Die Schaltzentrale Europas

VON JOSEF HUBER

Was haben Gurken, Bürokratie und der Frieden auf dem europäischen Kontinent gemeinsam? Sie alle haben mit der EU-Kommission zu tun. Manche sehen sie als bürokratisches Monster, andere als effiziente Exekutive. Die Europäische Kommission ist das Zentrum der EU-Administration und jene europäische Institution, von der ein Großteil aller EU-Gesetze ausgehen.

Von neuen Regelungen für den Europäischen Binnenmarkt bis hin zu Vorschlägen zur Lösung der Flüchtlingskrise – die Kommission mit ihren (zurzeit) 28 Kommissaren hat höchstwahrscheinlich ihre Finger im Spiel. Sie beschäftigt eine Heerschar an Beamten und internationalen Fachexperten, die sich täglich mit einer immer noch größeren Zahl von Problemen und Krisen auseinandersetzen. Sie trägt enorme Verantwortung: Es geht schließlich um die Entstehung und Einhaltung von Gesetzen, die das tägliche Leben von mehr als 500 Millionen EU-Bürgern beeinflussen. Sie steht unter ständiger Beobachtung durch Medien und Mitgliedstaaten und muss hin und wieder auch als Sündenbock für nationale Politiker herhalten. Doch wofür ist die Kommission eigentlich wirklich verantwortlich? Ist sie eher eine undurchsichtige Ersatzregierung oder ein umsichtiges Expertengremium?

Von der Hohen Behörde zur Hüterin der Verträge

Die Geschichte der Europäischen Union, und damit auch jene der Europäischen Kommission, beginnt 1950 mit der Initiative des französischen Außenministers Robert Schuman. Mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS oder auch Montanunion genannt) durch den Pariser Vertrag (1951) verknüpfen Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande nicht nur ihre nationalen Kohle-, Stahl- und damit auch Waffenindustrien, sondern ebenso ihre wirtschaftlichen und politischen Interessen. Die sechs Gründerstaaten ziehen damit ihre Lehre aus zwei Weltkriegen. Kein Krieg mehr auf europäischem Boden. Nationale Egoismen sollen eingedämmt und durch stabile, partnerschaftliche Beziehungen ersetzt werden.

Hohe Behörde, große Bedenken

Im Zuge dieser Entwicklungen entsteht die Hohe Behörde als Exekutive der EGKS und ist damit die erste supranationale (überstaatliche) Institution auf europäischem Boden. Schumans Idee einer überstaatlichen Behörde wurde allerdings nur bedingt umgesetzt: Die Macht und Kompetenzen der Hohen Behörde wurden stark beschränkt. Zu groß waren die Bedenken der einzelnen Mitgliedstaaten, die um ihre nationale Souveränität fürchteten.

Mit den Römischen Verträgen im Jahr 1957 entstehen neben der EGKS zwei weitere europäische Organisationen: Einerseits die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), die mit der geplanten Abschaffung der Zollschranken und freiem Personen- und Güterverkehr die Grundlage für den europäischen Binnenmarkt schafft. Andererseits die Europäische Atombehörde (EURATOM), die die zivile Nutzung von Atomenergie regeln soll. Das Projekt ist erfolgreich: Es dauert nicht lange, bis weitere europäische Staaten ihr Interesse an einer Mitgliedschaft in der EWG signalisieren.

1967 werden diese Organisationen zur Europäischen Gemeinschaft vereint. Der Grundstein der Europäischen Kommission als überstaatliches Exekutivorgan ist gelegt, wenn auch zunächst mit stark beschränkten Kompetenzen, vor allem aber dem exklusiven Recht, Gesetzesvorschläge zu machen. Erst 1993, als mit dem Vertrag von Maastricht aus der Europäischen Gemeinschaft die Europäische Union wird, wird die EU-Kommission auch zur „Hüterin der Verträge“, wie wir sie heute kennen.

