Rat’ mal,
wer da tagt

VON MAX SCHACHERMAYER

Ein guter Rat: Wer Rat und Rat nicht verwechseln will, und nicht nur raten, welcher Rat mit „Rat“ gemeint sein könnte, dem raten wir, nicht mehr zu beiden Räten einfach Rat zu sagen. Im Europäischen Rat diskutieren die 28 Staats- und Regierungschefs über grundlegende Fragen der Union. Der Ministerrat (Rat der Europäischen Union) ist die Stimme der nationalen Minister, nach Themen sortiert, in der europäischen Gesetzgebung. Warum man diese Namen nicht klarer unterscheiden konnte, bleibt auch uns ein Rätsel.

Der Europäische Rat

Der Europäische Rat ist das einflussreichste und umstrittenste Organ der Europäischen Union. Seine Entstehungsgeschichte spiegelt grundlegende Spannungen in der europäischen Konstruktion wider. Als politisches Machtzentrum ist er das pochende Herz der heutigen europäischen Politik.

Lange Nächte. Große Entscheidungen.

Langsam erhebt sich die Morgensonne über die Brüsseler Skyline. Die schwüle Mittsommernacht hat die neoklassischen Bauten der Stadt in ein leichtes Rosarot getaucht – vergebens, denn es ist zu früh, als dass eine Menschenseele die stille Pracht des Morgenlichts betrachten könnte. Doch nicht alle Stadtbewohner schlafen sanft. Inmitten des Herzens der Hauptstadt, in einem pinken Granitgebäude, richten sich ungeduldige Blicke auf eine fest verriegelte Türe. Hinter ihr findet seit siebzehn Stunden eine schicksalsentscheidende Verhandlung statt. Nach dem Ablauf ihres zweiten 130 Milliarden schweren Rettungspakets benötigt die griechische Regierung dringend die erneute Unterstützung ihrer europäischen Gläubiger. Die heutige Nacht soll über nichts Geringeres als Griechenlands Liquidität, das Bestehen der Eurozone und die Zukunft des europäischen Projekts entscheiden. Um 08:39 morgens leuchten die Smartphones der Journalisten endlich auf. Ein Tweet des belgischen Premierministers: „Agreement“. Griechenlands vorläufige Zukunft in der Eurogruppe ist gesichert.  

Das pochende Herz Europas

Lange Verhandlungen wie diese sind keine Seltenheit für den Europäischen Rat. Als Gremium der 28 Staats- und Regierungschefs bildet er das politische Leitorgan der Europäischen Union. Laut eigener Definition formuliert er die allgemeinen Zielvorstellungen und Prioritäten der EU, fördert ihre konsensorientierte Zusammenarbeit und legt die strategische Agenda der Union fest. In seiner heutigen Form ist er die mächtigste der sieben europäischen Institutionen. Denn er ist es, der die grundsätzlichen politischen Leitlinien der europäischen Zusammenarbeit definiert und bindende Beschlüsse fasst, die die Arbeitsgrundlage anderer Institutionen bildet. Nicht zu verwechseln ist der Europäische Rat mit dem Rat der Europäischen Union, umgangssprachlich Ministerrat genannt. Letzterer vertritt die Stimme der nationalen Regierungen in der europäischen Gesetzgebung und setzt sich – wie der Name schon verrät – aus nationalen Ministern zusammen.

Mindestens viermal im Jahr versammelt sich der intergouvernementale Europäische Rat auf sogenannten EU-Gipfeln im Brüsseler Justus-Lipsius-Gebäude, um die politische Zukunft der EU zu diskutieren. Hinter verschlossenen Türen versammeln sich dann die 28 Staats- und Regierungschefs der Union, sowie Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, die Hohe Vertreterin für Außen- und Sicherheitspolitik, Federica Mogherini, und der Präsident des Europäischen Rats, Donald Tusk. Letzterer führt den Vorsitz der Gipfeltreffen, trägt zur Konsensfindung zwischen den Mitgliedstaaten bei und kann bei dringlichen Angelegenheiten auch außerordentliche Sondergipfel einberufen. Zwar laufen diese Gipfeltreffen hinter verschlossenen Türen ab. Ergebnisse werden aber nach jedem Gipfel publiziert und auch dem Europäischen Parlament vorgelegt.

