Die Ethik der Grenze

Ein Zwiegespräch

VON BERTRAM RANFTL UND LAURA MANDELLI

Zur Migration ist alles gesagt? Versuchen wir’s mal anders. Eine grundlegende Debatte über die staatliche Praxis, seine Grenzen zu schützen. Hoffentlich mit überraschenden Erkenntnissen.

Gewalt, Verfolgung und mangelnde ökonomische Perspektiven veranlassen Millionen von Menschen, ihr Zuhause aufzugeben und sich auf die Suche nach einem besseren Leben zu machen. Die Frage, inwieweit wohlhabende Staaten dazu verpflichtet sind, Migranten aufzunehmen, ist eine der drängendsten ethischen Herausforderungen unserer Zeit. Dieses freundschaftliche Streitgespräch soll einen Überblick über die unterschiedlichen moralischen Positionen zur Migration liefern und den Leser herausfordern, seine eigenen Überzeugungen zu überdenken. Es soll ausdrücklich nicht um konkrete, tagespolitische Fragen gehen, damit wir uns ganz auf die zugrundeliegenden Probleme konzentrieren können: Können Staaten wirklich frei darüber entscheiden, wen sie aufnehmen und wen nicht? Haben sie überhaupt das Recht, ein Territorium für sich in Anspruch zu nehmen und andere am Grenzübertritt zu hindern? Ist das mit den Prinzipien von Freiheit und Gleichheit vereinbar?

„Ich habe versucht, dafür zu argumentieren, dass es kein allgemeines Recht auf Migration gibt“

Bertram Ranftl

„Ich habe gezeigt, dass sich die staatliche Hoheit über seine Grenzen nicht aus den Werten der Freiheit und Gleichheit heraus begründen lässt.“

Laura Mandelli

Bevor wir uns an die Migration wagen, müssen wir erst klären, wie der Staat überhaupt territoriale Rechte begründen kann, die es ihm erlauben, zu entscheiden, was auf dem von ihm kontrollierten Territorium legal ist und was nicht, und dieses Gesetz notfalls mit Zwang durchzusetzen. Um diese Fragen beantworten zu können, müssen wir dieselbe in zwei weitere Fragen aufspalten.

Erstens: Wie kann der Staat überhaupt und allgemein das Recht haben, Gesetze innerhalb des von ihm kontrollierten Territoriums durchzusetzen?
Zweitens: Warum darf dieser Staat innerhalb ausgerechnet dieses Territoriums politische Autorität ausüben?

Bertram Ranftl

Zur ersten Frage kann man ein utilitaristisches Argument ins Feld führen: Die Aufgaben moderner Staaten könnten heute nicht genügend erfüllt werden, wenn der Staat keine Kontrolle über ein bestimmtes Territorium innehätte. Diese Autorität ermöglicht es den Menschen, zu wissen, welche Regeln an welchem Ort für sie gelten. Das wiederum ermöglicht zentrale Bestandteile unseres Zusammenlebens, die ohne diese Gewissheit schwierig, wenn nicht gar unausführbar wären.

Utilitarismus ist eine ethische Theorie. Sie besagt, dass ein Akt dann gut ist, wenn er zum größeren Gesamtglück auf der Welt beiträgt.

Wenn Menschen nicht wüssten, welchem Vertragsrecht, Arbeitsrecht und so weiter sie unterworfen sind, wäre Wirtschaften in der heutigen Form nicht möglich. Indes kann der Staat selbst einer Reihe von Tätigkeiten nachgehen (Errichtung von Infrastruktur, Erstellung von Plänen zur Raumnutzung, Umweltschutz, etc.), die ohne klar definierte geographische Grenzen nicht möglich wären. Unter der Voraussetzung, dass diese Umstände dem Gemeinwohl zuträglich sind, was wohl kaum anzuzweifeln ist, sei hiermit der erste Beweis für die Notwendigkeit staatlicher Autorität innerhalb eines bestimmten Territoriums erbracht.

Man gelangt wohl auch zu demselben Schluss, wenn man sich überlegt, wie das Zusammenleben zweier Gemeinschaften auf dem gleichen Territorium aussähe, die jeweils einer anderen politischen Autorität unterworfen wären. Diese Art des Zusammenlebens war im frühen Mittelalter in Teilen Europas Usus. Jeder führte sein Leben entsprechend dem Gewohnheitsrecht der jeweiligen Gemeinschaft, zu der er zählte und führte dieses Recht mit sich, wohin er auch ging. Das Resultat war mehr als chaotisch. Übertragen auf die heutige Zeit kann man sich kaum ausmalen, wie der Straßenbau geregelt, Umweltverschmutzungen reguliert, Rechtsstreitigkeiten zwischen Angehörigen verschiedener Gemeinschaften geklärt werden sollen. Es fällt leicht, zu sehen, wie willkürlich und unberechenbar ein solches System wäre und wie sehr die Vorteile eines einheitlichen Gesetzesrahmens, der innerhalb eines bestimmten Territoriums Anwendung findet – kurzum, die Vorteile eines Territorialstaates – überwiegen.