Die Aufgaben der Europäischen Kommission

Die Kommission initiiert neue Gesetze, erstellt Vorschläge für das Budget der EU und kontrolliert seine Einhaltung, und überwacht die Einhaltung europäischer Vorschriften. Außerdem repräsentiert die Kommission die Europäische Union in internationalen Angelegenheiten, zum Beispiel bei der WTO. Sie vertritt dabei nicht die Interessen einzelner EU-Mitgliedstaaten, sondern die Europäische Union als Gesamtheit.

Ein EU-Gesetz entsteht

Die wohl wichtigste Aufgabe der Europäischen Kommission ist ihre Rolle in der europäischen Gesetzgebung. Die Kommission besitzt das exklusive Initiativrecht für die Legislative in der Europäischen Union. Sie kann damit bestimmen, welche Gesetzesvorschläge diskutiert werden und das politische Geschehen in andere Bahnen lenken. In der Praxis kann auch das Parlament der Kommission Gesetzesinitiativen vorschlagen, ihr steht es aber frei, diese aufzugreifen oder nicht.

In der Gesetzgebung der Europäischen Union unterscheidet man zwischen Richtlinien und Verordnungen. Richtlinien sind Vorgaben, die binnen einer vorgegebenen Frist von den Mitgliedstaaten im nationalen Recht umgesetzt werden müssen. Verordnungen hingegen gelten als EU-Gesetze direkt. Will die Kommission eine besonders wichtige neue Richtlinie oder Verordnung initiieren, so findet im Vorfeld ein breiter Konsultationsprozess statt, an dem sich jeder Bürger beteiligen kann. Für größere Initiativen wird zunächst ein sogenanntes Grünbuch veröffentlicht, ein Dokument, das in den Mitgliedstaaten eine öffentliche und wissenschaftliche Debatte zu dem Thema anregen soll. Die Ergebnisse dieses Prozesses werden in einem Weißbuch veröffentlicht, das bereits die politischen Schlussfolgerungen aus der öffentlichen Debatte enthält. Ein Beispiel dafür ist das „Weißbuch zur Zukunft Europas“, das 2017 erschien und fünf verschiedene Szenarien für die Weiterentwicklung der Europäischen Union skizziert.

Aktion – Reaktion

Nachdem die Kommission einen Gesetzesvorschlag gemacht hat, wird er dem EU-Parlament und dem Ministerrat zur Prüfung, Abänderung und Abstimmung vorgelegt. Bevor ein Vorschlag zum EU-Gesetz wird, müssen sich das Parlament und der Rat auf den Text einigen. Auch den nationalen Parlamenten wird jeder neue Gesetzesvorschlag vorgelegt. Diese können dann auf den Gesetzestext reagieren und kontrollieren, ob die Europäische Union in diesem Bereich überhaupt Gesetze erlassen darf.

Subsidiarität: Bis hierher, und nicht weiter!

Neue Gesetze, die die EU-Kommission vorschlägt, müssen aus den europäischen Verträgen ableitbar sein, bestimmte Kriterien und das durch den Vertrag von Lissabon gestärkte Subsidiaritätsprinzip und Verhältnismäßigkeitsprinzip erfüllen. Nach diesem Prinzip kann die Kommission nur Gesetze vorschlagen, die im Interesse der EU-Bürger sind und auf nationaler Ebene nicht zielführend sind. Mit anderen Worten: Es muss ein europäischer Mehrwert entstehen.

EU-Kritiker argumentieren oft, dass die Kommission sich zu oft in nationale Belange einmische und nicht ausreichend subsidiär agiere. Seit dem Vertrag von Lissabon gibt es allerdings Möglichkeiten, um dem entgegenzuwirken. Sollte ein Drittel aller nationalen Parlamente befinden, dass ein Gesetzesvorschlag der Kommission das Subsidiaritätsprinzip verletzt, so muss sie auf diesen Vorwurf reagieren und Änderungen vornehmen. Für bereits bestehende Gesetze ist im Extremfall sogar eine Klage beim Europäischen Gerichtshof möglich. Sollte dieser den Mitgliedstaaten recht geben, so wird ein Gesetz nachträglich aufgehoben.