In intergouvernementalen Institutionen werden Entscheidungen durch nationales Einvernehmen, also zwischen den nationalen Regierungen selbst, statt durch einen übergeordneten einheitlichen Entscheidungsträger (z. B. die Europäische Kommission) getroffen.

Grundsätzlich unterteilen sich die Kompetenzen des Europäischen Rats in mehrere Aufgabenbereiche. Zuallererst entscheidet der Rat über die Festlegung einer langfristigen strategischen Agenda, die die politische Ausrichtung der Union definiert. Zwar hat der Rat keine formellen gesetzgebenden Kompetenzen, seine Beschlüsse sind aber politisch ausschlaggebend und prägen nationale Politik genauso wie jene der Europäischen Kommission, des Europäischen Parlaments und des Ministerrats. Der Europäische Rat ist mit keinem formellen Abstimmungsverfahren ausgestattet. Im Gegensatz zum Ministerrat erlässt er Entscheidungen im Konsens. Eine Nein-Stimme aus einem der 28 Mitgliedstaaten genügt also, um die Agenda des Rats zu blockieren. Das erklärt mitunter wieso Verhandlungen bis in die Morgenstunden keinesfalls unüblich sind.

Eine Entscheidung im Konsens erfordert die Zustimmung aller Mitgliedstaaten. Kompromisse sind notwendig, da eine Nein-Stimme aus einem der 28-Mitgliedstaaten die europäische Agenda blockieren kann.

Zweitens befasst sich der Europäische Rat mit heiklen Themen, die im zwischenstaatlichen Ministerrat keine Einigung finden. So fand zum Beispiel das eingangs erwähnte 17-stündige Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs deshalb statt, weil die europäischen Finanzminister am Vortag keine Vereinbarung über ein weiteres griechisches Rettungspaket getroffen hatten. Des Weiteren ist der Europäische Rat für die Formulierung der gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Union verantwortlich. Er ist es auch, der Kandidaten für die Leitung der europäischen Organe ernennt, unter anderem den Hohen Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik, den Präsidenten der Europäischen Zentralbank und jenen des Europäischen Rats selbst.

Eine Institution, die keine war.

Der Europäische Rat entstand nicht zeitgleich mit der Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) 1951 oder der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 1957. Im Gegenteil: Er entstand als Notlösung inmitten kollidierender Zukunftsvisionen Europas.

Wagen wir einen Zeitsprung ins Jahr 1965. Die neue Einführung der qualifizierten Mehrheit soll die Handlungsfähigkeit des Ministerrats stärken. Ganz zum Missfallen des Präsidenten Frankreichs, Charles De Gaulle. Dieser fürchtet den Verlust des französischen Vetorechts und die Aushebelung seines nationalen Einflusses zugunsten der europäischen Machtzentralisierung. Denn als überzeugter Souveränist unterstützt De Gaulle die Vision einer Union, die auf der Zusammenarbeit autonomer Nationalstaaten und intergouvernementalen Institutionen beruht. Der europäischen Integration zugunsten einer immer stärkeren Machtkonzentration in Brüssel soll demnach Einhalt geboten werden. In der folgenden „Krise des leeren Stuhls“ (1965-1966) blockiert De Gaulle jede Integrationsmaßnahme und stürzt die noch junge Gemeinschaft in eine tiefe Identitätskrise. Liegt die Zukunft der Gemeinschaft doch nicht in einer immer engeren Union?

Laut der seit 2014 geltenden qualifizierten Mehrheit benötigt ein Gesetzesantrag eine “doppelte Mehrheit”. Um verabschiedet zu werden, braucht es also die Unterstützung von

•    55 % der Mitgliedstaaten (derzeit 16 von 28 Ländern), die

•    mindestens 65 % der EU-Bevölkerung repräsentieren.