Laura Mandelli

Das Argument vom Gemeinwohl durch die Territorialstaaten leuchtet deshalb so intuitiv ein, weil wir keine andere Welt als die der Territorialstaaten kennen und es uns diesseits der Grenzen insgesamt recht gut ergeht. Doch sollten wir nicht der Versuchung erliegen, historisch Gewachsenes als unvermeidlich oder gar bestmöglich zu begreifen. Die Welt könnte sehr wohl eine andere sein.

Dass ein Staat ein Territorium für sich in Anspruch nehmen muss und jedes Territorium aus praktischen Gründen nur von einem einzelnen Staat regiert werden sollte, ist offensichtlich. Doch Staaten sind nicht im Vakuum entstanden. Man betrachte die Verdrängung der indigenen Amerikaner durch europäische Siedler: Um ihr neues Territorium abzustecken, mussten die Neuankömmlinge die bestehenden Strukturen und mit ihnen die ortsansässige Bevölkerung vernichten. Der daraus erblühende amerikanische Staat hat ohne Zweifel Abermillionen Wohlstand und ein zufriedenes Leben beschert, gründete jedoch auf der gewaltsamen Inbesitznahme eines Gebiets, was wohl kaum moralisch zu rechtfertigen ist.

Das Recht der Staaten, Kontrolle über ein Territorium auszuüben, ist als solches unbedenklich. Die Ausübung dieses Rechts hat aber Formen angenommen, die keiner ethischen Prüfung standhalten: Immer dort, wo Staaten ihren (theoretischen) Anspruch auf ein Territorium geltend gemacht haben, wurden eben jene Werte verletzt, die sie nun zu erhalten behaupten. Insofern ist das Argument vom Gemeinwohl paradox: Es legitimiert den Erhalt des Status quo, indem es ihn gegen eine vermeintliche globale Anarchie abwägt; gleichzeitig kann es die Entstehung dieses Status quo nicht mit denselben Mitteln rechtfertigen.

Zugegebenermaßen ist dies ein äußerst abstrakter Einwand, zumal keine Alternative zum gegenwärtigen Modell des Territorialstaats möglich oder gar erstrebenswert erscheint. Doch wie wir im Folgenden sehen werden, stößt die derzeitige Praxis der Aus- und Abgrenzung noch auf viel größere Probleme.

Bertram Ranftl

Die Beantwortung der zweiten Frage, nämlich warum ein bestimmter Staat innerhalb eines bestimmten Territoriums politische Autorität legitimerweise ausüben darf, fällt schon schwieriger.

Ein Einwanderer könnte ja das Recht Italiens infrage stellen, ihn von dem bestimmten Stück Land, das er betreten möchte, auszuschließen, selbst wenn er das allgemeine Argument zugunsten territorialer Autorität grundsätzlich anerkennt.

Radikale Pragmatiker würden argumentieren, dass eine Infragestellung jedweder staatlich-territorialer Hoheit Tür und Tor öffnet für Sezessionen, Annexionen, Dismembrationen und so weiter. Die bestehende Weltordnung würde kollabieren und die einzig vernünftige Position bestehe darin, die faktischen Grenzen effektiv funktionierender Staaten als quasi gottgegeben anzusehen.

Ich möchte mich mit dieser Argumentation nicht zufrieden geben, da Pragmatismus in ethischen Fragen nicht über die Vernunft gestellt werden darf. Dennoch glaube ich, argumentieren zu können, wie Staaten legitimerweise politische Autorität über ein bestimmtes Territorium ausüben zu dürfen.

Staaten können meiner Ansicht nach nur als Repräsentanten einer (großen) Gruppe von Menschen dienen und so Anspruch auf territoriale Rechte erheben. Der Anspruch des Staates auf ein Territorium leitet sich demnach vom Anspruch jener Menschen, die vom Staat regiert werden, ab. Zu beantworten bleibt also die Frage, inwieweit das Recht einer bestimmten Gruppe von Menschen ein bestimmtes Territorium zu bewohnen schwerer wiegt als dasselbe Recht einer beliebigen anderen Gruppe.

Betrachten wir dazu eine solche Gruppe. (Es ist dabei im Hinblick auf die Moral egal, ob dieser Gruppe der Charakter einer modernen Nation zukommt oder ob es sich dabei um Ureinwohner handelt.) Die Interaktion zwischen dem Territorium und der Kultur des Volkes, das darauf lebt, hat immer Konsequenzen. Zum einen müssen sich die Menschen, die in dem Gebiet leben, sich verschiedensten Begebenheiten – klimatischer, geologischer Natur als auch in der Art ihres Wirtschaftens – anpassen. Zum anderen wird auch das Territorium entsprechend den kulturellen Gepflogenheiten des Volkes geformt. Felder werden abgesteckt und kultiviert, Bewässerungssysteme errichtet, Dörfer und Städte gebaut und so weiter. Das Territorium ist zur Heimat des Volkes geworden, in dem Sinne, dass der Mehrwert, der durch die Besiedelung und Kultivierung entstanden ist, untrennbar mit dem Territorium verbunden ist. Überdies hat das Territorium (für das Volk) ja nicht nur einen ökonomischen Stellenwert, sondern auch einen symbolischen. Monumente wurden dort errichtet, Gedichte und Romane verfasst, Gemälde geschaffen, Eindrücke bestimmter Orte und Landschaften eingefangen. Nicht jeder findet es wichtig, an einem geschichsträchtigen Ort zu leben. Für viele Menschen ist dies aber untrennbar mit ihrer Identität verbunden. Es besteht also ein Mehrwert, der Mensch und Territorium verbindet.

