„Ich möchte Europa
zur gefühlten Heimat machen“

Der Spitzenkandidat der CDU/CSU über seine Ziele als möglicher EU-Kommissionspräsident, behutsamen Wandel und die Kunst der Verständigung

VON LUCIUS MALTZAN

…und auf einmal ist er da, Manfred Weber, ohne Vorhut oder Begleitung, nur er ganz allein. Weicher Gang, mittelfester Händedruck, sanfte Stimme.

Weber ist Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei (EVP) inklusive CDU/CSU und Favorit auf das Amt des EU-Kommissionspräsidenten. Wir haben uns in einem Konferenzraum der SAT1-Studios in München-Riem verabredet, wo er außerdem ein Fernsehinterview absolvieren soll.

Weber stammt aus einem kleinen Dorf in Niederbayern, das gerollte R und der dialektale Zungenschlag verraten es. In der CSU ist er seit seiner Jugend aktiv, war sogar Landesvorsitzender der Jungen Union. Danach ging er nach Brüssel, blieb, wurde Fraktionsvorsitzender der christdemokratischen EVP und nun ihr Spitzenkandidat. Für seinen Wahlkampf bereist er momentan sämtliche EU-Staaten im Rahmen seiner „Zuhören-Tour“.

Weber spricht leise und mit Bedacht, und er sieht einen dabei nicht so aufdringlich eindringlich an, wie Menschen das tun, die vom Gesagten ablenken wollen. Nach Ende des Interviews macht er keine Anstalten, zu gehen, sondern stellt Fragen und hört zu. Und dann verschwindet er wieder, auf zu großen Taten, geht aus der Türe, und man fragt sich, wohin.

Herr Weber, wie geht es Europa?

Europa geht es insgesamt gut. Ich glaube sogar, wir leben im besten Europa, das wir jemals hatten. Das heißt nicht, dass wir sorgenfrei leben: Natürlich gibt es Aufgaben! Aber verglichen mit früheren Generationen und früheren Jahrzehnten können wir doch froh sein, dass wir in einem friedlichen und freien Europa leben.

Auf Wahlplakaten jeder Couleur nehmen Parteien für sich in Anspruch, “für Europa” zu sein. Ist das nur ein klangvolles Bekenntnis?

“Für Europa” zu sein, hat für mich eine Bedeutung: Die Quintessenz Europas ist der Kompromiss, die partnerschaftliche Zusammenarbeit. Europa ist für mich die Möglichkeit, mit einer österreichischen, polnischen oder finnischen Position zu kommen, meine Ideen und Vorstellungen zu haben, aber mich dann mit einer Kollegin oder einem Kollegen zusammenzusetzen und zu versuchen, einen Kompromiss zu erarbeiten. Egoismus, Nationalismus versus Kompromiss. Das heißt weder, dass ich meine Identität aufgebe, noch, dass ich jeden europäischen Beschluss gut finden muss. Natürlich muss man europäische Entscheidungen auch kritisieren und die zukünftige Ausrichtung lebendig debattieren. Aber die Quintessenz ist der Kompromiss. Und diese Kompromissfrage steht jetzt zur Debatte. Es kann passieren, dass das Europäische Parlament am 27. Mai (dem Tag nach der Europawahl, d. Red.) aufgrund neuer Mehrheitsverhältnisse vergleichbar mit dem britischen Parlament nur noch „Nein“ und nicht mehr „Ja“ sagt. Und das müssen die Bürger entscheiden.

Das britische Parlament hat ja über einen beispiellosen Vorgang zu befinden: Die europäische Integration ging in den letzten Jahrzehnten mit einer beeindruckenden Gradlinigkeit vonstatten, manchen mag sie gar zwangsläufig erschienen sein – bis der Brexit kam. Der Austritt Großbritanniens vollzieht sich allerdings quälend langsam und hinterlässt tiefe Wunden in der britischen Gesellschaft. Zeigt der Brexit, dass die europäische Integration praktisch unumkehrbar ist?