Um einen Beschluss zu blockieren, müssen sich zumindest vier Länder, die mindestens 35 Prozent der EU-Gesamtbevölkerung ausmachen, als Sperrminorität zusammenschließen.

Erst mit De Gaulles Rücktritt 1969 gelingt es seinem Nachfolger Georges Pompidou, gemeinsam mit dem neu angetretenen deutschen Bundeskanzler Willy Brandt, einen Staatsgipfel in Den Haag einzuberufen, um die Gemeinschaft vor dem Zerfall zu retten. Tatsächlich schaffen es die damals noch sechs Regierungschefs in Den Haag, ihre nationalen Differenzen zu überwinden. Der Erfolg des Den Haager Gipfels überzeugt die europäischen Spitzenpolitiker, sich von nun an im Dreimonatstakt zu treffen. Der Europäische Rat ist geboren. Und das, ohne ein offizielles Organ zu sein. Mit zunehmendem Einfluss behandelt der Rat bald Detailfragen der europäischen Alltagspolitik. Ganz zum Missfallen der europäischen Föderalisten: Diese verstehen den zunehmenden Einfluss des Europäischen Rats als Hindernis für die Arbeit seiner föderalen Schwesterinstitutionen.

Unter europäischen Föderalisten versteht man die Verfechter eines zentralisierten europäischen Bundesstaats, der sich aus gemeinschaftlichen Institutionen zusammensetzt.

Zwar sieht Jean Monnet, EU-Gründervater und überzeugter Föderalist, im neu gegründeten Rat die Hoffnung für eine „provisorische Regierung Europas.“ Faktisch entwickelte sich der Europäische Rat aber zu einem intergouvernementalen Organ, das sich im Gegensatz zum Parlament und der Kommission aus nationalen Vertretern zusammensetzt. Dadurch vertritt er allen voran die Interessen der einzelnen Mitgliedstaaten, deren Summe aber nicht unbedingt dem gesamteuropäischen Interesse gleicht.

Trotz seiner souveränen Natur spielte der Europäische Rat eine bedeutende Rolle in der voranschreitenden europäischen Integration. So beschloss er die Einführung eines europäischen Reisepasses (1975), die Direktwahl des Europäischen Parlaments (1976), und die Gründung eines europäischen Währungssystems (1979). Doch bald wird die Konsensausrichtung dieses politisch aufgewerteten Organs ein wunder Punkt für die Weiterentwicklung der Europäischen Gemeinschaft. Mit dem Amtsantritt der neuen Premierministerin Margaret Thatcher fordert das Vereinigte Königreich 1979 eine Senkung seiner Nettobeitragszahlungen an die Europäische Gemeinschaft.

Der EU-Haushalt vereinnahmt jährlich rund 150 Milliarden Euro an Zahlungen der Mitgliedstaaten, die zur Finanzierung europaweiter Förderungen wie der Gemeinsamen Agrarpolitik oder der Wissenschaftsforschung dienen. Unter Nettobeitragszahler versteht man jene Länder, die mehr finanzielle Leistungen in den EU-Haushalt abführen als sie wieder durch Sachförderungen erhalten.

Unter dem Slogan „I want my money back!“, initiiert Premierministerin Thatcher eine Blockadepolitik, die jede weitere Integrationsmaßnahme verhindert, den Europäischen Rat handlungsunfähig macht und somit die Eurosklerose auslöst. Erst durch die Impulse des Kommissionspräsidenten Jacques Delors kommt es zu einer neuen Integrationswelle.

Unter Eurosklerose versteht man eine Krisenphase der europäischen Integration (1973-1984), in der die Mitgliedsstaaten der EWG zunehmend nationale Maßnahmen ergriffen und sich einer tieferen Integration verweigerten.