Natürlich gibt es Einwände gegen dieses Argument: Ansässigkeit und Veränderung können Kritikern zufolge nur dann zählen, wenn die Ansässigen „von vornherein“ ein Anrecht auf dieses Territorium hatten. Analog dazu gelte gestohlenes Eigentum nach Verstreichen einer gewissen Zeit auch nicht als rechtmäßig besessen. Demnach hänge alles davon ab, wie die ursprüngliche Aneignung des Territoriums gerechtfertigt werden kann.

Wenn Staat A das Territorium von Staat B besetzt, B vertreibt, beginnt, das Land zu verändern und zu kultivieren, dann erwirbt A deswegen keine territorialen Rechte an dem besetzten Land (ansonsten wäre Raub legitim). Im Gegenteil: Der moralische Anspruch von B ins Heimatland zurückkehren zu dürfen, wiegt schwerer. Nach einiger Zeit aber entwickelt Staat A Ansprüche, die denen von Staat B ähneln (für B können sich indes Ansprüche andernorts ergeben). Wessen Anspruch zu einem gegebenen Zeitpunkt größer ist, bleibt also eine Ermessensfrage. Was würde außerdem als tadelloser Anspruch auf Land gelten? Vermutlich wäre dieser Argumentation zufolge Inbesitznahme von Land nur dann gerechtfertigt, wenn dieses vorher unbewohnt wäre. Wessen derzeitige Ansprüche würden diese Bedingung angesichts der Turbulenzen der Menschheitsgeschichte erfüllen? Möglicherweise die der Isländer: Als nordische Siedler im neunten Jahrhundert dort ankamen, gab es keine vorigen Bewohner, die vertrieben hätten werden können. Abgesehen davon wäre so gut wie jedes Territorium auf der Erde, dieser Argumentation zufolge, unrechtmäßig besiedelt. Einem Volk müssen also wohl gewisse Anrechte auf ein Land zugestanden werden, wenn es dieses hinreichend lang bewohnt und kultiviert hat.

Meine Argumentation hat also gezeigt, dass ein Mehrwert besteht, der Mensch und Territorium verbindet, aus dem man zum Beispiel einen Anspruch des Staates Italien ableiten kann, als Repräsentant des italienischen Volkes Hoheitsrechte über sein Territorium zu stellen. Ich akzeptiere, dass diese territorialen Rechte niemals absolut sind und dass Ansprüche auf materielle Notwendigkeiten (die beispielsweise auf Menschenrechten basieren) ihrer Durchsetzung bisweilen Grenzen setzen können.

Laura Mandelli

Wir sollten uns die Konsequenzen dieser Theorie unbedingt bewusst machen. Dass Völker „untrennbar mit ihrem Territorium verbunden“ seien und damit ein moralisches Recht auf die Verteidigung diesen Gebietes einhergehe, wobei die genauen Ansprüche eine „Ermessensfrage“ darstellen, ist nichts anderes als eine Rechtfertigung des Krieges. Wenn in Palästina zwei oder mehr Völker mit guten Gründen eine Stadt für sich reklamieren und sie beide das Recht besitzen, es nach ihrem Gutdünken gegen Eindringlinge zu schützen, ist Gewaltanwendung nahezu unvermeidlich.

Aber verbieten das nicht die Menschenrechte?, ist man geneigt zu fragen. Nicht gemäß dieser Logik. Die Menschenrechte beruhen zuallererst auf den Prinzipien der Gleichheit und der Freiheit. Demokratien übersetzen das in einen Anspruch auf politische Mitbestimmung: Immer dort, wo in die Autonomie, also die Selbstbestimmung des Einzelnen eingegriffen wird, muss das durch einen demokratischen politischen Prozess gerechtfertigt sein. Nach innen befolgen wir dieses Prinzip wie selbstverständlich: Wird jemand durch eine Gefängnisstrafe seiner Freiheit beraubt, muss das auf Grundlage eines Gesetzes und eines Gerichtsverfahrens geschehen, das sich die Gesellschaft in einem demokratischen Verfahren auferlegt hat.

Nach außen scheint dieses Prinzip auf einmal außer Kraft gesetzt: Wird jemand gewaltsam am Grenzübertritt gehindert, stellt das einen eindeutigen Eingriff in seine physische Unversehrtheit und seine Bewegungsfreiheit dar. Anders als der verurteilte Häftling hatte diese Person aber nie ein Mitspracherecht bei der Durchsetzung des Grenzregimes. Rechtmäßig wäre ein staatliches Eingreifen nur, hätte sich der Betroffene an der Grenzziehung politisch beteiligen können. Da gegenwärtig keine solche Möglichkeit besteht, ist die derzeitige Praxis der Staaten, ihre Außengrenzen zu kontrollieren und die Einreise von Außenstehenden willkürlich zu verhindern, demokratisch nicht zu begründen.