Nein, sie ist definitiv nicht unumkehrbar; die Europäische Union ist eine freiwillige Gemeinschaft. Rechtlich ist es natürlich möglich, auszutreten, was die Briten uns ja gerade zeigen. Ich würde auch nicht behaupten, dass Europa zwangsläufig war. Die europäische Einigungsgeschichte hat begonnen mit einer totalen Katastrophe: Adenauers Idee von der Verteidigungsunion ist in der französischen Nationalversammlung erst einmal krachend gescheitert. Wir hatten immer wieder Krisen, haben Auf und Abs erlebt – und so wird es auch bleiben, da mache ich mir gar nichts vor. Wir sollten einfach nur Lust darauf haben, gemeinsam zu gestalten, weiter den Kompromiss und das Miteinander zu praktizieren. Wenn wir das im Blick haben, können wir auch die Aufgaben von heute und morgen lösen.

Europa muss endlich lernen, von den Menschen her zu denken.

Sie sind seit fünf Jahren Fraktionsvorsitzender der Europäischen Volkspartei, der größten Fraktion im Europäischen Parlament. Sind Sie rückblickend zufrieden mit der Art der politischen Debatte, der Auseinandersetzung und Entscheidungsfindung im Europaparlament?

Wie ich sie erlebe, haben die EU-Institutionen in den letzten Monaten und Jahren im Kern gute Arbeit gemacht und Vieles vorangebracht. Ich möchte ja Nachfolger von Jean-Claude Juncker (dem derzeitigen Präsidenten der EU-Kommission, d. Red.) werden, der die letzten fünf Jahre gut gestaltet hat. Als bürgerlicher Politiker und Christdemokrat sehe ich mich als möglicher Nachfolger und baue auf dem auf, was vorige Generationen erarbeitet haben. Wir haben heute 13 Millionen neue Arbeitsplätze im Vergleich zu 2009 während der Eurokrise. Wir haben ein Wirtschaftswachstum von über zwei Prozent. Alle Staaten der Eurozone sind unter 3 % Neuverschuldung, das hatten wir noch nie. In der Migration haben wir die Zahl der illegalen Flüchtlinge im Mittelmeer um 95 % reduziert. Wir haben ein Einwegplastikverbot beschlossen in Europa. Wir haben auf den Weg gebracht, dass wir den Datenschutz im Internet global regeln – auf Basis europäischer Standards. Ich glaube, wir sind in einigen Punkten ganz gut unterwegs – noch nicht perfekt, aber einigermaßen gut unterwegs. Nichtsdestotrotz muss jetzt ein neues Kapitel aufgeschlagen werden. Wenn wir über die nächste Phase der europäischen Institutionen reden, heißt das für mich: Raus aus dem Brüsseler Elfenbeinturm, den es manchmal gibt, und mit den Bürgern reden! Europa muss endlich lernen, von den Menschen her zu denken.

Dass Staaten nicht mehr als 3 % ihres Bruttoinlandsprodukts, also ihrer Gesamtwirtschaftsleistung, als neue Schulden aufnehmen dürfen, ist eines der sogenannten Maastricht-Kriterien. Sie sollen verhindern, dass einzelne Staaten in der Eurozone die anderen finanziell belasten und die Währung instabil wird.

Für diese nächste Phase der europäischen Institutionen haben viele Parteien weitreichende Ideen: Die FDP möchte eine neue Verfassung und eine EU-Außenministerin, die Grünen einen Finanzminister, wieder andere möchten den Europäischen Rat entmachten. Braucht es nicht derart grundlegende Reformen, um der EU neuen Schwung zu verleihen?