Im Zuge des Einheitlichen Europäischen Aktes (1987) einigt sich der Europäische Rat auf die Vertiefung des europäischen Binnenmarkts sowie die Ermächtigung der europäischen Organe. In der Akte werden außerdem auch die regelmäßigen Treffen des Europäischen Rats erstmals vertraglich geregelt. Um den endgültigen Status eines EU-Organs in seiner heutigen Form zu erlangen, muss der Europäische Rat aber noch bis zum Vertrag von Lissabon (2007) warten. Im Streben nach stärkerer Einheit und Sichtbarkeit erhält er dann auch einen Präsidenten, den der Rat von nun an mit einer qualifizierten Mehrheit für ein 2,5-jähriges Mandat wählt. Seit 2014 wird dieses Amt vom ehemaligen polnischen Premierminister Donald Tusk ausgeübt.

Der Europäische Rat diente trotz seines inoffiziellen Status als wichtiger Impulsgeber in der voranschreitenden europäischen Integration. Gleichzeitig hat seine Errichtung die Vormachtstellung nationaler Akteure gegenüber föderalen Institutionen verfestigt. Als einflussreichstes Organ ist er heute das pochende machtpolitische Herz der Union.

Der Rat der EU (Ministerrat)

VON MAX SCHACHERMAYER

Der Ministerrat ist die Stimme der nationalen Regierungen in der europäischen Gesetzgebung. Zusammen mit dem Europäischen Parlament verabschiedet er die legislative Agenda der Union.

Ministerrat, Rat der Europäischen Union, Europäischer Rat, Europarat. Wie bitte?

In der EU tagt eine Vielzahl politischer Räte. Alle sind sie Entscheidungsträger. Alle sind sie verschieden. Der mit den römischen Verträgen (1957) gegründete Ministerrat (auch Rat der Europäischen Union, Rat der EU oder einfach nur „Rat“ genannt) ist die Stimme der nationalen Regierungen in der europäischen Gesetzgebung. Anders als der Europäische Rat (das Gremium der 28 Staats- und Regierungschefs) kann der Ministerrat zusammen mit dem Parlament europäische Gesetze erlassen. Nicht zu verwechseln ist der Ministerrat auch mit dem Europarat. Letzterer hat per se nichts mit der Europäischen Union zu tun, sondern ist eine Versammlung von 47 Mitgliedstaaten, die sich der Wahrung der Menschenrechte und der Demokratie widmen.

Aber worum kümmert sich der Ministerrat denn jetzt überhaupt? Zusammen mit dem Europäischen Parlament ist der Ministerrat für die Gesetzgebung in der EU zuständig. Er ist es, der die legislative Agenda prüft, über Gesetzesvorschläge verhandelt und diese verabschiedet. Als sogenannte Staatenkammer repräsentiert der Rat die Interessen der nationalen Staaten im legislativen Prozess und bildet damit ein Gegengewicht zur Bürgerkammer des Europäischen Parlaments. Zusätzlich erlaubt er den Mitgliedstaaten ihre nationale Politik zu koordinieren, die Außen- und Sicherheitspolitik der Union zu entwickeln und internationale Verträge zwischen der Union und Drittstaaten abzuschließen. Da die Regierungen der Mitgliedstaaten demokratisch gewählt sind, spricht man beim Ministerrat von indirekter demokratischer Legitimation.

Alle in Formation!

Der Ministerrat tagt in verschiedenen Ratsformationen, die sich in zehn Bereiche unterteilen. Zu jedem Treffen sendet ein Mitgliedstaat einen zuständigen Vertreter. Meistens ist das ein Minister. So treffen sich bei Landwirtschafts- und Fischereifragen alle jene nationalen Minister, deren Ministerium sich um diese Themenbereiche kümmert. Der Vorsitz der Ratsformationen wechselt halbjährlich zwischen allen 28 Mitgliedstaaten. So hatte Österreich bis zum 31. Dezember 2018 den Ratsvorsitz inne, gerade ist Rumänien an der Reihe, danach folgt Finnland.