Wir geben uns einer Illusion hin, wenn wir von „illegaler Einwanderung” sprechen. Steuerhinterziehung ist illegal, oder Erpressung, weil alle Betroffenen an diesen Gesetzen in Wahlen beteiligen können. Aber Zwang auf andere, auf Außenstehende auszuüben, ohne ihnen die Möglichkeit der Mitwirkung zu geben, widerspricht dem demokratischen Prinzip.

An einer anderen Stelle tritt die Missachtung unserer aufgeklärten ethischen Konzeption noch deutlicher zutage: die Art und Weise, in der ein Land erobert wird, spielt für den moralischen Anspruch darauf keine Rolle. Die Weitervererbung und das „Verwachsen“ des Volkes mit dem Land sollen herhalten für eine nachträgliche Legitimation eines Zustandes, der nach allen gängigen völker- und menschenrechtlichen Prinzipien unter illegitimen Umständen herbeigeführt wurde.

Damit haben die Menschenrechte eine schwere Einschränkung erfahren. Wo Freiheit und Gleichheit im Umgang der Völker miteinander außer Kraft gesetzt wurden, ist der Weg zum Krieg nicht mehr weit.

Wer eine Vision vom Menschen als frei und gleich pflegt, der kann die staatliche Praxis, willkürlich Außenstehende am Grenzübertritt zu hindern, nicht hinnehmen. Um das gutzuheißen, müssen wir an Nationen und Kulturen glauben, denen wir moralisch mehr verpflichtet sind als anderen. Diese Fehler wurden schon einmal begangen.

Es stellt sich die Frage, welchen Werten unsere Loyalität gelten soll. Der Freiheit und der Gleichheit? Ins Politische übersetzt bedeutet das, die Abschottung der Staaten für falsch zu erklären. Oder unserem Volk und unseren Blutsgenossen? Dann dürfen wir unser Territorium schützen und verteidigen, wenn nötig unter Missachtung der allgemeinen Menschenwürde.

Wer Letzteres im Bewusstsein der unheilvollen Geschichte der Blut-und-Boden-Ideologie, der unzähligen Toten in sinnlosen Schlachten und des unermesslichen menschlichen Elends, das daraus entstanden ist, ablehnt, der muss auf Ersteres verfallen.

Es hat sich gezeigt, dass ein staatliches Grenzregime aus den Prinzipien von Freiheit und Gleichheit allein nicht zu begründen ist; sich diesen allgemeingültigen Werten zu verpflichten, bedeutet, die einseitige Schließung von Grenzen zu verurteilen.

Bertram Ranftl

Damit wurden natürlich nur Erörterungen hinsichtlich der Legitimität eines Territorialstaates überhaupt angestellt. Die Frage der Legitimität der Abgrenzung nach außen, im staatsbürgerlichen Sinne (betreffend die Regulierung der Mitgliedschaft) wie auch im territorialen Sinn (betreffend die Regulierung der Freizügigkeit) blieb dabei unangetastet.

Um für das Recht eines Staates auf Abgrenzung nach außen im staatsbürgerlichen und territorialen Sinne zu argumentieren, berufe ich mich auf die Assoziationsfreiheit. Diese Freiheit, auch Vereinigungsfreiheit genannt, garantiert das Recht, sich zu gemeinsamen Zwecken und Zielen zusammenzuschließen und diese gemeinsam anzustreben. Die Vereinigungsfreiheit besteht auch in ihrer negativen Form: Wer möchte, darf einer Gruppe oder Vereinigung auch nicht beitreten bzw. aus ihr austreten.

Dass es eine solche Freiheit für Individuen überhaupt geben soll, ist mehr oder weniger unumstritten. Denken wir nur an Ehe und Religion. In der Vergangenheit war es Usus, dass der Ehepartner von den Eltern ausgesucht und die Religion vom Staat bestimmt wird. Dankenswerterweise sind diese Zeiten vorbei – heute darf jeder heiraten, wen er will und die Religion ausüben, die er möchte. Auch umgekehrt gilt: Wer nicht möchte, muss nicht heiraten oder gläubig sein, und darf sich scheiden lassen bzw. konvertieren. Wenn wir diese Freiheit auf andere Bereiche ausdehnen, fällt es leicht zu sehen, warum sich Individuen zu Vereinen, Klubs, Parteien aber auch Staaten zusammenschließen dürfen.

Damit scheint der Weg geebnet zu sein, die individuelle Assoziationsfreiheit auf das Recht eines Staates zur Kontrolle der Immigration übertragen zu können. Genau wie ein Individuum das Recht hat, zu entscheiden, wen (wenn überhaupt) es heiraten möchte, hat eine Gruppe von Bürgern das Recht zu entscheiden, wen (wenn überhaupt) sie in ihre politische Gemeinschaft einladen will. So wie das Individuum ledig bleiben darf, darf der Staat auch Ausländer aus seiner politischen Gemeinschaft ausschließen.

Laura Mandelli

Der Schein ist trügerisch. Es gibt mehrere Gründe, die den Rückschluss der individuellen Assoziationsfreiheit auf die staatliche problematisch erscheinen lassen.