Ich glaube, die Menschen erreichen wir damit nicht. Die Menschen wollen Antworten auf die Arbeitslosigkeit im Süden und die Tatsache, dass dort vor allem junge Menschen keinen Arbeitsplatz haben. Die Menschen wollen wissen, wie es mit der Digitalisierung weitergeht, wie wir mit Putin umgehen, wie wir auf die chinesische Herausforderung reagieren. Die Leute befassen sich vor allem mit ihren Sorgen und ihrem Alltag. Sie interessieren sich wenig für uns Politiker oder für die Institutionen in Brüssel, sondern sagen: Funktioniert bitte einfach. Und wenn Sie mich nach der institutionellen Zukunft der EU fragen, sage ich: Die zentrale Frage ist nicht, welche Personen und Institutionen es gibt, sondern: Leben wir in einer europäischen Demokratie? Haben die Menschen die Entscheidungsgewalt über die Zukunft Europas oder ferne Institutionen, wie auch immer sie heißen mögen? Deswegen glaube ich so an diese Europawahl, weil die Menschen auf dem Kontinent damit die Richtung entscheiden: Wollen sie ein linkes Europa, ein rechtsnationales Europa, ein bürgerliches Europa der Mitte? Diese Optionen liegen auf dem Tisch und die Menschen entscheiden, wie es weitergeht. Ich bin Abgeordneter, ich liebe das Parlament und ich liebe den Parlamentarismus. Jetzt entscheiden die Menschen über die Schwerpunkte.

Die Bestrebungen, die EU zu reformieren, haben aber gerade zum Ziel, die EU handlungsfähiger zu machen. In der Kritik steht zum Beispiel, dass nationale Regierungen in der EU sowohl die Exekutive, den Europäischen Rat, als auch die zweite Kammer der Legislative, den Ministerrat, bilden. Dort können sie dann viele Entscheidungen blockieren. Sehen Sie das als Problem an?

Der Europäische Rat besteht aus den Regierungschefs der 28 EU-Mitgliedsstaaten und bestimmt die Leitlinien der europäischen Politik. Er ist auf keinen Fall zu verwechseln mit dem Rat der EU („Ministerrat“ oder nur „Rat“), der neben dem Parlament über alle Gesetze abstimmt und sich aus 28 nationalen Ministern des jeweiligen Fachbereichs zusammensetzt. Die Präsidentschaft im Rat rotiert halbjährlich. Bei den meisten Abstimmungen genügt eine sogenannte qualifizierte Mehrheit von etwa 20 (von 28) Mitgliedsstaaten. Nur bei sensiblen Fragen wie der Außen-, Finanz- und Sozialpolitik ist Einstimmigkeit erforderlich.

Wo der Ministerrat mit qualifizierter Mehrheit abstimmt, haben wir meist ein funktionierendes Europa. Bei der CO2-Begrenzung, beim Einwegplastikverbot, bei der Polizeizusammenarbeit… Allein in der letzten, österreichischen Ratspräsidentschaft wurden über 50 neue Gesetze beschlossen. Dort funktioniert Europa eigentlich ganz gut. Ein Europa der Blockade haben wir dagegen, wo Europa einstimmig handeln muss, bei der Außenpolitik zum Beispiel, und da muss man schon auch institutionelle Debatten führen. Aber das ist nicht zentral, zentral ist die Frage: Wie kann man Europa mit den Bürgern verbinden? Und da müssen wir nichts Neues erfinden, sondern sollten nur tun, was wir bei jedem Bürgermeister und bei jedem nationalen Parlament machen: Über die Wahl wird entschieden, wer die Europäische Union führt, und die Mehrheit im Parlament entscheidet.

Die christliche Soziallehre besagt, dass Solidarität auch etwas mit Eigenverantwortung zu tun hat.

Die Richtung, die Ihnen vorschwebt, führt Ihre Partei in einem sehr bündigen Wahlprogramm aus. Darin sprechen Sie sich gegen ein „Verbots- und Umverteilungseuropa“ aus. Andere würden das wahrscheinlich als ein ökologisches und soziales Europa bezeichnen. Endet der europäische Gemeinsinn, wenn es ums Geld geht?

Nein, denn die Europäische Union ist bereits heute sehr solidarisch. Der zweitgrößte Finanzposten der Europäischen Union ist die Regionalförderung, mit der wir auch viele Projekte in den neuen Mitgliedsstaaten in Mittel- und Osteuropa finanzieren. Die wirtschaftliche Entwicklung in Tschechien oder der Boom in Bulgarien wären ohne europäische Hilfe nicht denkbar. Deswegen: Europa ist schon sehr solidarisch. Ich bin außerdem jemand, der Lösungen nicht verbieten, sondern ermöglichen will. Nehmen wir den Klimaschutz: Es gibt Politiker, die sagen, man solle nicht mehr in den Urlaub fliegen, weil das zu viel CO2 verursache. Ich sage: Airbus muss innovativ genug sein, eines Tages ein CO2-neutrales Flugzeug zu entwickeln. Als Physik-Ingenieur glaube ich an technische Lösungen, ich glaube an Innovationen und ich möchte den Menschen nicht das Leben einschränken, sondern es ökologisch so gestalten, dass eine gute Zukunft möglich ist. Beim Straßenverkehr versuchen wir es mit dem Elektro- oder Wasserstoffauto. Es gibt ja technische Alternativen, die uns erlauben, ökologischer zu sein. Daher: Nicht verbieten oder reglementieren, sondern Chancen schaffen und Anreize für Innovation setzen.