Als Ratsformation versteht man die Sitzungen des zuständigen Ministerrats zu unterschiedlichen Themen. Im Dreimonatstakt werden in ihr EU-Gesetze, die in den jeweiligen Aufgabenbereich fallen, geprüft, verabschiedet oder abgelehnt. Es gibt folgende zehn Formationen:

•    Allgemeine Angelegenheiten

•    Auswärtige Angelegenheiten

•    Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz

•    Bildung, Jugend, Kultur und Sport

•    Justiz und Inneres

•    Landwirtschaft und Fischerei

•    Umwelt

•    Verkehr, Telekommunikation und Energie

•    Wettbewerbsfähigkeit

•    Wirtschaft und Finanzen

Eine der Ratsformationen spielt eine besondere Rolle. In der Tagung für „Auswärtige Angelegenheiten“ treffen sich die europäischen Außenminister, um die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu verhandeln. Dazu gehören genauso die Entwicklungshilfe, humanitäre Hilfe sowie die Verteidigungspolitik der Union. Vorsitzender ist aber nicht ein wechselnder Nationalstaat, sondern die Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik (derzeit die Italienerin Federica Mogherini). Sie ist als sogenannte „Außenministerin Europas“ für die Durchführung der „Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik“ (GASP) verantwortlich. Wie der Europäische Rat wurde ihr Amt 2007 im Vertrag von Lissabon geschaffen, um der Politik der EU mehr Geschlossenheit und Sichtbarkeit zu verleihen. Als Vizepräsidentin der Kommission ist sie für die Außenbeziehungen der Union zuständig und soll im internationalen Handeln das Gesicht Europas sein – so ist Federica Mogherini beispielsweise am Verhandlungstisch des Iraner Atomabkommens (2015) zu sehen. Die Hohe Vertreterin wird vom Europäischen Rat ernannt, ihr Amt endet jeweils nach der Europawahl.

Und was ist mit dem Euro? Zusätzlich zu den regulären Versammlungen des Ministerrats beabsichtigen die 19 Länder der Euro-Gruppe, ihre Wirtschaftspolitik noch stärker zu koordinieren. Deshalb treffen sich alle Wirtschafts- und Finanzminister der Eurozone an den Tagen vor der Ratsformation „Wirtschaft und Finanzen“. Ihre Vereinbarungen werden am darauffolgenden Tag im Ministerrat formell beschlossen, wobei allein die Minister des Euro-Währungsraumes über die jeweiligen Themen abstimmen.

Einmal Gesetz mit alles, bitte.

Durch seine Ratsformationen verhandelt und erlässt der Ministerrat EU-Gesetze im Rahmen des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens. Gesetze entstehen nämlich durch das „institutionelle Dreieck“ der EU. Die Europäische Kommission initiiert Gesetzesvorschläge (oft auf Empfehlung des Europäischen Rats) und sendet diese an die beiden legislativen Kammern: das Europäische Parlament und den Ministerrat. Diese können nun dem Gesetzesvorschlag zustimmen, ihn abändern oder grundsätzlich ablehnen. Wenn zum Beispiel das Fangen von Forellen in der EU verboten werden soll, legt die Kommission dem Parlament und dem Rat einen solchen Entwurf vor. Dann wird er von den Ministern der Ratsformation „Landwirtschaft und Fischerei“ öffentlich behandelt. Können sie sich zusammen mit dem Europäischen Parlament auf einen Gesetzestext einigen, wird das Gesetz erlassen. Tada! Ein EU-Gesetz ist entstanden.

Wie sich der Ministerrat einigt, ist eine verzwickte Frage. Das ändert sich nämlich je nach Thema. Heikle Fragen, so wie die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik oder Steuerpolitik, werden nach wie vor einstimmig beschlossen. Einfachere administrative Angelegenheiten werden mit einfacher Mehrheit verabschiedet. Für die meisten Themenbereiche gilt aber die qualifizierte Mehrheit. Ihr Ziel ist es, in der Mehrheitsbildung die Gesamtbevölkerung Europas möglichst umfassend abzubilden und dabei eine Balance zwischen der gleichen Vertretung aller Bürger und der Interessenvertretung kleinerer Staaten herzustellen. Größere Länder haben zwar einen absolut höheren Stimmenanteil: So ist Deutschland mit 29 Stimmen vertreten, Malta aber nur mit drei. In Bezug auf ihre Einwohnerzahl haben kleinere Länder aber relativ mehr Stimmen. So gilt eine deutsche Stimme für rund 2,82 Millionen deutsche Bürger, eine maltesische jedoch nur für 139.000 maltesische Bürger.