Das erste Beschwerdeverfahren, eine sogenannte gelbe Karte, wurde 2012 gegen eine geplante Verordnung zum Streikrecht ausgelöst. 12 von 40 Parlamenten oder Parlamentskammern sahen das Subsidiaritätsprinzip durch das Gesetz verletzt und beschwerten sich bei der EU-Kommission. Dies führte letztendlich dazu, dass die Kommission ihren Vorschlag zurückzog.

Bei nationalen Beschwerden fehlt allerdings die rechtliche Verbindlichkeit für die Kommission: Einzelne Nationale Parlamente können zwar Einwände einbringen, Gesetzesvorschläge aber nicht gänzlich blockieren, wie es der britische Premierminister Cameron vor dem Brexit einmal gefordert hatte.

Österreich

Obwohl beide Kammern des Österreichischen Parlamentes theoretisch das Recht zu einer Stellungnahme haben, gingen in den letzten Jahren ausschließlich Beschwerden vonseiten des Bundesrates bei der Europäischen Kommission ein. Der Nationalrat hat von seinem Recht bisher nie Gebrauch gemacht.

Deutschland

Auch der Deutsche Bundestag und der Bundesrat haben das Recht einer begründeten Stellungnahme. Für den Bundesrat, in dem die deutschen Bundesländer repräsentiert sind, ist dafür der Europaausschuss verantwortlich, für den Bundestag der „Ausschuss für Angelegenheiten der Europäischen Union“. Der EU-Ausschuss des Bundestags besteht aus 34 Parlamentariern und wird von deutschen Abgeordneten aus dem EU-Parlament beraten.

Etwa im Bereich des Klimaschutzes oder des Europäischen Binnenmarkts macht es aber Sinn, nicht auf nationaler Ebene zu handeln: Beide Bereiche erfordern kollektive Anstrengungen, um Reformen durchzusetzen oder die Umwelt vor irreversiblen Schäden zu schützen. Nationale Alleingänge verhindern in diesen Fragen gemeinsame Projekte und behindern bessere Ergebnisse. Nur gemeinsam, also auf supranationaler Ebene, kann man vorteilhafte Lösungen finden. Wo die lokale oder nationale Politik und Rechtsprechung also ein Problem nicht lösen kann, ist die nächsthöhere, also die europäische, Instanz gefragt. Wo diese Grenze genau zu ziehen ist, ist eine Frage, die sehr unterschiedlich beantwortet wird.

Die Hüterin der Gesetze

Gesetzesvorschläge zu machen stellt jedoch nicht die einzige Kompetenz der Kommission dar. Als „Hüterin der Verträge“ kontrolliert die Kommission auch die Umsetzung der europäischen Gesetze. Werden Vorschriften nicht ordnungsgemäß eingehalten, so kann die Kommission dagegen Sanktionen ergreifen und gegen einzelne Mitgliedstaaten oder Unternehmen beim Europäischen Gerichtshof klagen.

Beispielsweise klagte die Kommission im September 2018 Polen vor dem Europäischen Gerichtshof, nachdem die Regierung mithilfe einer neuen Altersgrenze zahlreiche Richter am Verfassungsgericht absetzen wollte. Der Europäische Gerichtshof gab der Kommission Recht und forderte Polen auf, das neue Gesetz rückgängig zu machen und die entlassenen Richter wieder einzustellen.

Die Kommission und der EU-Haushalt

Der europäische Haushalt kommt in zwei Phasen zustande. Alle sieben Jahre wird ein mittelfristiger Finanzplan erstellt und innerhalb dieses vorgegebenen Rahmens müssen dann die jährlichen Budgets verabschiedet werden. Für den mehrjährigen Finanzplan macht die Kommission zunächst einen Vorschlag, dieser wird von Parlament und Rat beraten, braucht jedoch für die Beschlussfassung am Ende ein einstimmiges Votum der Regierungschefs.