In einer Weberschen EU-Kommission wären europäische Transferleistungen, seien es ein Fonds für die Arbeitslosenversicherung oder ein Eurozonen-Budget, definitiv ausgeschlossen?

Derzeit haben zwar viele europäische Länder mit dem Euro eine gemeinsame Währung, verwalten ihren Haushalt aber eigenverantwortlich. Der französische Präsident Emmanuel Macron und andere schlagen daher vor, dass alle Euro-Länder einen kleinen Teil ihres Budgets einem gemeinsamen „Topf“ zuführen, mit dem der Ausgleich in der Eurozone gefördert werden soll.

Die europäische Arbeitslosenversicherung lehne ich dezidiert ab, weil die Frage des Arbeitsmarkts derzeit auf nationaler Ebene behandelt wird. Solange Salvini (der italienische Innenminister, d. Red.) in Italien und Tsipras (der griechische Ministerpräsident, d. Red.) in Griechenland, also die nationalen Regierungen, das Rentensystem gestalten, die Arbeits- und Urlaubszeiten festlegen oder die Ausbildung junger Menschen organisieren, sehe ich das nicht als machbar an. Und wenn man so schlechte Politik macht wie in Griechenland, kann man nicht zum Nachbarn gehen und sagen: Den Schaden müsst ihr bezahlen. Solidarität hat auch etwas mit Eigenverantwortung zu tun. Die zwei Grundprinzipien der christlichen Soziallehre lauten, dass man Verantwortung trägt, aber auch die soziale Kompetenz dazu hat. Und solange das so ist, muss auch auf nationaler Ebene verantwortet werden, was man an Fehlentwicklungen gestaltet.

Solange das so ist, sagen Sie… Könnte es langfristig zusammenwachsen?

Was das in Jahrzehnten bedeutet, kann kein Mensch heute prognostizieren. Die Europäische Union war immer ein Prozess des Miteinanders, aber der Gedanke dahinter ist wichtig: Wenn ich auf nationaler Ebene Kompetenz habe, muss ich die sozialen Auswirkungen dieser Entscheidungen auch auf nationaler Ebene verantworten. Ich gebe Ihnen ein Gegenbeispiel: Europa verantwortet die Handelspolitik. Wenn da Fehler gemacht werden oder wenn dabei Probleme für Menschen entstehen, weil wir die Märkte öffnen und bestimmte Branchen dem Wettbewerb nicht mehr standhalten können, dann muss auch Europa soziale Verantwortung dafür tragen. Ich bin dafür, den Globalisierungsfond deutlich zu stärken, damit wir betroffenen Branchen helfen, wenn es Veränderungen gibt. Wer entscheidet, muss sich auch um die sozialen Auswirkungen kümmern. Diese zwei Dinge gehören für mich zusammen.

Folgen hat unsere Handelspolitik aber nicht nur hierzulande, sondern auch und vor allem bei unseren Handelspartnern. Exemplarisch für ein vermeintlich unfaires Verhalten der EU stehen für viele die Agrarsubventionen, die knapp 40% des gesamten EU-Haushalts ausmachen. Durch diesen Wettbewerbsvorteil können europäische Produzenten im Ausland die lokale Konkurrenz unterbieten. Würden Sie in Betracht ziehen, diese Subventionen zu überprüfen?