Laut der seit 2014 geltenden qualifizierten Mehrheit benötigt ein Gesetzesantrag eine “doppelte Mehrheit”. Um verabschiedet zu werden, braucht es also die Unterstützung von

•    55 % der Mitgliedstaaten (derzeit 16 von 28 Ländern), die

•    mindestens 65 % der EU-Bevölkerung repräsentieren.

Um einen Beschluss zu blockieren, müssen sich zumindest vier Länder, die mindestens 35 Prozent der EU-Gesamtbevölkerung ausmachen, als Sperrminorität zusammenschließen.

Auf der Website des Ministerrats findest du ein Tool, mit dem du selbst testen kannst, welche Koalition eine qualifizierte Mehrheit im Ministerrat erreichen könnte: https://www.consilium.europa.eu/en/council-eu/voting-system/voting-calculator/. Wie einzelne Mitgliedsstaaten bei Gesetzesentwürfen abstimmen, kannst du auch auf votewatch.eu sehen (https://www.votewatch.eu/en/term8-council-latest-votes.html). Tagungen, an denen der Ministerrat als Gesetzgeber tätig wird, sind übrigens öffentlich. Sitzungen kannst du dir via Webcast (https://video.consilium.europa.eu/en/webcasts) im Internet an- und nachsehen.

Demokratisch? Du mich auch!

KOMMENTAR

VON MAX SCHACHERMAYER

Der Europäische Rat und der Ministerrat haben sich als politische Machtzentren der Europäischen Union etabliert. Der Einfluss, den sie nationalen Eigeninteressen gewähren, schadet sowohl der politischen Handlungsfähigkeit als auch der demokratischen Legitimität der Union. Dringend bedarf es ihrer Reform im Sinne des europäischen Gesamtinteresses.

Francesco, Lucia, Viktor und ihre 25 Freunde rudern unter strahlender Sonne den Rhein hinunter, als es plötzlich ruckt. Szabó hat seine Ruder seitwärts abgelegt und sich auf die Bank zurückgelehnt. Die Fahrt sei zu erschöpfend. Er bräuchte eine Pause. Da beklagt Viktor, er habe lange genug auf das Mittagessen gewartet, und schlägt einen scharfen Kurs ans rechte Ufer ein. Theresa hat von der Reise auf einmal genug und springt vergnügt ohne Schwimmweste über Bord. Alles besser als im Boot. Das dreht sich mittlerweile um die eigene Achse. Und so treiben die 28 Freunde dahin, ziellos und den turbulenten Strömungen des Rheins ausgesetzt.

Du bist doch gar nicht europäisch!

Auch im Justus-Lipsius Gebäude wird gerudert. Dort tagt nämlich der Europäische Rat, das Gremium der 28 Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union. Als politisches Leitorgan ist er die mächtigste europäische Institution. Denn er beschließt die strategischen Prioritäten der Union – den Kurs des Ruderboots – die in der Folge von Kommission, Parlament und Ministerrat abgearbeitet werden. Im Gegensatz zur Kommission und dem Parlament ist der Europäische Rat aber ein intergouvernementales Organ. Das bedeutet, dass er sich aus nationalen Vertretern zusammensetzt und vor allem die nationalen Interessen seiner Mitgliedstaaten vertritt. Entscheidungen trifft der Europäische Rat überwiegend im Konsens. Und das ist problematisch. Denn es erlaubt einer Minderheit an nationalen Akteuren, das synchronisierte Rudern zu vereiteln und die gesamteuropäische Agenda zu blockieren.