Das jährlich bestimmte Budget spiegelt die politische Agenda der Kommission wider: Knapp die Hälfte des Budgets wird für die Strukturpolitik und Forschungsförderung eingesetzt. Fast 40 Prozent werden für Agrarpolitik und Ländliche Entwicklung aufgewendet. Der Rest steht der Jugendförderung (wie Erasmus), der Verwaltung, den Sicherheitsressorts und der Entwicklungszusammenarbeit zu.

Als Nettozahler trägt beispielsweise Deutschland mehr zum EU-Budget bei als es von der EU erhält: Während Deutschland 2018 knapp 24 Milliarden Euro zum EU-Etat beitrug, bekam es ungefähr die Hälfte von der EU zurück. Auch Österreich zahlte 2018 circa 2,5 Milliarden Euro ein und erhielt etwa zwei Drittel zurück. Das bedeutet jedoch nicht, dass die EU-Mitgliedschaft Österreich und Deutschland schadeten. Als Exportnationen haben Deutschland und Österreich besonders vom Zugang zum europäischen Binnenmarkt, der Angleichung der Standards, der Personenfreizügigkeit und anderen Errungenschaften profitiert.

Eins zu Sechzehntausend: Wie funktioniert die Kommission?

Ungefähr 32.000 Beamte arbeiten für die EU-Kommission. Doch vergleichsweise hat die Stadt Wien doppelt so viele Beschäftigte. Das klingt zunächst nach viel. Allerdings wird diese Zahl recht schnell relativiert, wenn man sich die Bevölkerungszahlen der EU ansieht. Die Kommission ist für ca. 510 Millionen EU-Bürger verantwortlich. Damit entfällt ca. ein Beamter auf 16.000 Bürger. Außerdem ist ein wesentlicher Teil aller Beamten der Kommission für Übersetzungen zuständig: Schließlich wollen die EU-Bürger Zugang zu öffentlichen Dokumenten, Interviews und Meetings der Kommission in allen 24 Amtssprachen der EU haben.

Die politische Führung der Kommission übernimmt ihr Präsident, derzeit Jean-Claude Juncker, der einem Kollegium aus 27 Kommissaren vorsteht. Jedes Mitgliedsland entsendet einen Kommissar, der für je einen Themenbereich zuständig ist. So gibt es etwa einen Kommissar für Haushalt und Personal (derzeit der Deutsche Günther Oettinger), einen Kommissar für Nachbarschaftspolitik (derzeit der Österreicher Johannes Hahn), eine Kommissarin für Handel (derzeit die Schwedin Cecilia Malmström), einen Kommissar für Wirtschaft und Finanzen (derzeit der Franzose Pierre Moscovici) und für viele weitere Themen wie Energie, Soziales, Klima und Digitalisierung. Innerhalb der Kommission agieren die Kommissare als Entscheidungsträger. So entwickeln sie zum Beispiel zusammen mit ihren Teams neue Gesetze oder treffen Entscheidungen zur Strategie der EU-Kommission. Eigentlich wäre im Lissabonvertrag vorgesehen, dass nicht mehr jedes Mitgliedsland einen Kommissar entsendet, aber jedes Mitgliedsland über ein Rotationsverfahren längerfristig immer wieder zum Zug kommt. Nach Beschluss der Regierungschefs wird jedoch von dieser Möglichkeit zurzeit kein Gebrauch gemacht.

Neben dem Kollegium gliedert sich die Kommission in verschiedene politische Themenbereiche, die insgesamt 31 Generaldirektionen zugeordnet sind. Beispielsweise gibt es eine Generaldirektion für Fischerei, Haushalt und Finanzen. Die Generaldirektionen sind in ihrer Funktionsweise mit Ministerien in den EU-Mitgliedstaaten vergleichbar und werden von Generaldirektoren geleitet.

