es ist an der Zeit, unserer neuen „Verantwortung“, Europa nämlich, gerecht zu werden. Man erinnere sich an Thomas Mann: Er rief kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs dazu auf, nicht nach einem „deutschen Europa“, sondern einem „europäischen Deutschland“ zu streben.