Zu oft stehen gegensätzliche nationale Interessen einer effektiven und zukunftsorientierten Politik im Sinne ganz Europas im Weg. Das europäische Interesse ist aber weitaus mehr als die Summe seiner nationalen Interessen. Ein Beispiel: Eine zukunftsorientierte und rechtskonforme europäische Asylpolitik würde einen legalen Weg schaffen, durch den Flüchtlinge sicher, human und geordnet nach Europa gelangen beziehungsweise wieder zurückgestellt werden können. Das würde bedeuten, dass Staaten zum Wohle aller einen Teil der Aufgaben übernehmen und sich an gemeinsamen Strategien beteiligen. Die Antwort auf die Flüchtlingskrise 2015 war eine andere. Widerstrebende nationale Alleingänge schufen eine Migrationspolitik, die zwischen ungeordneter Einwanderung und der Schließung nationaler Grenzen schwankte. Diese Uneinigkeit bewirkte sogar eine Außerkraftsetzung der grenzenlosen Personenfreizügigkeit im Schengen-Raum, einer historischen Errungenschaft der europäischen Konstruktion. Sie verhinderte auch die Einführung eines verpflichtenden Verteilungsschlüssels oder gar einer funktionierenden europäischen Asylbehörde. So begrenzen sich heutige Initiativen auf die freiwillige Beteiligung an je zwei Jahre andauernden Resettlement-Programmen, durch die seit Juli 2015 43.700 Flüchtlinge legal in Europa verteilt wurden (Stand 04.12.2018). Das ist eine ernüchternde Summe verglichen mit den ursprünglichen Ambitionen der Kommission sowie der tatsächlichen Anzahl an Syrern, die ein legales Recht auf Schutz hätten. In einem System des Konsens scheitert das Solidaritätsprinzip unweigerlich an der Vorherrschaft nationaler Eigeninteressen. Was bleibt ist eine handlungsunfähige EU.

Ist der Parlamentarismus bedroht?

Auch der Rat der Europäischen Union (umgangssprachlich Ministerrat genannt) wird in seiner derzeitigen Form häufig kritisiert. Gemeinsam mit dem Europäischen Parlament bildet der Ministerrat die Legislative der EU. Das bedeutet, dass er genau wie das Parlament über die Gesetzesvorschläge der Kommission abstimmt. Als intergouvernementales Organ setzt er sich aber aus Ministern nationaler Regierungen zusammen. Regierungsmitglieder steigen also zu Hause als Exekutive ins Flugzeug und in Brüssel als Legislative – also in einer gesetzgebenden Rolle – wieder aus. Dies ist ein offensichtlicher Widerspruch zu allen Grundsätzen der Gewaltenteilung. Und das hat Konsequenzen.

Der Flug nach Brüssel erlaubt es nationalen Ministern nämlich, ihre nationalen Parlamente zu umgehen. Das funktioniert wie folgt: Ein nationales Ministerium, zum Beispiel das deutsche Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft, stellt fest, dass es ein Gesetzesvorhaben auf nationaler Ebene nicht durchsetzen kann, weil ein Kabinettsmitglied Widerstand leistet oder es im Bundestag keine Mehrheit findet. Die Bundesministerin ermutigt daraufhin die zuständige Generaldirektorin der Europäischen Kommission diskret, die Initiative als EU-Gesetz vorzuschlagen. Das Gesetzesvorhaben durchläuft dann den üblichen Gesetzgebungsprozess von der Kommission bis zum Parlament und landet schlussendlich beim Ministerrat. Dort entscheidet aber genau das deutsche Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft mit seinen 27 europäischen Ministeriumskollegen. Mit einer qualifizierten Mehrheit wird das Vorhaben EU-Gesetz. Was auf nationaler Ebene nicht umsetzbar ist, wird einfach über den Umweg in Brüssel entschieden. Jetzt sogar europaweit.