Administrative Themen werden von anderen Dienststellen behandelt. Beamte, die in den Generaldirektionen arbeiten, sind größtenteils dauerhaft beschäftigte Beamte und werden, anders als die Teams der Kommissare, nicht mit jeder Legislaturperiode ausgetauscht.

Ist die Europäische Kommission demokratisch legitimiert?  

Die Führung der Kommission wird alle fünf Jahre neu besetzt. Der Europäische Rat, bestehend aus den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten, nominiert zunächst formell einen Kandidaten für den Kommissionspräsidenten, der dann sein Team der übrigen 27 Kommissare zusammenstellt. Anschließend müssen sich die Kommissare einem Hearing im EU-Parlament stellen und geschlossen durch das EU-Parlament bestätigt werden.

Für die Wahl des Kommissionspräsidenten trat allerdings 2009 mit dem Vertrag von Lissabon eine Bestimmung in Kraft, die vorsieht, dass der Europäische Rat in seiner Nominierung das Ergebnis der Europäischen Parlamentswahlen in Betracht zu ziehen hat. Aus dieser Vorgabe entstand die Debatte um den sogenannten Spitzenkandidaten, die den einzelnen Fraktionen des Europäischen Parlaments die Möglichkeit geben soll, ihren Spitzenkandidaten für den Präsidenten der Kommission vorzuschlagen. Nach diesem Prinzip hätte dann die stärkste Fraktion im Europäischen Parlament das Recht, den Kommissionspräsidenten zu stellen. Die Idee: Ein Spitzenkandidat pro Fraktion könnte zu einem europäischen Wahlkampf mit europäischen Kampagnen – statt der individuellen, nationalen Kampagnen in den Mitgliedstaaten – führen. Der Vertrag von Lissabon erwähnt diesen Prozess jedoch nicht explizit und so bleibt das Prinzip ein Wunsch des Parlaments. 

Bei der diesjährigen Wahl treten alle großen Fraktionen im Europaparlament mit eigenen Spitzenkandidaten an. Favorit auf das Amt des Kommissionspräsidenten wäre damit der Kandidat der EVP, Manfred Weber. 

Red Tape und Gurken: Wie politisch darf es sein?

Beamtensumpf und technokratische Wahnvorstellungen. Die Kommission wird nicht zuletzt für überbordende Bürokratie und grobe Ineffizienz kritisiert. Ein besonders beliebtes Beispiel unter EU-Gegnern ist die in der Zwischenzeit aufgehobene Gurkenverordnung, die Gurken je nach Krümmung unterschiedlich klassifiziert.  Produzenten und der Handel halten sich dennoch nach wie vor an die Vorgaben, weil es den Handel erleichtert.

Die Gurkenverordnung ist nur ein Beispiel für das, was Kritiker für die Auswüchse eines überbordenden Regulierungswahns halten. Die EU-Kommission sei bürokratisch, undemokratisch und könne nicht zur Rechenschaft gezogen werden.

Jean-Claude Juncker versucht Vorwürfen mit transparenten Prioritäten seiner politischen Anliegen zu begegnen: Außerdem sollten die neu eingeführten Bürgerinitiativen mehr Mitbestimmung ermöglichen. Die Hürde von einer Millionen Unterschriften ist allerdings hoch.

Die Kommission ist ein Grundpfeiler der europäischen Politik. Sie entwirft alle EU-Gesetze, wacht über deren Einhaltung und vertritt die Interessen der EU nach außen. Bei dieser Europawahl stimmst Du nicht zuletzt darüber ab, welchen Weg die Kommission zukünftig einschlagen soll.