Wie kann eine Gruppe von Menschen den Anspruch erheben, sich aufgrund einer angeblichen Freiheit zum Zusammenschluss, die sie in Wahrheit durch den Zufall ihrer Geburt realisiert haben, gegen andere abzugrenzen? Wie kann diese konstruierte Freiheit schwerer wiegen als das dringende Überlebensinteresse anderer? Akzeptabel könnte das noch erscheinen, handelte es sich dabei um eine Gruppe von Menschen, die das Land erworben und vergemeinschaftet haben.

Tatsächlich aber sind die zu Staaten zusammengeschlossenen Ländereien über Generationen weitervererbt. Am Anfang dieser historischen Kette steht mit großer Sicherheit eine unrechtmäßige Landnahme. In jedem Fall missachtet die Inanspruchnahme vererbter Gebiete den liberalen Grundsatz der Chancengleichheit: Jeder Mensch, egal welcher Herkunft, muss grundsätzlich dieselben Ausgangsbedingungen bei der Geburt haben.

Doch heutzutage ist das nicht gegeben. Im Gegenteil: Wie alt ein Mensch wird, welche beruflichen Chancen er hat, wieviel er verdienen wird – all das hängt zu 99% vom Geburtsland ab. Dieses System erinnert aus der Distanz betrachtet an die mittelalterliche Ständegesellschaft. Wir haben uns nur zu sehr daran gewöhnt, um zu erkennen, wie grausam es ist.

Bertram Ranftl

Ich muss sagen: Dieses Argument hört sich verführerisch und schwer zu widerlegen an, da auch ich diese Asymmetrie als ungerecht empfinde. Dennoch glaube ich, dass dieser Umstand nicht schwer genug wiegt, um die kollektive Assoziationsfreiheit einzuschränken. Um dies zu untermauern, möchte ich erstmal den Glücksegalitarismus der individuellen Assoziationsfreiheit gegenüberstellen: Selbst die eifrigsten Kritiker der Ungleichheit verlangen meist nicht, dass wir die Vereinigungen basierend auf der individuellen Assoziationsfreiheit, zum Beispiel die Ehe, abschaffen. Wenn ich selbst materiell überdurchschnittlich gut gestellt bin und jemand heirate, der wohlhabender ist, dann tue ich damit im Sinne der Gleichheit nichts Gutes. Genauso wäre es in diesem Sinne vorteilhafter, ein Kind zu adoptieren als eines zu zeugen. Es ist also üblich, unser Recht auf Assoziationsfreiheit und unsere Verteilungspflichten getrennt zu behandeln. Jeder darf heiraten, wen er will und ist nachher angehalten, einen Teil seines Wohlstands an andere abzugeben.

Genauso wie innerstaatliche Umverteilung nicht die Abschaffung der Ehe erfordert, erfordert globale Umverteilung nicht die Öffnung aller politischen Grenzen. Wenn wohlhabende Familien ihre Pflicht der Umverteilung durch die Entrichtung von Steuern tun können, warum können wohlhabende Staaten ihre Pflicht nicht durch Finanztransfers erfüllen? Es ist im Sinne des Glücksegalitarismus nicht unbedingt notwendig, die Begünstigten der Umverteilung in unsere politische Gemeinschaft aufzunehmen. Entwicklungshilfe statt Migration, lautet also die Devise. Wie diese Entwicklungshilfe möglichst effizient Anwendung finden kann, soll Gegenstand einer anderen Diskussion sein.

Laura Mandelli

Aber die Vergleiche mit Ehen oder anderen intimen Gemeinschaften trügen; die Bürger eines Staates sind keine frei gewählte Verbindung miteinander eingegangen, sie kennen einander nicht persönlich und haben in vielen Fällen nicht einmal dieselben Interessen. Ein Staat ist eine anonyme Gesellschaft; zu behaupten, seine Bürger hätten sich aus Freiheit zusammengeschlossen, ist nur ein Versuch, eine historische Entwicklung nachträglich zu rechtfertigen.

Oder erinnerst Du Dich daran, wie Du Dir Deine Staatsbürgerschaft ausgesucht hast und die anderen Staatsbürger darüber entschieden haben, ob sie Dich in den Staat aufnehmen sollen? In den meisten Fällen ist das nicht der Fall. Die meisten Staatsbürger haben ihre Privilegien durch ihre Geburt, nicht durch einen freien Entschluss erlangt. Sich dann mit dem Argument der Freiheit gegen andere abzugrenzen, ist schlichtweg falsch.

Bertram Ranftl

Man übersieht einen wichtigen Teil des Problems, wenn man auf die fehlende emotionale Nähe zwischen Mitbürgern verweist. Auch wenn innerhalb der Staatsgemeinschaft überwiegend Anonymität herrscht und sich die Mitbürger nicht immer zu denselben Zielen bekennen, bleiben sie dennoch politische Partner. Der Kurs des Landes wird von allen gemeinsam festgelegt. Den Menschen liegt ihr Land zu Recht am Herzen; ihre Sorge um die Entwicklung ihrer Gemeinschaft ist daher berechtigt. Die Einwanderungspolitik eines Landes ist deshalb von großer Bedeutung, weil sie sich darauf auswirkt, wer die Zukunft des Landes mitbestimmen wird.