Die Europäische Union hat beispielsweise den ärmsten Ländern der Welt vollen Marktzugang für Zucker gewährt. Solche Sonderregelungen müssen wir uns für die besonders bedürftigen Länder immer einfallen lassen. Ganz generell muss man außerdem sagen, dass unsere Bauern heutzutage deutlich höhere Tierschutz- und Umweltstandards als Produzenten in anderen Weltregionen haben. Für sie entstehen deutlich höhere Aufwendungen, weil wir in Europa mehr Acht auf die soziale und ökologische Verträglichkeit geben. Deswegen sollte die europäische Gesellschaft auch in Zukunft bereit sein, diesen Aufwand zu erstatten und Bauern zu helfen. Eine reine Marktöffnung und ein offener Preiswettbewerb können etwa nicht im Interesse der Umwelt und des Tierschutzes sein.

Bei der Entwicklungszusammenarbeit hat die Politik die Dimension der Frage noch nicht verstanden.

Viele Menschen aus diesen ärmsten Ländern sehen kaum Perspektiven in ihrer Heimat und rütteln an den Toren Europas. Langfristig erfordert ein tragbares Migrationsregime zweifellos, die wichtigste Fluchtursache, die Armut, zu lindern. Glauben Sie, wir haben die Dringlichkeit einer guten Entwicklungspolitik hinreichend erkannt?

Nein, das haben wir nicht. Die Europäische Union ist zwar bereits heute ein wesentlicher Akteur in der Entwicklungshilfe. Wenn wir unsere europäischen und nationalen Anstrengungen zusammennehmen, sind wir einer der größten Geldgeber für Entwicklungshilfe. Der Bedarf und die Notwendigkeit werden also wahrgenommen. Aber die Dimension dieser Frage hat man in der Politik noch nicht verstanden. Es ist immer noch ein Randthema: Ach, Entwicklungshilfe, darum kümmert sich auch noch jemand. Deswegen muss das auch für die nächste EU-Kommission eines der Schwerpunktthemen sein. Ich könnte mir vorstellen, einen eigenen Afrika-Kommissar zu ernennen, damit sich eine Person speziell um unseren Nachbarkontinent kümmert und die Kräfte dort bündelt. Und jenseits der klassischen Entwicklungshilfe mit Geldern und Projektförderungen sind die erwähnte Handelspolitik und weitere Maßnahmen ein essentielles Mittel, um Entwicklung in Afrika zu ermöglichen.

Ihre Partei möchte für Sicherheit, Wohlstand und Ordnung in Europa stehen. Hierzulande findet man mit diesen Begriffen sicherlich Anklang. Versetzen wir uns aber in die Lage eines Nicht-Europäers: „Sicherheit“ klingt dann übersetzt wie: „Ihr kommt hier nicht rein“. „Wohlstand“ bedeutet „Wir geben nichts ab“. Und „Ordnung“ hieße „Und das bleibt auch so“. Ist der Konservatismus zu bequem, um sich um Fragen globaler Gerechtigkeit zu kümmern?

Zunächst bin ich Vertreter der Christdemokraten auf dem Kontinent, und wir waren immer in Verantwortung für andere. Für uns steht außer Frage, dass wir diese Verantwortung spüren. Aber man kann besser für Dritte Verantwortung übernehmen, wenn man aus einer leistungsfähigen Lage kommt. Schauen Sie in die wirtschaftlich schwächeren Staaten, nach Portugal oder Griechenland: Diese Länder sind stark mit sich selbst beschäftigt. Dort haben junge Menschen teilweise keine Perspektive und bekommen keine Jobs. Das ist keine gute Grundlage, anderen helfen zu können. Die eigene Stärke ist also die Voraussetzung, wenn Sie so wollen auch eine Verpflichtung, die Zukunft zu gestalten. Europa ist fraglos einer der Wirtschaftsgiganten dieser Welt, was eine besondere Verantwortung für uns mit sich bringt. Ich möchte aber auch ausdrücklich sagen: Verglichen mit China, mit Russland oder mit den Vereinigten Staaten sind wir eine Gemeinschaft, die viel leistet und sich in höherem Maße kümmert. Das muss jetzt in eine neue Phase geführt werden.

Auch der Klimawandel rührt an den Grundfesten unseres Lebens und Wirtschaftens. Müssen die Antworten auf ein fundamentales Problem ebenso grundlegend ausfallen oder reichen kleinere Kurskorrekturen?