Wie dominant ist die Europäisierung nationaler Gesetzgebung? Das ist schwer festzustellen, da die Rolle der EU stark nach Sachbereichen variiert. Eine Studie der deutschen Politikwissenschaftlerin und Professorin Annette Elisabeth Töller untersuchte den Anteil der deutschen Bundesgesetze, die 2005 bis 2013 auf einen Impuls aus Brüssel zurückzuführen waren. Zwar unterscheiden sich die Europäisierungswerte je nach Politikfeld, aber unter Hinzurechnung europäischer Verordnungen kommt man in der Agrar- und Umweltpolitik beispielsweise auf Werte von rund 80 Prozent. Dass also teilweise mehr als die Hälfte aller Gesetze über einen Weg entstehen, der eine fehlende Gewaltentrennung vorweist, ist ein bedrückender Beleg des demokratischen Defizits der Europäischen Union.

Falsch wäre es hier jedoch die Schuld einem scheinbar immer stärkeren Brüsseler Apparat zuzuschreiben. Problematisch ist nicht die EU per se, sondern jene Strukturen, die es, nationalen Regierungen durch den Umweg über ihre Ministerien erlauben, den Parlamentarismus zu umgehen. Denn im EU-Gesetzgebungsverfahren muss sich das Europäische Parlament als Bürgervertretung gegenüber dem Ministerrat behaupten. Währenddessen werden die Kompetenzen nationaler Parlamente ausgehöhlt. Der Parlamentarismus leidet; die demokratische Legitimität bröckelt. Dabei verlieren vor allem die europäischen Bürger.

Vive la démocratie!

Was tun? Reformieren. Das Einzigartige an der europäischen Konstruktion war schon immer ihre Fähigkeit, sich an die Bedürfnisse ihrer Zeit anzupassen und Visionen zu verwirklichen. Der Europäische Rat wurde erst vor zwölf Jahren mit dem Vertrag von Lissabon zum offiziellen europäischen Organ. Da waren die meisten von uns Jungwählern schon in der Schule. Nach der Eurokrise, der Flüchtlingskrise und dem Brexit-Votum steht Europa wieder vor einem Schicksalsmoment. Wann Neuausrichtung, wenn nicht jetzt?

Eine zukunftsorientierte Reform der europäischen Institutionen muss es ihnen erlauben, solidarische und demokratisch legitimierte Beschlüsse im Sinne der gesamten europäischen Bevölkerung zu treffen. In der Politik kommt es unweigerlich zu Interessengegensätzen. Eine Institution, die durch die Diktatur einer Minderheit in den Stillstand gerät, ist weder handlungsfähig noch demokratisch. Genau deshalb muss eine funktionierende Union den Willen der Mehrheit in der Entscheidungsfindung beachten. Konkret braucht es eine Reform des Europäischen Rates mit der Abkehr von der Einstimmigkeit und der Einführung einer qualifizierten Mehrheit, wenn nicht sogar seine Abschaffung zugunsten der Kommission wünschenswert wäre. Die simultane Aufwertung des Europäischen Parlaments durch ein Initiativrecht sowie die Direktwahl aller Abgeordneten auf transnationalen Listen würde gleichzeitig das demokratische Mandat der Union stärken.

Auch der unrechtmäßigen Ausgliederung von Entscheidungsprozessen auf bürgerferne Schienen muss Einhalt geboten werden. Eine Ausreifung der europäischen Legislative mit zwei Kammern würde die problematische Zwitterstellung des Ministerrats beheben. Zwar würde eine Staatenkammer nach wie vor die Vertretung nationaler Interessen sicherstellen, aber ihre Vertreter wären von nationalen Parlamenten entsandt, was eine Verletzung der Gewaltenteilung verhindern würde. Das alles bedeutet nicht unbedingt „mehr Europa“; eine Veränderung der Besetzungen lässt die Kompetenzen der betroffenen Organe unberührt.

Die strukturellen Probleme der Europäischen Union sind nicht durch zu viel oder zu wenig europäische Integration begründet. Sie sind Symptom einer falschen Integration: jener der nationalen Vorherrschaft auf Kosten der Solidarität und jener der legislativen Zentralisierung zuungunsten des nationalen Parlamentarismus. Viktor und seinen Freunden täte es gut, noch weiter bis ins alte Griechenland zu rudern. Was Europa nämlich wirklich braucht, ist mehr Demokratie.