Laura Mandelli

Selbst wenn Entwicklungshilfe die globale Ungleichheit verringern könnte, was sie in der Praxis kaum zu tun scheint, ist sie noch immer keine Alternative zur Aufnahme verfolgter Menschen. Denn politischen Flüchtlingen bringt es herzlich wenig, wenn die politischen Verhältnisse, von denen sie fliehen, finanziell auch noch umsorgt werden. Von frühesten Kindesbeinen an sind wir wieder und wieder dem Lehrsatz begegnet, dass unsere Freiheit dort endet, wo die der anderen beginnt. Selbstverständlich gilt das auch für die Assoziationsfreiheit.

Der Ausschluss von Außenstehenden aus einem Staat hat offensichtliche Folgen für seine Bewegungsfreiheit. Unter bestimmten Umständen droht sogar unmittelbare Gefahr für Leib und Leben. In diesem Fall gerät die Assoziationsfreiheit mit dem Prinzip in Konflikt, dass wir anderen nicht schaden dürfen. Und wie könnte eine abstrakte, erfundene Freiheit schwerer wiegen als das ganz unmittelbare Gebot der Mitmenschlichkeit?

Bertram Ranftl

Auch verfolgten Menschen muss ein Staat nicht unbedingt Zuflucht bieten. Nicht weil ihn die Not der Menschen kalt lässt, sondern weil die sinnvollste Möglichkeit, Opfern von Verfolgung zu helfen, darin besteht, diese auf deren eigenem Territorium zu beschützen. Ähnlich wie im Falle von Entwicklungshilfe kann auch hier Gerechtigkeit exportiert werden. Zugegebenermaßen lässt sich diese Gerechtigkeit nicht einfach in einem Container verschiffen, aber man kann, im schlimmsten Fall militärisch, in ungerechte politische Verhältnisse intervenieren. Regierungen, die unfähig oder unwillig sind, die moralischen Grundrechte ihrer Bevölkerung zu schützen, haben ihren moralischen Anspruch auf politische Selbstbestimmung verwirkt. Dritte Parteien sollten also das Recht haben, im Interesse einiger ihrer Bürger zu intervenieren. Denken wir an die Kurden im Irak: Anstatt ihnen zu helfen, indem wir sie aufnehmen, wäre es vielleicht sinnvoller, einen sicheren Zufluchtsort und eine Flugverbotszone im Nordirak zu errichten. Ich vermute, dass viele von dieser Option absehen, weil sie – wie ich finde, zu Unrecht – die politische Selbstbestimmung beinahe aller Staaten respektieren, sogar solcher, die Asylsuchende verfolgen.

Das soll kein Freibrief sein, um bei jedem kleinen Scharmützel auf der Welt einen Krieg vom Zaun brechen zu dürfen. Die Aufnahme von Flüchtlingen scheint außerdem humanitär verträglicher zu sein, als militärisch zu intervenieren. Dennoch wird dadurch nur einem Bruchteil aller Geschädigten geholfen und Militäreinsätze müssen nicht einen Krieg zu Folge haben, wenn wir an die Missionen der UNO denken.

Laura Mandelli

Kommen wir zurück auf vorigen Versuch, ein staatliches Grenzregime aus der Assoziationsfreiheit zu begründen. Auch Individuen können sich auf dieses Recht berufen. Folgend einige Szenarien, bei denen die Assoziationsfreiheit des Staates mit jener anderer Gruppen oder Individuen in Konflikt gerät:

Ein Bauer möchte ausländische Erntehelfer engagieren.

Ein Staatsbürger möchte einen Ausländer heiraten.

Eine Gruppe von Pilgern möchte eine heilige Stätte auf fremden Territorium besuchen.

Ein Flüchtling mit aufrechtem Asylstatus möchte seine Familie zu sich holen.

Schon vorher wurde zugestanden, dass individuelle Vereinigungen (Ehe, Glaubensgemeinschaft etc.) für ihre Mitglieder höheren Stellenwert haben als staatliche Vereinigungen. Daraus folgt, dass der Staat seine Grenzen öffnen muss in Fällen, in denen individuelle Vereinigung in Konflikt gerät mit staatlichen Erwägungen, wer aufzunehmen ist und wer nicht.

Wer sich also auf die Assoziationsfreiheit beruft, muss – ironischerweise – in Kauf nehmen, dass die Familien Geflüchteter ins Ankunftsland nachfolgen dürfen oder man frei über Grenzen hinweg heiraten darf.

Bertram Ranftl

Zweifelsohne wiegt das Recht der Eheschließung schwer. Nicht umsonst räumen so gut wie alle liberal begründeten Rechtsordnungen dieses Recht ein. Anders sieht die Situation mitunter aus, wenn man ausländische Arbeitskräfte engagieren möchte. Gerade in jenem Fall ist anzunehmen, dass vergleichbare Arbeitskraft auch am heimischen Markt verfügbar wäre (unter der Annahme, dass kein Arbeitskräftemangel herrscht). Daraus resultieren wiederum legitime Interessen eines Staates, sich gegen Lohndumping zu schützen und seinen Arbeitsmarkt abzuschotten. Indirekt stehen also den Interessen des Bauern die Interessen einer größeren Zahl seiner Mitbürger gegenüber.