Keine legitime Kommission ohne eine EU-Verfassung

KOMMENTAR

VON MERLIN KRZEMIEN

Die EU-Kommission wird zuweilen als elitär, übermäßig bürokratisch und vor allem undemokratisch wahrgenommen. Das hängt in erster Linie mit ihrer Abhängigkeit von den Regierungen der Mitgliedstaaten und einem Mangel direkter demokratischer Legitimation zusammen. Ohne eine eigene EU-Verfassung wird sich das auch nicht ändern.

Seit dem Vertrag von Lissabon im Jahr 2009, und spätestens seit der Ernennung Jean-Claude Junckers zum Kommissionspräsidenten im Jahr 2014, erfüllt die EU-Kommission in Europa zunehmend die Rolle einer Regierung. Ihre Aufgaben und Befugnisse sind weitreichend: Sie setzt Europarecht um und durch, hat das alleinige Initiativrecht in der europäischen Gesetzgebung und kontrolliert die Mitgliedstaaten auf die Einhaltung vertraglicher Pflichten. Darüber hinaus vertritt die Kommission die EU-Staaten vermehrt auf der internationalen Bühne, verwaltet einen stetig wachsenden Haushalt und treibt die europäische Integration tatkräftig voran, indem sie unter anderem für eine Stärkung der Eurozone plädiert.

Die EU-Kommission kann als einziges EU-Organ dem Europäischen Rat und dem Europäischen Parlament neue Gesetze vorschlagen.

Aufgrund ihres wachsenden Einflusses kommen immer häufiger Fragen zur Legitimation der EU-Kommission auf: Was, oder besser, wer berechtigt Brüssel, Politik für ganz Europa zu machen? Wie sollten die Machtverhältnisse zwischen der EU und den nationalen Regierungen aussehen? Ist die Kommission überhaupt für ihre Arbeit qualifiziert?

Die Ursachen für ihr Demokratiedefizit sind die Stärke der nationalen Regierungen und das Fehlen einer EU-Verfassung. Ohne diese – und damit auch ohne eine echte gesamteuropäische Demokratie – kann es auch keine legitime EU-Kommission in ihrer heutigen Form geben.

Rechtliche Grundlagen

Die EU-Kommission ist rechtlich im europäischen Primärrecht verankert, das maßgeblich aus den Verträgen von Maastricht und Lissabon besteht. Eine eigene Verfassung hat die EU nicht – ein entsprechender Versuch wurde 2005 in Referenden in Frankreich und den Niederlanden abgeschmettert.

Aus diesem Grund hat die EU-Kommission einen sehr viel schwächeren Stand als nationale Regierungen: Beim Primärrecht handelt es sich genau genommen nur um völkerrechtliche Verträge zwischen den Mitgliedstaaten. Nationalstaaten haben üblicherweise eine Verfassung, die demokratisch bestätigt ist – das europäische Primärrecht dagegen kommt nicht aus der europäischen Bevölkerung, sondern von den nationalen Regierungen.

Das ist problematisch. Verfassungen schützen die Bürger, indem sie dem Staat klare Grenzen vorgeben. Ein guter Teil dieser Sicherheit kommt daher, dass eine Regierung die Verfassung nicht einfach verändern kann – es bräuchte große Mehrheiten im Parlament oder sogar die Zustimmung der Bevölkerung. Die europäischen Verträge dagegen sind von den Regierungen der EU-Staaten verhandelt worden. Sie sind völkerrechtlich legitim, aber nicht direkt demokratisch bestätigt. Was die EU-Kommission darf und nicht darf, bestimmen also die nationalen Regierungen und nicht die europäische Bevölkerung.