Ohne Frage ist das eine fundamentale Veränderung. Ich bekenne mich ausdrücklich zum Ziel der EU-Kommission, bis 2050 in Europa die CO2-neutrale Wirtschaft umzusetzen. Aber diesen Weg hin zur klimaneutralen Wirtschaft müssen wir in der Balance zwischen zwei Dingen beschreiten: einerseits der sozialen Verantwortung, da sich beispielsweise nicht so gut verdienende Menschen das Elektroauto eben nicht leisten können; und andererseits der Frage, ob unsere Industrie Schritt halten kann, damit keine Brüche entstehen oder massiv Arbeitsplätze verloren gehen. Dieses Dreieck – Ökologie, Soziales und Wirtschaft – muss funktionieren, um diesen Weg nachhaltig zu bewältigen, und dem fühle ich mich auch verpflichtet. Ich möchte aber ausdrücklich dazusagen, dass ich bei meinen Diskussionen besonders in Deutschland oder Österreich die Klimafrage als Topthema unter jungen Leuten erlebe. In Griechenland, Italien oder Spanien ist das nicht so stark der Fall. Auch das müssen wir lernen: Europäischer zu werden, europäisch zu denken und das Problem des anderen sehen. Verstehen Sie mich nicht falsch: Natürlich ist der Klimawandel ein europaweites Topthema, und es ist wirklich toll, junge Leute dafür europaweit demonstrieren zu sehen. Aber wir müssen die Wahrnehmung der Problemlagen überprüfen und einen gemeinsamen Weg in der Frage finden, worauf es ankommt. Gerade Europa muss dann die Kräfte bündeln, und uns wird dieser Weg gelingen.

Im geschichtlichen Zusammenhang können wir zufrieden sein mit dem, was gestaltet worden ist.

Ist es auch durch jugendlichen Überschwang zu erklären, dass immer mehr junge Menschen unseren Lebensstil und unsere Wirtschaftsweise einer grundsätzlichen Kritik unterziehen?

Es ist in jedem Fall ein Privileg junger Leute, quer zu denken, anzuecken und inhaltlich radikal zu sein. Ich kann nur sagen: Die letzten Fridays for Future-Demonstrationen haben absolut einen Eindruck hinterlassen. Wenn ich so darüber nachdenke, gibt es wahrscheinlich kaum eine Entwicklung der letzten Monate und Jahre, die der Politik mit gesellschaftlichem Engagement einen solchen Stempel aufgedrückt hat. Also insofern: Respekt. Jetzt müssen wir im Wahlkampf streiten, diskutieren und um die richtigen Antworten ringen.

Falls Sie Präsident der EU-Kommission werden: Wie würden Sie gerne eines Tages auf Ihre Amtszeit zurückblicken?

Zunächst muss man als aktiver Politiker immer das Ziel haben, das Leben und den Alltag der Menschen besser zu machen. Aber das eigentlich Wichtige wäre mir, dass die Menschen später sagen: Europa ist für mich in dieser Zeit besser und mehr zu meiner Heimat geworden; ich habe mich Europa verbunden gefühlt und es nicht als etwas Fremdes wahrgenommen, sondern wir haben als Europa gemeinsam viel erreicht und etwas gestaltet. Wenn es gelingt, dass Europa zur gefühlten Heimat wird, wäre das ein Traum für mich.

Abschließend: Können wir im Großen und Ganzen so weiterverfahren wie bisher?

Wenn Sie es in einem geschichtlichen Zusammenhang sehen, würde ich sagen: ja. Ich glaube, wir können zufrieden sein mit dem, was gestaltet worden ist. Wenn Sie es allerdings am Konkreten festmachen, sage ich: nein. Wenn Sie etwas erhalten wollen, müssen Sie Lust auf Neues haben, offen sein für Innovation und das neue Kapitel aufschlagen, das ich für Europa beginnen will. Denn wenn wir nur beharren und festhalten, werden wir Vieles von dem verlieren, was wir heute haben. Deswegen brauchen wir jetzt Lust auf eine neue Phase Europas.