Es ist schwierig, wenn nicht gar unmöglich, hier universalistisch zu argumentieren. Die Assoziationsfreiheit eines Staates kann also genauso wenig als absolut angesehen werden wie jene eines Individuums. Es ist im Einzelfall zu beurteilen, welche Position moralisch schwerer wiegt. Dennoch besteht prinzipiell das Recht eines Staates auf Assoziation.

Laura Mandelli

Insgesamt ist das Argument von der Assoziationsfreiheit mit folgendem Szenario vergleichbar: Ein Fußballteam trifft sich regelmäßig im Park. Sie haben sich frei zusammengeschlossen und leben in einer Gesellschaft, in der alle gleichen Anteil an den meisten öffentlichen Gütern haben, so auch an den Parks. Es fühlt sich dort aber von anderen Sportmannschaften beim Training gestört. Daher reißt es die Kontrolle über die Wiese an sich und umzäunt sie. In den darauffolgenden Jahrzehnten vererben die Mitglieder des Teams die Wiese an ihre Kinder. Doch weder können die Kinder ihren Anteil an der Wiese aus dem umzäunten Gebiet herauslösen, da das gegen das Interesse des Vereins verstoße (Sezession), noch haben sie die Pflicht, bedrängte Hockeyspieler aufzunehmen, weil die Fußballer eine (nie gewählte) Freiheit zum Zusammenschluss und damit zum Ausschluss besäßen.

Sezession bezeichnet den Vorgang, dass sich ein Gebiet aus einem Staat herauslöst und eigenständig wird.

Das muss den meisten Menschen absurd erscheinen.

Bertram Ranftl

Das Problem, in eine politische Gemeinschaft hineingeboren zu werden, ergibt sich erst dadurch, dass man nicht austreten kann. Analog dazu kritisiert wohl kaum jemand, in eine (liberale, zwangsfreie) religiöse Gemeinschaft hineingeboren zu werden – ab einem gewissen Alter steht es einem ja frei, diese wieder zu verlassen. Der Zwangscharakter einer staatlichen Gemeinschaft wird also erst durch das fehlende Sezessionsrecht, also das fehlende Recht, sich vom Staat loszulösen, problematisch.

Selbst wenn ich lieber auf die Vorteile der Mitgliedschaft in einer politischen Gemeinschaft verzichtete und dafür frei von politischem Zwang durch den Staat wäre, wiegt das Interesse des Staates, auf mich Zwang ausüben zu dürfen, schwerer, da er so politische Stabilität für meine Mitbürger sicherstellt. Meine Mitbürger brauchen diesen Staat, da ohne ihn sowohl ihre Individualrechte (wie der Schutz der physischen Existenz oder die Rechtssicherheit) nicht geschützt als auch ihre Interessen (Wohlstand, soziale Absicherung) nicht verwirklicht werden könnten. Wenn für mich die Gesetze nicht gälten, wäre ich theoretisch eine Gefahr für meine Mitbürger.

Der Staat braucht ein zusammenhängendes Territorium, da er seine Gerichtsbarkeit anders nicht effektiv durchsetzen könnte. Meinem eigenen Interesse einer Sezession steht also indirekt das Interesse meiner Mitbürger an einer funktionierenden politischen Gemeinschaft gegenüber.

Abgesehen davon wäre ein Ein-Mann-Staat wohl kaum selbst überlebensfähig. Es bestünden wieder essentielle Abhängigkeiten gegenüber dem Reststaat, das Individuum wäre zumindest auf Handel mit dem Reststaat angewiesen und im Falle eines Embargos (negative Assoziationsfreiheit) auf dessen Almosen. Eine individuelle Sezession ist also sowohl in moralischer, als auch in pragmatischer Hinsicht kaum zu begründen.

Laura Mandelli

Nehmen wir für einen Moment an, dass die Theorie von der Assoziationsfreiheit trotz all der vorgebrachten Gegenargumente zutrifft:

Mit der obigen Begründung wäre noch immer nicht geklärt, warum kollektive Sezessionen nicht möglich sein könnten. Ab einer hinreichend großen Zahl von Bürgern, die sich vom Mutterstaat lossagen wollen, wäre sowohl autarkes Leben möglich, als auch ein Interesse auf Autonomie gegeben, das in der Wertigkeit dem Interesse der Restbürger auf Fortbestand ihres gewohnten Staates zumindest ebenbürtig ist.

Bertram Ranftl

Prinzipiell entsteht durch ein Sezessionsbestreben eines Kollektivs der Eindruck, die bestehenden Abhängigkeiten nicht länger anerkennen und eigenen Interessen selbstständig nachgehen zu wollen. Dies zerstört erst einmal eine „Kette der Verantwortung und des Vertrauens“ innerhalb der staatlichen Gemeinschaft. Das Wohlfahrtssystem, das ja im Nationalstaat begründet ist und idealerweise auf Einheit beruht, hat solidarisch für Mitbürger und künftige Generationen viel Geld und Mühe in Bildung, Infrastruktur, Familienbeihilfe und so weiter gesteckt; alles auf der Erwartung gründend, dass Mitbürger und künftige Generationen diesen Gefallen erwiderten und ihr Möglichstes täten, damit die politische Gemeinschaft gedeihen kann und alle ihre Individuen in Zukunft davon profitieren können. Dieser Gesellschafts- und Generationenvertrag wurde eben im Rahmen des Nationalstaats geschlossen. Ihn (mittels Sezession) einseitig aufzulösen, ist also nicht nur ein Zeichen der Undankbarkeit (was moralisch kaum ins Gewicht fällt), sondern gefährdet auch Stabilität und ökonomische Prosperität.