Die Rolle der Regierungen

Dass die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten ihre starke Position halten, kommt nicht von ungefähr. Viele Bürger fürchten einen Kontrollverlust des Nationalstaats, wenn zu viele Aufgaben an die Kommission abgegeben werden, und sprechen sich deshalb dagegen aus. Beispiele wie Katalonien und Schottland, beides Regionen, die seit Jahrzehnten die Unabhängigkeit anstreben, zeigen das Unbehagen von Bevölkerungsgruppen, die sich von ihrer Zentralregierung missverstanden fühlen. Sie argumentieren, dass durch sprachliche, traditionelle und gesellschaftliche Eigenheiten individuelle Bedürfnisse entstehen, auf die nur eine Regierung in ihrer Region Antworten finden kann. In der EU mit ihren 24 Amtssprachen, diversen Kulturen, Ethnien und Religionen, aber auch widersprüchlichen Volkswirtschaften, Gesellschaftsprofilen und eigenen politischen Traditionen ist diese Sorge durchaus berechtigt.

Die Folge dieses Dilemmas ist ein Demokratiedefizit der Exekutive. Mit der engen Beziehung der Kommission zu den Nationalregierungen geht eine relative Schwäche des Europaparlaments einher. Zwar muss das EU-Parlament die Kommission bestätigen, aber die Ernennung des Präsidenten sowie die genaue personelle Aufstellung der Kommission bleibt dem Europäischen Rat, also den nationalen Regierungen vorbehalten. Außerdem ist das Europaparlament auch im Gesetzgebungsverfahren eingeschränkt, denn das alleinige Initiativrecht behält die Kommission. Und in ihrer Angewiesenheit auf die Zustimmung der Regierungen muss sie ihre Politik nach deren Interessen ausrichten. Selbst wenn die Interessen der europäischen Bevölkerung als Ganzes vielleicht woanders lägen.

Historisch war das durchaus so gedacht: Die Organe der EU und vor allem die Kommission sollten den nationalen Regierungen keine Konkurrenz machen. Die EU-Kommission wurde als technokratische Behörde entworfen, die den Regierungen die Verwaltung der EU abnimmt, aber unpolitisch bleiben sollte. Heute ist die EU-Kommission zweifelsfrei eine politische Institution: Präsident und Kommissare sind Berufspolitiker und Parteimitglieder (z.B. war Jean-Claude Juncker früher sogar Regierungschef von Luxemburg), europäische Fraktionen nominieren Spitzenkandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten und Brüssel gestaltet wichtige Gesetze für Europa. Die EU-Kommission kann heute viel mehr als noch im 20. Jahrhundert – sie wird nach und nach zur Regierung. Und in einer Demokratie sollte eine Regierung von ihrer Bevölkerung legitimiert sein.

Eine EU-Verfassung?

Ein möglicher Weg wäre also, das europäische System weiter zu demokratisieren und den Einfluss der nationalen Regierungen auf die Kommission zu beschränken. Dafür gäbe es ein mächtiges Mittel: eine EU-Verfassung, durch die die Kommission nicht mehr auf die Zustimmung der Mitgliedstaaten, sondern der europäischen Bevölkerung gegründet wäre. Das wäre für die Wähler kein Kontrollverlust – im Gegenteil, so wäre die EU-Kommission gezwungen, genauer hinzuhören und frei von der direkten Kontrolle nationaler Regierungen im Interesse der Bevölkerung zu handeln.

Denn die EU kann und wird in unzähligen Bereichen viel bewirken. In Fragen der Wirtschaftspolitik bis zum Umweltschutz, von der Verteidigung bis zur Steuerhinterziehung eignet sie sich ohne Zweifel besser als kleine Nationalstaaten. Umso wichtiger, dass EU-Bürger kontrollieren können, was ihre Kommission tut.

Diese Vorteile der EU sollten die angesprochenen Probleme der Demokratie aber nicht überdecken. Falls wir uns weiter auf die EU verlassen wollen, müssen wir sie direkter legitimieren. Das bedeutet zuerst, den europäischen Diskurs zu verstärken, die Bürger einzubeziehen und die EU zugänglicher zu machen. Die Kommission muss vor allem der Bevölkerung verantwortlich sein, nicht den nationalen Regierungen. Weitere große Reformen Europas sollten auf dieser Grundlage aufbauen.