Auch pragmatische Gründe können gegen Sezession sprechen: Wie kann nach einer Sezession garantiert werden, dass es nicht zu einer weiteren Sezession kommt und die politische Gemeinschaft so nach und nach zersplittert bis sie schließlich nicht mehr in der Lage ist, die moralischen Grundbedürfnisse ihrer Bürger zu befriedigen? Wie steht es um Abkommen zu Drittstaaten nach einer Sezession? Wie können ex ante Friedenssicherung, Rechtssicherheit und Minderheitenschutz im neu gegründeten Staat garantiert werden? Historische Beispiele werfen im Sinne dieser Fragen einen trüben Schein auf das geforderte moralische Recht auf Sezession.

Dennoch denke ich, dass eine Gemeinschaft, deren Wertschätzung für Autonomie so hoch ist, als dass sie sich auf das Recht der Assoziationsfreiheit beruft, um Einwanderung zu beschränken, zugestehen muss, dass sich aus dieser Assoziationsfreiheit prinzipiell auch ein Recht auf (kollektive) Sezession ableiten lässt. Es mögen sich dabei einige Probleme in der Praxis ergeben und das Verhältnis zum Reststaat getrübt werden. Dennoch glaube ich, eine Sezession kann unter den Bedingungen gerechtfertigt werden, dass (1) die sezedierenden Bürger eine Mehrheit stellen in dem Territorium, das zum neuen Staat werden soll, dass (2) der neu gegründete Staat alle essentiellen und den Mutterstaat legitimierenden Funktionen (siehe mein Argument zur staatlichen Grenzhoheit) erfüllen kann, dass (3) der Reststaat in der Ausübung eben jener Funktionen nicht behindert wird.

Unter der Voraussetzung, dass ein Staat ein bedingtes Sezessionsrecht anerkennt, kann er sich also legitimerweise auf Assoziationsfreiheit berufen.

Mein Standpunkt zugunsten eines staatlichen Grenzregimes beruht also auf der Ausdehnung der individuellen auf die kollektive Assoziationsfreiheit. Wenn meine Argumentation überzeugend ist, können legitime Staaten potentielle Einwanderer prinzipiell zurückweisen, auch im Hinblick auf das Ideal der Verteilungsgerechtigkeit (Glücksegalitarismus) und des Schädigungsverbots (Export von Gerechtigkeit). Die Assoziationsfreiheit eines Staates kann niemals absolut gelten, sie unterliegt einigen Einschränkungen: Individuelle, moralische Rechte übertrumpfen bisweilen das Recht auf Assoziation. Auch gegenüber anderen Konsequenzen, darunter potentiellen Sezessionsbestrebungen, muss sich der Staat verantworten. Dennoch besteht unter Berücksichtigung all dieser Dinge das Recht eines Staates, die eigenen Grenzen zu kontrollieren und gegebenenfalls zu schützen.

Laura Mandelli

Ich habe gezeigt, dass sich die Existenz undurchlässiger Staatsgrenzen nicht aus den Werten der Freiheit und Gleichheit heraus begründen lässt. Alle Argumente für das derzeitige Grenzregime der Staaten drehen die Kausalkette um: Erst werden Tatsachen geschaffen, dann wird das unter großen Verrenkungen für rechtmäßig erklärt.

Die Assoziationsfreiheit ist ein solches nachträgliches Konstrukt. Sie missachtet das Verbot, anderen durch die eigene Freiheit Schaden zuzufügen. Auch das fehlende Recht auf Abtrennung vom eigenen Staat belegt, dass Staaten nicht mit einem Zusammenschluss freier Individuen zu vergleichen sind.

Der Anspruch auf ein Territorium ist ebenso ein Vorgang, der offensichtlich die Freiheit und Gleichheit der Menschen beschneidet. Und mit Blick auf die historische Veränderlichkeit von Grenzen scheint es willkürlich, einem bestimmten Staat das Recht zuzugestehen, über eine beliebig gezogene Linie in der Landschaft zu richten.

Das demokratische Prinzip, demzufolge Staaten nicht ohne Zustimmung der Betroffenen deren Selbstbestimmung einschränken dürfen, gerät dabei völlig außer Acht. Wenn wir die Demokratie als ein universell wertvolles Prinzip ansehen, können wir nicht hinnehmen, wie Grenzübertritte derzeit geahndet und sogar bekämpft werden.

Die einzige in sich geschlossene Argumentation für geschlossene Grenzen beruht auf Nation, Kultur, Blut und Boden und letztlich einer überlegenen Moral, die jenseits von allgemeinen Rechten und Menschenwürde gilt.

Wem davor graut, der muss langfristig eine Welt ohne Grenzen anstreben.